Anfechtung wegen inkongruenter Deckung, § 131 InsO

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Anfechtung wegen inkongruenter Deckung, § 131 InsO

originally published: 25/06/2021 16:47, updated: 25/06/2021 16:47

- 3.2.2. Anfechtung wegen inkongruenter Deckung, § 131 InsO

originally published: 05/11/2010 14:43, updated: 05/11/2010 14:43
Author’s summary
Anwalt für Insolvenzrecht - Insolvenzanfechtungsrecht - BSP Anwälte in Berlin Mitte



Die Anfechtung nach § 131 InsO ist der zweite Fall der sogenannten Deckungsanfechtung. Er greift, wenn der Insolvenzgläubiger etwas erhält, was er nicht oder nicht derart oder nicht zu dieser Zeit hätte verlangen können.


3.2.2.1. Anwendbarkeit

§ 131 InsO hat als besonderer Insolvenzanfechtungsgrund Vorrang gegenüber den allgemeinen Insolvenzanfechtungsgründen. Innerhalb der besonderen Insolvenzanfechtungsgründe geht § 131 InsO dem Anfechtungsgrund des § 132 InsO vor. Eine Anfechtung nach § 131 InsO schließt die Anfechtung nach § 130 InsO aus. Werden inkongruente Rechtshandlungen außerhalb der Anfechtungsfrist vorgenommen, kommt die Vorsatzanfechtung gem. § 133 InsO in Betracht.


3.2.2.2. Voraussetzungen

 

§ 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO

§ 131 Abs. 1 Nr. 2 InsO

§ 131 Abs. 1 Nr. 3 InsO

1)

dem Insolvenzgläubiger

2)

gewährt oder ermöglicht Rechtshandlung Sicherung oder Befriedigung

3)

inkongruente Rechtshandlung

= Rechtshandlung, die der Insolvenzgläubiger

* nicht

- z.B. Erfüllung einer Naturalobligation; Erfüllung einer verjährten, nichtigen, noch nicht wirksam bestehenden Forderung; bei heilender Erfüllung eines formnichtigen Vertrages (z.B. §§ 311b Abs. 1S. 2, 766 BGB); Verpflichtungsgeschäfte, die ihrerseits nach §§ 129 ff. InsO angefochten werden; Sicherung, wenn zu Beginn des jeweiligen Anfechtungszeitraums kein Anspruch auf sie bestand oder wenn sie vor der Krise nicht hinreichend bestimmt war

oder

* nicht in der Art

- z.B. Leistung erfüllungshalber oder an Erfüllungs Statt; Austausch des vertraglich geschuldeten Sicherungsgegenstandes; darunter fällt wegen Verkehrsüblichkeit nicht die Scheckzahlung anstelle von Barzahlung

oder

* nicht zu der Zeit

- z.B. erfüllte Forderung ist noch nicht fällig, betagt oder befristet

- maßgeblich: Vollfälligkeit (nicht: Erfüllbarkeit gem. § 271 Abs. 2 BGB)

zu beanspruchen hatte

4)

Vornahme der Handlung

* im letzten Monat vor dem Eröffnungsantrag des Insolvenzverfahrens

oder

* nach dem Insolvenzeröffnungsantrag

Vornahme der Handlung

* im zweiten

oder

* dritten Monat

vor dem Eröffnungsantrag des Insolvenzverfahrens

5)

mindestens mittelbare Gläubigerbenachteiligung

6)

 

(objektive) Zahlungsunfähigkeit des Schuldners i.S.v. § 17 InsO bei Vornahme der Handlung

* Gläubiger war (subjektiv) bekannt, dass die Handlung die Insolvenzgläubiger benachteiligte oder

* Gläubiger kannte Umstände, die zwingend auf die Benachteiligung schließen lassen mussten, § 131 Abs. 2 S. 1 InsO oder

* gegenüber einer Person, die dem Schuldner zur Zeit der Handlung nahestand (§ 138 InsO), wird vermutet, dass sie die Benachteiligung der Insolvenzgläubiger kannte, § 131 Abs. 2 S. 2 InsO



