Bundesfinanzhof Urteil, 16. Jan. 2018 - VI R 38/16
Gericht
Tenor
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Auf die Revision der Kläger werden das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 11. Oktober 2016 10 K 1715/16 E und der Einkommensteueränderungsbescheid 2013 des Beklagten vom 24. Februar 2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12. Mai 2016 aufgehoben.
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Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
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I.
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Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute und wurden für das Streitjahr (2013) zur Einkommensteuer zusammen veranlagt. Der Kläger bezog im Streitjahr Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit aus zwei unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen. Zum einen erhielt er von der in Nordrhein-Westfalen ansässigen Firma X GmbH einen Bruttoarbeitslohn in Höhe von ... € für den Zeitraum vom ... Februar bis zum ... März 2013, zum anderen bezog er von der in Niedersachsen ansässigen Firma Y GmbH einen Bruttoarbeitslohn in Höhe von ... € für den Zeitraum vom ... März bis zum ... Dezember 2013.
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In ihrer handschriftlich ausgefüllten Einkommensteuererklärung für das Streitjahr trugen die Kläger auf Seite 1 der den Ehemann betreffenden Anlage N den zutreffenden Bruttoarbeitslohn in Höhe von ... € ein. Auf Seite 2 erklärten sie u.a. Fahrten zu den beiden Arbeitgebern als Werbungskosten. Die Anlage N enthält keine Anhaltspunkte für eine Bearbeitung --wie z.B. Häkchen oder Durchstreichungen-- durch den Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--).
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Mit Bescheid vom 7. Oktober 2014 setzte das FA die Einkommensteuer für das Streitjahr auf 0 € fest. Dabei berücksichtigte es für den Kläger lediglich den bei der Firma X GmbH erzielten Bruttoarbeitslohn in Höhe von ... € nebst der einbehaltenen Lohnsteuer und den hierauf entfallenden Sozialversicherungsbeiträgen. Denn nur diese Beträge wurden vom elektronischen Steuersystem des Landes Nordrhein-Westfalen im Rahmen der streitigen Steuerfestsetzung automatisch beigestellt. Zudem wurde der Arbeitnehmer-Pauschbetrag von 1.000 € angesetzt. Der Bescheid wurde bestandskräftig.
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Mit Bescheid vom 24. Februar 2016 setzte das FA die Einkommensteuer 2013 unter Verweis auf § 129 der Abgabenordnung (AO) auf 2.404 € herauf. In Abweichung zum Ausgangsbescheid erfasste es für den Kläger nunmehr auch den bei der Y GmbH erzielten Bruttoarbeitslohn nebst einbehaltener Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeiträgen.
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Den Einspruch der Kläger wies das FA als unbegründet zurück.
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Der vom Kläger erzielte Arbeitslohn aus dem zweiten Arbeitsverhältnis sei versehentlich nicht in die Steuerfestsetzung eingegangen. Der Bearbeiter habe den elektronisch übermittelten Arbeitslohn aus dem ersten Arbeitsverhältnis mit einem Mausklick aus dem elektronischen Steuersystem des Landes Nordrhein-Westfalen ("Übersicht eDaten") übernommen. Die für das zweite Arbeitsverhältnis übermittelte elektronische Lohnsteuerbescheinigung sei nur in einem "Bundesspeicher" vorhanden gewesen und deshalb im Rahmen der Veranlagung zunächst nicht berücksichtigt worden.
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Die im Anschluss erhobene Klage wies das Finanzgericht (FG) aus den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2016, 1843 veröffentlichten Gründen ab. Es war im Wesentlichen der Ansicht, die Nichterfassung sämtlicher in der von der Y GmbH ausgestellten elektronischen Lohnsteuerbescheinigung ausgewiesenen Besteuerungsgrundlagen (Bruttoarbeitslohn, einbehaltene Lohnsteuer, Sozialversicherungsbeiträge) beruhe auf einer "ähnlichen offenbaren Unrichtigkeit" i.S. des § 129 AO.
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Mit der Revision rügen die Kläger die Verletzung materiellen Rechts.
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Sie beantragen,
das FG-Urteil und den Änderungsbescheid vom 24. Februar 2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12. Mai 2016 aufzuheben.
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Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II.
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Die Revision der Kläger ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass das FA befugt war, den bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid zu ändern.
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1. Nach § 129 Satz 1 AO kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen.
