Bayerisches Landessozialgericht Beschluss, 10. Apr. 2014 - L 15 BL 1/14 ER
Gericht
Principles
Gründe
Die Beteiligten streiten wegen der Gewährung von Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz.
Das Sozialgericht München hat den Antragsteller nach Einholung eines neuropädiatrischen Gutachtens von Dr. L. mit Urteil vom 21.01.2014 verpflichtet, dem Antragsgegner ab 01.04.2008 Blindengeld zu gewähren. Dagegen hat der Antragsteller am 21.02.2014 Berufung eingelegt (Az.: L 15 BL 2/14). Zugleich hat er beantragt, die Vollstreckung aus dem Urteil des Sozialgerichts durch einstweilige Anordnung auszusetzen. Der Antragsteller hält das Urteil des Sozialgerichts für unzutreffend, weil weder eine nachgewiesene noch eine faktische Blindheit angenommen werden könnte. Der Sachverständige habe es nur für möglich gehalten, dass eine mit Blindheit vergleichbare Funktionsstörung vorliege. Beim Antragsgegner liege eine schwere Mehrfachbehinderung vor. Allein der Umstand, dass „Unterschiede“ bei den unterschiedlichen Sinnesmodalitäten gegeben seien, reiche ohne eine Aussage zum Ausmaß und der klinischen Relevanz der Unterschiede nicht für die Feststellung von faktischer Blindheit aus.
Eine Aussetzung der Vollstreckung durch einstweilige Anordnung gemäß § 199 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erscheint angezeigt.
Im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung fällt wesentlich zu Ungunsten des Antragsgegners ins Gewicht, dass bislang die Frage, ob bei ihm die Sinnesmodalität „Sehen“ deutlich mehr beeinträchtigt ist als andere Sinnesmodalitäten, überhaupt nicht in einer den Anforderungen des Senats gerecht werdenden Weise aufgeklärt ist; vielmehr tragen die bisherigen Feststellungen das für den Antragsgegner positive Urteil aus Sicht des Senats nicht.
Eine vergleichende Bewertung der Sinneswahrnehmungen erfordert nach der Auffassung des Senats, anders als dies das Sozialgericht gesehen hat, Verfahren zur Objektivierung der Untersuchung und Beurteilung. Das geeignete Mittel dazu sind die Griffith-Entwicklungsskalen (GES), die als allgemein anerkannte Grundlage für die Prüfung der einzelnen Sinneswahrnehmungen als Standard bei neuropädiatrischen Untersuchungen gelten und eine einheitliche und sachgerechte Beurteilungsgrundlage darstellen. Der Sachverständige Dr. L. hat sich aber bei seiner Beurteilung des Entwicklungsstands des Antragsgegners nicht auf die GES gestützt. Er hat auch keine zeitliche Einordnung des jeweiligen Entwicklungsstands vorgenommen und zudem nicht einmal eine eindeutige Aussage zur spezifischen Sehstörung getroffen. So hat er die Frage, ob die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten betroffen sei, im Gutachten vom 19.12.2011 letztlich offen gelassen, wenn er dort nur auf die Unschärfe des Terminus hingewiesen und die Beurteilung im konkreten Fall als „Ermessenssache“ bezeichnet hat, ohne eine weitergehende Festlegung zu treffen. Damit ist nicht einmal nach den Ausführungen des Sachverständigen, zumal diese nicht auf eine objektivierbare Untersuchung und Beurteilung, sondern im Wesentlichen auf die Angaben der Mutter - so der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung vom 21.01.2014 - gestützt worden sind, von einer spezifischen Sehstörung auszugehen. Weitergehende Ermittlungen hat das Sozialgericht nicht vorgenommen, sondern sich bei seiner Annahme einer deutlich stärkeren Betroffenheit der visuellen Wahrnehmung gegenüber den anderen Sinnesmodalitäten auf eine „Würdigung des gesamten Streitstoffs“ gestützt, wobei diese Würdigung entscheidend auf den Angaben der Mutter aufbaut. Dem kann der Senat nicht folgen. Die Tatsachenfeststellungen im erstinstanzlichen Verfahren tragen daher das Urteil des Sozialgerichts nach der Rechtsauffassung des Senats nicht.
Nach der Auffassung des Senats ist daher auf der Basis der bislang vorliegenden Erkenntnisse der Ausgang des Berufungsverfahrens völlig offen; die Frage der spezifischen Sehstörung bedarf weiterer Aufklärung. Die tatsächlichen Feststellungen des Sachverständigen sowie die Erfahrungen des Senats in vergleichbaren Fällen lassen einen Erfolg des Antragstellers im Berufungsverfahren sogar eher wahrscheinlicher als einen Misserfolg erscheinen. Deshalb und wegen des vom Antragsteller vorgetragenen Gesichtspunkts der erschwerten Rückforderbarkeit der Leistungen erscheint es nach einer Gesamtabwägung angemessen, die Vollziehung des erstinstanzlichen Urteils in Gänze auszusetzen. Es würde dem Senat nicht adäquat erscheinen, wenn der Antragsteller die Leistungen bereits jetzt auszahlen müsste.
