Zwischen Schätzung und Genauigkeit: Strafverfahren bei § 266a StGB im Fokus
Anforderungen an die gerichtlichen Feststellungen
1. Maßstab der Feststellungen
Nach § 267 Abs. 1 Satz 1 StPO müssen die Urteilsgründe alle Tatsachen enthalten, die den Tatbestand ausfüllen. Insbesondere in Fällen von Schwarzarbeit oder Scheinselbständigkeit müssen folgende Punkte ermittelt und im Urteil dargestellt werden:
- Anzahl der betroffenen Arbeitnehmer,
- Bruttolöhne und die hierzu gehörigen Beitragssätze,
- Beitragshöhen sowie
- Fälligkeitszeitpunkte.
Die Rechtsprechung lässt dabei Hochrechnungen der Nettolöhne zu Bruttolöhnen zu, etwa auf Basis der Steuerklasse VI (§ 39c Abs. 1 Satz 1 EStG), sofern keine genaueren Informationen vorliegen. Diese Methodik wird vor allem bei Schwarzarbeit und Scheinselbständigkeit angewandt, um die Beitragshöhe zu ermitteln.
2. Schätzungen bei unklaren Sachverhalten
Wo eine exakte Berechnung mangels ausreichender Beweismittel oder unverhältnismäßigem Ermittlungsaufwand nicht möglich ist, gestattet die Rechtsprechung eine Schätzung des Schadenumfangs. Dabei können die Schätzungen auf:
- internen Betriebsvergleichen,
- branchenüblichen Lohnniveaus oder
- der sogenannten Zwei-Drittel-Regel basieren, die insbesondere im Baugewerbe eine gängige Methode zur Ermittlung von Nettolöhnen darstellt.
Die Schätzmethode muss jedoch detailliert begründet werden, und das Gericht hat darzulegen, warum eine genaue Ermittlung nicht möglich ist. Ein Sicherheitsabschlag wird in der Regel angewandt, um dem Zweifelssatz Rechnung zu tragen.
Problemkreis: Die Akzeptanz von Schätzungen stößt auf Kritik, da sie nicht immer die gleiche Genauigkeit und Transparenz wie eine exakte Berechnung gewährleisten. Der Bundesgerichtshof hat jedoch in den Entscheidungen 5 StR 211/20 und 2 StR 460/20 deutlich gemacht, dass Schätzungen eine legitime Methode sein können, solange das Tatgericht sorgfältig die Grundlagen der Schätzung und die Höhe des Sicherheitsabschlags darlegt.
Anforderungen an die Anklageschrift
1. Zweck und Funktion
Die Anklageschrift gemäß § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO legt den Verfahrensgegenstand fest (Umgrenzungsfunktion) und informiert den Angeklagten über die Tatvorwürfe (Informationsfunktion). Sie muss daher den Zeitraum, die Anzahl der betroffenen Arbeitnehmer, die geschädigten Einzugsstellen und die vorenthaltenen Beiträge so konkret wie möglich darstellen. Eine detaillierte Schadensberechnung ist jedoch nicht zwingend erforderlich.
2. Konkretisierungsgrad
Die Anforderungen an die Anklageschrift sind weniger streng als an das Urteil, da sie im Ermittlungsstadium verfasst wird, in dem die Tatsachen noch nicht abschließend geklärt sind. Der Bundesgerichtshof gestattet in der Anklageschrift sogar die Angabe geschätzter Werte, sofern diese plausibel begründet sind.
Problemkreis: Das Fehlen präziser Berechnungen in der Anklageschrift kann die Verteidigung erschweren. Die Rechtsprechung hat zwar wiederholt betont, dass dies die Umgrenzungsfunktion nicht beeinträchtigt, etwa wenn die Schätzung im Wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen dargestellt wird, doch wird diese Praxis von Teilen der Literatur kritisch gesehen. Es besteht die Gefahr, dass vermeidbare Unschärfen in das Verfahren getragen werden, die sich später auch im Urteil niederschlagen können.