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a) Solche offenbare Unrichtigkeiten sind insbesondere mechanische Versehen, beispielsweise Eingabe- oder Übertragungsfehler. Dagegen zählen zu solchen offenbaren Unrichtigkeiten nicht Fehler bei der Auslegung oder Anwendung einer Rechtsnorm, eine unrichtige Tatsachenwürdigung oder die unzutreffende Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts. Dabei ist § 129 AO schon dann nicht anwendbar, wenn auch nur die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass die Nichtbeachtung einer feststehenden Tatsache auf einer fehlerhaften Tatsachenwürdigung oder einem sonstigen sachverhaltsbezogenen Denk- oder Überlegungsfehler gründet oder auf mangelnder Sachverhaltsaufklärung beruht (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsbeschluss vom 28. Mai 2015 VI R 63/13, BFH/NV 2015, 1078, m.w.N.). Diese Möglichkeit darf allerdings nicht nur theoretischer Natur sein. Vielmehr muss sie sich durch vom Gericht festgestellte Tatsachen belegen lassen. Deuten die Gesamtumstände des Falles auf ein mechanisches Versehen hin und liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Fehler auf rechtliche oder tatsächliche Erwägungen zurückzuführen ist, so kann berichtigt werden (Senatsurteil vom 13. Juni 2012 VI R 85/10, BFHE 238, 295, BStBl II 2013, 5).
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b) Entsprechend ist nicht jede versehentlich unberücksichtigte Tatsache mit einer unvollständigen Sachverhaltsermittlung gleichzusetzen. Eine der Berichtigung entgegenstehende unvollständige Sachverhaltsermittlung ist erst anzunehmen, wenn für die Besteuerung wesentliche Tatsachen nicht durch ein mechanisches Versehen unberücksichtigt geblieben sind. Ermittlungsfehler gehen über mechanische Versehen bei der Heranziehung des Sachverhalts zur Steuerfestsetzung hinaus, weil ein Teil des rechtserheblichen Sachverhalts wegen fehlerhaft unterlassener oder unrichtiger Tatsachenaufklärung noch nicht bekannt ist. Ist dagegen ohne weitere Prüfung erkennbar, dass ein Teil des bekannten Sachverhalts aus Unachtsamkeit bei der Steuerfestsetzung nicht erfasst worden ist, darf diese offenbare Unrichtigkeit zugunsten und zuungunsten des Steuerpflichtigen durch Berichtigung der versehentlich fehlerhaften Steuerfestsetzung korrigiert werden (Senatsurteil vom 26. April 1989 VI R 39/85, BFH/NV 1989, 619; Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 13. November 1997 V R 138/92, BFH/NV 1998, 419).
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c) Liegt eine offenbare Unrichtigkeit vor, ist die Berichtigungsmöglichkeit nach § 129 Satz 1 AO nicht von Verschuldensfragen abhängig, weshalb die oberflächliche Behandlung eines Steuerfalls grundsätzlich eine Berichtigung nach dieser Vorschrift nicht hindert (BFH-Urteile vom 28. November 1985 IV R 178/83, BFHE 145, 226, BStBl II 1986, 293; vom 10. September 1987 V R 69/84, BFHE 150, 509, BStBl II 1987, 834; vom 4. November 1992 XI R 40/91, BFH/NV 1993, 509; vom 11. Juli 2007 XI R 17/05, BFH/NV 2007, 1810; vom 21. Januar 2010 III R 22/08, BFH/NV 2010, 1410; vom 7. November 2013 IV R 13/11, BFH/NV 2014, 657, und Senatsbeschluss in BFH/NV 2015, 1078). Anders ist dies erst, wenn sich die Unachtsamkeit bei der Bearbeitung des Falls häuft und Zweifeln, die sich aufdrängen, nicht nachgegangen wird (BFH-Urteil in BFH/NV 1993, 509).
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2. Nach diesen Maßstäben hat das FG zu Unrecht eine Berichtigung des Einkommensteuerbescheids nach § 129 AO bejaht.
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Im Streitfall hat der Kläger den von ihm im Streitjahr bezogenen Arbeitslohn zutreffend gegenüber dem FA erklärt. Das FA hat diese Angaben auf Seite 1 der Anlage N jedoch nicht in den Blick genommen, sondern hat sich auf die Übernahme der im elektronischen Datenverarbeitungssystem des Landes Nordrhein-Westfalen vorhandenen Daten beschränkt. Es ist nicht auszuschließen, dass dies aus möglicherweise nachvollziehbaren verwaltungsökonomischen Gründen erfolgte, weil das FA allgemein darauf vertraute, dass die vom Arbeitgeber elektronisch übermittelten Daten --wie üblich-- zutreffend sind und vor Beginn der Bearbeitung der Steuererklärung vollständig vom Computersystem der Finanzbehörden übernommen werden.