Berücksichtigt worden ist dabei auch, dass die gesetzliche Wertung des § 154 Abs. 2 SGG es nahelegt, eine Aussetzung nur in Ausnahmefällen zuzulassen (vgl. Bundessozialgericht - BSG -, Beschluss vom 08.12.2009, Az.: B 8 SO 17/09 R; a. A. Zeihe, Zum Ermessen des Vorsitzenden nach § 199 Abs. 2 SGG, SGb 1994, S. 505). Dies kann damit begründet werden, dass vom Gesetzgeber im Regelfall eben gerade keine aufschiebende Wirkung gewünscht ist. Dabei liegt es nahe, dass es der Gesetzgeber bewusst in Kauf genommen hat, dass in mehr oder weniger Einzelfällen eine Rückforderung nach endgültigem Abschluss des Verfahrens erfahrungsgemäß erhebliche Schwierigkeiten bereiten kann. Daraus aber zu folgern, dass nur dann, wenn das Rechtsmittel offensichtlich Aussicht auf Erfolg hat, die Aussetzung anzuordnen sei, geht in dieser Pauschalität, zumindest wenn nicht existenzsichernde Maßnahmen betroffen sind, wie es in dem der Entscheidung des BSG vom 08.12.2009 zugrunde liegenden Sachverhalt der Fall war, dem Senat zu weit. Jedenfalls dann, wenn - wie hier - eine Einschätzung, ob das Rechtsmittel „offenkundig“ erfolgversprechend ist, aus dem Grund nicht möglich ist, weil die Tatsachenfeststellungen im erstinstanzlichen Verfahren nach der Rechtsansicht des Berufungsgerichts nicht ausreichen, kann die Entscheidung über die Aussetzung der Vollstreckung nicht automatisch negativ für den Antragsteller ausfallen. Denn es wäre für den Senat auch unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten nicht nachvollziehbar, warum ein Kläger nur deshalb besser gestellt werden sollte, weil das erstinstanzliche Gericht die aus Sicht des Berufungsgerichts unzureichende Aufklärung zu seinen Gunsten, nicht aber zu seinem Nachteil berücksichtigt hat. Der Senat geht daher dann, wenn die völlige Offenheit des Verfahrensausgangs auf einer nicht ausreichenden Sachaufklärung beruht, von einem Ausnahmefall aus, in dem die Aussetzung der Vollstreckung nach Abwägung aller Gesichtspunkte angeordnet werden kann.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar; die Anordnung kann jederzeit aufgehoben werden (§ 199 Abs. 2 Satz 3 SGG).
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Annotations
(1) Die Berufung und die Beschwerde nach § 144 Abs. 1 haben aufschiebende Wirkung, soweit die Klage nach § 86a Aufschub bewirkt.
(2) Die Berufung und die Beschwerde nach § 144 Abs. 1 eines Versicherungsträgers oder in der Kriegsopferversorgung eines Landes bewirken Aufschub, soweit es sich um Beträge handelt, die für die Zeit vor Erlaß des angefochtenen Urteils nachgezahlt werden sollen.
(1) Vollstreckt wird
- 1.
aus gerichtlichen Entscheidungen, soweit nach den Vorschriften dieses Gesetzes kein Aufschub eintritt, - 2.
aus einstweiligen Anordnungen, - 3.
aus Anerkenntnissen und gerichtlichen Vergleichen, - 4.
aus Kostenfestsetzungsbeschlüssen, - 5.
aus Vollstreckungsbescheiden.
(2) Hat ein Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung, so kann der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen. Er kann die Aussetzung und Vollstreckung von einer Sicherheitsleistung abhängig machen; die §§ 108, 109, 113 der Zivilprozeßordnung gelten entsprechend. Die Anordnung ist unanfechtbar; sie kann jederzeit aufgehoben werden.
(3) Absatz 2 Satz 1 gilt entsprechend, wenn ein Urteil nach § 131 Abs. 4 bestimmt hat, daß eine Wahl oder eine Ergänzung der Selbstverwaltungsorgane zu wiederholen ist. Die einstweilige Anordnung ergeht dahin, daß die Wiederholungswahl oder die Ergänzung der Selbstverwaltungsorgane für die Dauer des Rechtsmittelverfahrens unterbleibt.
(4) Für die Vollstreckung können den Beteiligten auf ihren Antrag Ausfertigungen des Urteils ohne Tatbestand und ohne Entscheidungsgründe erteilt werden, deren Zustellung in den Wirkungen der Zustellung eines vollständigen Urteils gleichsteht.