Abweichende Meinungen und Urteile
1. Kritik an Schätzungen
Die Kritik an Schätzungen konzentriert sich auf deren potenziellen Missbrauch als „ultima ratio“. Die Entscheidungen BGH, 5 StR 211/20 und BGH, 2 StR 460/20 unterstreichen die Notwendigkeit, dass Schätzungen nicht als Standardlösung eingesetzt werden dürfen. Diese Urteile betonen, dass das Tatgericht stets prüfen muss, ob eine Schätzung tatsächlich unvermeidbar ist und ob alle Ermittlungsmaßnahmen ausgeschöpft wurden.
2. Anforderungen an die Anklage
Auch die Anforderungen an die Anklageschrift sind nicht unumstritten. Kritiker bemängeln, dass Schätzungen der Höhe vorenthaltener Beiträge in der Anklageschrift selbst dann erlaubt sind, wenn eine genaue Berechnung möglich wäre. Dies könne dazu führen, dass die Verteidigung unzureichend über den Vorwurf informiert ist und den Vorwurf nicht effektiv entkräften kann.
Fazit
Die Anforderungen an gerichtliche Feststellungen und Anklageschriften bei § 266a StGB stehen im Spannungsfeld zwischen Verfahrensökonomie und rechtsstaatlichen Garantien. Die Rechtsprechung hat sinnvolle Flexibilisierungen eingeführt, um der Komplexität von Verfahren wegen Vorenthaltens von Arbeitsentgelt gerecht zu werden. Dennoch bestehen nach wie vor Schwachstellen, insbesondere im Umgang mit Schätzungen.
Lerneffekte:
- Schätzungen als ultima ratio: Schätzungen sind legitim, aber sie müssen sorgfältig begründet und als letzter Ausweg betrachtet werden.
- Informationsfunktion der Anklageschrift: Die Anklageschrift sollte so konkret wie möglich sein, um dem Angeklagten eine effektive Verteidigung zu ermöglichen.
- Fortentwicklung der Rechtsprechung: Die Rechtsprechung sollte weiterhin nach Wegen suchen, um vermeidbare Unschärfen zu reduzieren und den Anforderungen an ein faires Verfahren gerecht zu werden.
Die zunehmende Komplexität von Wirtschaftsstraftaten erfordert eine ständige Anpassung der juristischen Standards, ohne dabei die Rechte der Beschuldigten zu vernachlässigen. Nur so kann das Vertrauen in die Strafjustiz langfristig erhalten bleiben.
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Annotations
(1) Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese Tatsachen angegeben werden. Auf Abbildungen, die sich bei den Akten befinden, kann hierbei wegen der Einzelheiten verwiesen werden.
(2) Waren in der Verhandlung vom Strafgesetz besonders vorgesehene Umstände behauptet worden, welche die Strafbarkeit ausschließen, vermindern oder erhöhen, so müssen die Urteilsgründe sich darüber aussprechen, ob diese Umstände für festgestellt oder für nicht festgestellt erachtet werden.
(3) Die Gründe des Strafurteils müssen ferner das zur Anwendung gebrachte Strafgesetz bezeichnen und die Umstände anführen, die für die Zumessung der Strafe bestimmend gewesen sind. Macht das Strafgesetz Milderungen von dem Vorliegen minder schwerer Fälle abhängig, so müssen die Urteilsgründe ergeben, weshalb diese Umstände angenommen oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen verneint werden; dies gilt entsprechend für die Verhängung einer Freiheitsstrafe in den Fällen des § 47 des Strafgesetzbuches. Die Urteilsgründe müssen auch ergeben, weshalb ein besonders schwerer Fall nicht angenommen wird, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen nach dem Strafgesetz in der Regel ein solcher Fall vorliegt; liegen diese Voraussetzungen nicht vor, wird aber gleichwohl ein besonders schwerer Fall angenommen, so gilt Satz 2 entsprechend. Die Urteilsgründe müssen ferner ergeben, weshalb die Strafe zur Bewährung ausgesetzt oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen nicht ausgesetzt worden ist; dies gilt entsprechend für die Verwarnung mit Strafvorbehalt und das Absehen von Strafe. Ist dem Urteil eine Verständigung (§ 257c) vorausgegangen, ist auch dies in den Urteilsgründen anzugeben.