3.2.2.3. Problemfeld: Einzelzwangsvollstreckung innerhalb der Krise


BGH, 26.06.2008, IX ZR 87/07:
Während der "kritischen" Zeit [ist] im Wege der Zwangsvollstreckung erlangte Sicherung oder Befriedigung als inkongruent anzusehen (BGH, Urteil vom 09.09.1997, IX ZR 14/97 [...]). Das die Einzelzwangsvollstreckung beherrschende Prioritätsprinzip wird durch das System der insolvenzrechtlichen Anfechtungsregeln eingeschränkt, wenn für die Gesamtheit der Gläubiger nicht mehr die Aussicht besteht, aus dem Vermögen des Schuldners volle Deckung zu erhalten. Dann tritt die Befugnis des Gläubigers, sich mit Hilfe hoheitlicher Zwangsmittel eine rechtsbeständige Sicherung oder Befriedigung der eigenen fälligen Forderungen zu verschaffen, hinter dem Schutz der Gläubigergesamtheit zurück. Diese schon im früheren Recht angelegte Ordnung ist durch § 131 InsO zeitlich deutlich nach vorn verlagert worden. Die Vorschrift verdrängt in den letzten drei Monaten vor dem Eröffnungsantrag und in der Zeit nach dem Eröffnungsantrag bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens den Prioritätsgrundsatz zugunsten der Gleichbehandlung der Gläubiger [...]. Daher begründet ein nicht früher als drei Monate vor dem Eröffnungsantrag wirksam gewordenes Pfandrecht in der Insolvenz kein anfechtungsfestes Absonderungsrecht nach § 50 Abs. 1 InsO, wenn der Schuldner zur Zeit der Rechtshandlung zahlungsunfähig war (§ 131 Abs. 1 Nr. 1 und 2 InsO). Sofern das Pfandrecht dagegen vorher entstanden und auch aus sonstigen Gründen nicht anfechtbar ist, kann die anschließende Befriedigung durch Zahlung nicht mehr angefochten werden, weil sie die Gläubiger nicht benachteiligt.


3.2.2.4. Problemfeld: Druckzahlung

Von einer Druckzahlung spricht man, wenn der spätere Insolvenzschuldner "freiwillig" nach der Drohung mit Zwangsmitteln zahlt. Ein solcher Fall liegt beispielsweise vor, wenn der Gläubiger zum Ausdruck gebracht hat, dass er alsbald die Mittel der Vollstreckung einsetzen werde, sofern der Schuldner die Forderung nicht erfüllt und wenn der Schuldner zur Zeit seiner Leistung damit rechnen muss, dass der Gläubiger ohne sie mit der ohne weiteres zulässigen Zwangsvollstreckung beginnen werde. Hierbei muss differenziert werden, ob die Zahlung innerhalb oder außerhalb der Krise erfolgt.

BGH, 15.05.2003, IX ZR 194/02:
Die Leistung zur Abwendung der Zwangsvollstreckung [innerhalb der Krise] ist eine inkongruente Deckung, wenn der Schuldner zurzeit seiner Leistung damit rechnen muss, dass ohne sie der Gläubiger nach dem kurz bevorstehenden Ablauf einer letzten Zahlungsfrist mit der ohne weiteres zulässigen Zwangsvollstreckung beginnt. Ob der Schuldner auf Grund eines unmittelbaren Vollstreckungsdrucks geleistet hat, beurteilt sich aus der objektivierten Sicht des Schuldners.

BGH, 27.05.2003, IX ZR 169/02:
Gewährt der Schuldner dem Gläubiger auf eine fällige Forderung eine Leistung früher als drei Monate vor dem Eröffnungsantrag, so stellt sie sich nicht bereits deshalb als inkongruente Deckung dar, weil sie zur Vermeidung einer unmittelbar bevorstehenden Zwangsvollstreckung erfolgt. Vielmehr kann es sich auch um eine kongruente Deckung handeln. Unabhängig von der Einordnung als inkongruente oder kongruente Deckung ist die Anfechtung nicht ausgeschlossen. In Betracht kommt die Anfechtung nach § 133 Abs. 1 InsO.