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Die Feststellungen des FG tragen nicht dessen Würdigung, dem Bearbeiter sei "offensichtlich gar nicht bewusst ... [gewesen], dass der Kläger aus zwei Arbeitsverhältnissen Arbeitslohn bezogen hat". Denn dieser hat trotz Eintragungen von Fahrten zu zwei unterschiedlichen Arbeitgebern sowie weiteren Werbungskosten den höheren Arbeitnehmer-Pauschbetrag angesetzt. Dass der Bearbeiter im Streitfall ausnahmsweise einen ansonsten durchgeführten Abgleich der der Einkommensteuererklärung elektronisch "beigestellten" Daten mit den von den Klägern erklärten Daten nur versehentlich unterlassen hat, macht das FA selbst nicht geltend.
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Führt diese vom FA gewählte Vorgehensweise bei der Bearbeitung einer Einkommensteuererklärung zu einer unzutreffenden Erfassung des Arbeitslohns, stellt dieser Fehler keine einem Schreib- oder Rechenfehler gleichgestellte ähnliche offenbare Unrichtigkeit und damit kein mechanisches Versehen dar. Durch den bewusst unterlassenen Abgleich der der Steuererklärung elektronisch beigestellten Daten mit den vom Steuerpflichtigen erklärten Daten liegt insbesondere kein bloßes Übersehen erklärter Daten vor, das regelmäßig zu einer Berichtigungsmöglichkeit nach § 129 AO führt (z.B. Senatsurteile vom 29. März 1985 VI R 140/81, BFHE 144, 118, BStBl II 1985, 569, und in BFH/NV 1989, 619). Das FA hat vielmehr im Streitfall den zutreffenden Arbeitslohn nicht aufgeklärt, obwohl der von den Klägern erklärte Arbeitslohn nicht mit dem elektronisch beigestellten Arbeitslohn übereinstimmte. Insoweit liegt ein Ermittlungsfehler des FA vor, der eine spätere Berichtigung des infolgedessen aufgetretenen Fehlers ausschließt.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
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Die Finanzbehörde kann Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. Bei berechtigtem Interesse des Beteiligten ist zu berichtigen. Wird zu einem schriftlich ergangenen Verwaltungsakt die Berichtigung begehrt, ist die Finanzbehörde berechtigt, die Vorlage des Schriftstücks zu verlangen, das berichtigt werden soll.
(1) Ist die Revision unzulässig, so verwirft der Bundesfinanzhof sie durch Beschluss.
(2) Ist die Revision unbegründet, so weist der Bundesfinanzhof sie zurück.
(3) Ist die Revision begründet, so kann der Bundesfinanzhof
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in der Sache selbst entscheiden oder - 2.
das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen.
(4) Ergeben die Entscheidungsgründe zwar eine Verletzung des bestehenden Rechts, stellt sich die Entscheidung selbst aber aus anderen Gründen als richtig dar, so ist die Revision zurückzuweisen.
(5) Das Gericht, an das die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen ist, hat seiner Entscheidung die rechtliche Beurteilung des Bundesfinanzhofs zugrunde zu legen.
(6) Die Entscheidung über die Revision bedarf keiner Begründung, soweit der Bundesfinanzhof Rügen von Verfahrensmängeln nicht für durchgreifend erachtet. Das gilt nicht für Rügen nach § 119 und, wenn mit der Revision ausschließlich Verfahrensmängel geltend gemacht werden, für Rügen, auf denen die Zulassung der Revision beruht.
Die Finanzbehörde kann Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. Bei berechtigtem Interesse des Beteiligten ist zu berichtigen. Wird zu einem schriftlich ergangenen Verwaltungsakt die Berichtigung begehrt, ist die Finanzbehörde berechtigt, die Vorlage des Schriftstücks zu verlangen, das berichtigt werden soll.
(1) Der unterliegende Beteiligte trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, soweit er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Besteht der kostenpflichtige Teil aus mehreren Personen, so haften diese nach Kopfteilen. Bei erheblicher Verschiedenheit ihrer Beteiligung kann nach Ermessen des Gerichts die Beteiligung zum Maßstab genommen werden.