BGH, 18.12.2003, IX ZR 199/02:
Die Leistung zur Abwendung eines angekündigten Insolvenzantrags, den der Gläubiger zur Durchsetzung seiner Forderung angedroht hat, ist ebenfalls inkongruent - unabhängig davon, ob der Insolvenzschuldner innerhalb oder außerhalb der Krise leistet. Der für eine Inkongruenz erforderliche zeitliche Zusammenhang zwischen Drohung mit dem Insolvenzantrag und der Leistung des Schuldners endet abhängig von den Umständen des Einzelfalls nicht mit dem Ablauf der vom Gläubiger mit der Androhung gesetzten Zahlungsfrist. Hält der Gläubiger an der Drohung mit dem Insolvenzantrag fest und verlangt fortlaufend Zahlung vom Schuldner, kann der Leistungsdruck über mehrere Monate bestehen.


3.2.2.5. Problemfeld: Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen

Der BGH nimmt eine inkongruente Deckung an, wenn Beitragsüberweisungen unter dem Druck einer Kontenpfändung oder sonstiger Druckmittel erfolgt sind; Sozialversicherungsträger werden insofern bei der insolvenzrechtlichen Anfechtung nicht privilegiert.

BGH, 08.12.2005, IX ZR 182/01:
Die Sozialversicherungsbeiträge sind hinsichtlich der Arbeitnehmeranteile kein zugunsten der Sozialversicherungsträger aussonderungsfähiges Treugut. Sie werden in vollem Umfang aus dem Vermögen des Arbeitgebers geleistet. Die Strafvorschrift des § 266a StGB schafft keine unmittelbare Berechtigung an den für den Arbeitnehmer zu entrichtenden Beiträgen [...], deren Abfluss mithin die Gläubiger benachteiligt [...]. Es kommt in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob umgekehrt die Erfüllung anderer Verbindlichkeiten die Nichtabführung von Arbeitnehmerbeiträgen in der Krise rechtfertigt (verneinend BGHSt 47, 318, 321 [...]). Denn dem anfechtungsrechtlichen Prinzip der Gläubigergleichbehandlung liefe auch die bevorzugte Befriedigung anderer Gläubiger in der Krise zum Nachteil der Beitragseinzugstellen zuwider.
Für einen besonderen Schutz der Sozialversicherungsträger gegen Insolvenzanfechtungen gibt auch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. BAG, Beschl. v. 7. März 2001 - GS 1/00[...]) nichts her, dass Zahlungen des Arbeitgebers, die auf den Arbeitnehmerbeitrag zur Sozialversicherung entfallen, wirtschaftlich als Leistungen aus dem Vermögen des Arbeitnehmers anzusehen seien. Zwar mag es sein, dass Beiträge nach § 28e Abs. 4 SGB IV direkt vom Arbeitgeber abzuführen sind, weil dies die Versicherungsträger schützt. Auch kann die Vorschrift des § 28e Abs. 1 S. 1 SGB IV, wonach der Arbeitgeber alleiniger Schuldner der Krankenkasse ist, lediglich dem Schutz des Arbeitnehmers vor Inanspruchnahme dienen, wenn der Arbeitgeber pflichtwidrig die Beiträge nicht abgeführt hat. Dies ändert aber nichts daran, dass insolvenzrechtlich der Arbeitgeber die gesamten Sozialversicherungsbeiträge ebenso wie den Lohn selbst grundsätzlich aus seinem eigenen Vermögen bezahlt. Dafür sorgt gerade der doppelte Sicherungsmechanismus des § 28e Abs. 1 S. 1, Abs. 4 SGB IV. [...]
[Die Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen stellt kein Bargeschäft nach § 142 InsO dar, das] eine objektive Gläubigerbenachteiligung ausschließen könnte [...]. Dass der Einsatz der Arbeitnehmer unter Abführung der Versicherungsbeiträge dem Schuldner die Möglichkeit gibt, seine unter Umständen auch für die Gläubigergesamtheit vorteilhaften Geschäfte fortzuführen, reicht dafür ebenso wenig aus wie die Tatsache, dass die Beklagte den Arbeitnehmern der Schuldnerin Versicherungsschutz gewährt, der nicht mehr entzogen werden kann. Ein Bargeschäft liegt nur vor, wenn der Schuldner in engem zeitlichen Zusammenhang mit seiner Leistung aufgrund einer Vereinbarung mit dem Anfechtungsgegner eine gleichwertige Gegenleistung erhält [...]. Der Bundesfinanzhof hat sich dieser Ansicht im Zusammenhang mit der Abführung von Lohnsteuern innerhalb des Dreimonatszeitraums [...] bisher nicht angeschlossen [...] (vgl. BFH, Beschluss vom 11.08.2005, VII B 244/04). [...]
Im vorliegenden Fall hat die Schuldnerin weder eine Vereinbarung mit der Beklagten getroffen noch eine Gegenleistung von ihr erhalten. Die sozialversicherungsrechtliche Pflicht der Schuldnerin, die Beiträge an die Einzugsstelle zu entrichten (§ 28e Abs. 1 S. 1 SGB IV), ersetzt die notwendige Vereinbarung nicht. Außerdem ist keine dem Zugriff der übrigen Gläubiger offen stehende Gegenleistung der Beklagten in das Vermögen der Schuldnerin gelangt. Stellt man auf den gewährten Versicherungsschutz für die Arbeitnehmer ab, fehlt es an einer Bereicherung der Masse. Sieht man die Gegenleistung in der Arbeitsleistung der bei der Beklagten versicherten Arbeitnehmer, so rührt diese nicht von der Beklagten her [...].

Um die Sozialversicherungsträger nach gelungener Vollstreckung möglichst vor der Insolvenzanfechtung zu schützen, ist mit Wirkung zum 01.01.2008 der § 28e Abs. 1 S. 2 SGB IV eingeführt worden. Dieser legt fest, dass Sozialversicherungsbeiträge, die vom Beschäftigten zu tragen sind (aber vom Arbeitgeber abgeführt werden müssen), "als aus dem Vermögen des Beschäftigten erbracht" gelten.

BGH, Beschluss vom 27.03.2008, IX ZR 210/07:

Die Vorschrift des § 28e Abs. 1 S. 2 SGB IV in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches des Sozialgesetzbuchs und anderer Gesetze vom 19.12.2007 findet keine Anwendung auf Fälle, in denen das Insolvenzverfahren vor dem 01.01.2008 eröffnet worden ist.

Trotz der Regelung des § 28e Abs. 1 S. 2 SGB IV hält der BGH an seiner bisherigen Rechtsprechung fest.

BGH, Urteil vom 05.11.2009, IX ZR 233/08:
Die Zahlung der Arbeitnehmeranteile zu den Gesamtsozialversicherungsbeiträgen kann als Rechtshandlung des Arbeitgebers im Insolvenzverfahren über dessen Vermögen als mittelbare Zuwendung an die Einzugsstellen angefochten werden.

Diese Entscheidung ist z.T. stark kritisiert worden (vgl. z.B. Kasseler Kommentar - Sozialversicherungsrecht, 65. EL, Bd. I, § 28e SGB IV, Rn. 17d): Der BGH habe damit erkennbar die ihm nach dem Grundgesetz zustehenden Kompetenzen und somit die Grenzen der Gerichtsbarkeit überschritten, indem er an die Stelle einer gesetzlichen Vorschrift inhaltlich eine andere Regelung gesetzt habe (BVerfGE 78, 20 (24)); eine restriktive Auslegung sei unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung unzulässig, wenn ein eindeutiger Wille des Gesetzgebers vorliege (BVerfGE 9, (89, 102, 104f.)); zugleich missachte der BGH das Demokratieprinzip und verstoße gegen den im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Vorrang des Gesetzes (BVerfGE 8, 155 (169)).

Das LG Köln ist dieser Entscheidung des BGH mit Urteil vom 09.12.2009 -13 S 230/09 - mit treffender Begründung - insbesondere im Hinblick auf dessen verfassungswidriges Handeln - entgegengetreten. Ungeachtet dessen hat der BGH mit Urteil vom 30.09.2010 - IX ZR 237/09 - das Urteil des LG Köln aufgehoben.


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