(4) Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel oder wird innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt, so müssen die erwiesenen Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden, und das angewendete Strafgesetz angegeben werden; bei Urteilen, die nur auf Geldstrafe lauten oder neben einer Geldstrafe ein Fahrverbot oder die Entziehung der Fahrerlaubnis und damit zusammen die Einziehung des Führerscheins anordnen, oder bei Verwarnungen mit Strafvorbehalt kann hierbei auf den zugelassenen Anklagesatz, auf die Anklage gemäß § 418 Abs. 3 Satz 2 oder den Strafbefehl sowie den Strafbefehlsantrag verwiesen werden. Absatz 3 Satz 5 gilt entsprechend. Den weiteren Inhalt der Urteilsgründe bestimmt das Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nach seinem Ermessen. Die Urteilsgründe können innerhalb der in § 275 Abs. 1 Satz 2 vorgesehenen Frist ergänzt werden, wenn gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird.
(5) Wird der Angeklagte freigesprochen, so müssen die Urteilsgründe ergeben, ob der Angeklagte für nicht überführt oder ob und aus welchen Gründen die für erwiesen angenommene Tat für nicht strafbar erachtet worden ist. Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel oder wird innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt, so braucht nur angegeben zu werden, ob die dem Angeklagten zur Last gelegte Straftat aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht festgestellt worden ist. Absatz 4 Satz 4 ist anzuwenden.
(6) Die Urteilsgründe müssen auch ergeben, weshalb eine Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet, eine Entscheidung über die Sicherungsverwahrung vorbehalten oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen nicht angeordnet oder nicht vorbehalten worden ist. Ist die Fahrerlaubnis nicht entzogen oder eine Sperre nach § 69a Abs. 1 Satz 3 des Strafgesetzbuches nicht angeordnet worden, obwohl dies nach der Art der Straftat in Betracht kam, so müssen die Urteilsgründe stets ergeben, weshalb die Maßregel nicht angeordnet worden ist.
(1)1Solange der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zum Zweck des Abrufs der elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale (§ 39e Absatz 4 Satz 1) die ihm zugeteilte Identifikationsnummer sowie den Tag der Geburt schuldhaft nicht mitteilt oder das Bundeszentralamt für Steuern die Mitteilung elektronischer Lohnsteuerabzugsmerkmale ablehnt, hat der Arbeitgeber die Lohnsteuer nach Steuerklasse VI zu ermitteln.2Kann der Arbeitgeber die elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale wegen technischer Störungen nicht abrufen oder hat der Arbeitnehmer die fehlende Mitteilung der ihm zuzuteilenden Identifikationsnummer nicht zu vertreten, hat der Arbeitgeber für die Lohnsteuerberechnung die voraussichtlichen Lohnsteuerabzugsmerkmale im Sinne des § 38b längstens für die Dauer von drei Kalendermonaten zu Grunde zu legen.3Hat nach Ablauf der drei Kalendermonate der Arbeitnehmer die Identifikationsnummer sowie den Tag der Geburt nicht mitgeteilt, ist rückwirkend Satz 1 anzuwenden.4Sobald dem Arbeitgeber in den Fällen des Satzes 2 die elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale vorliegen, sind die Lohnsteuerermittlungen für die vorangegangenen Monate zu überprüfen und, falls erforderlich, zu ändern.5Die zu wenig oder zu viel einbehaltene Lohnsteuer ist jeweils bei der nächsten Lohnabrechnung auszugleichen.
(2)1Ist ein Antrag nach § 39 Absatz 3 Satz 1 oder § 39e Absatz 8 nicht gestellt, hat der Arbeitgeber die Lohnsteuer nach Steuerklasse VI zu ermitteln.2Legt der Arbeitnehmer binnen sechs Wochen nach Eintritt in das Dienstverhältnis oder nach Beginn des Kalenderjahres eine Bescheinigung für den Lohnsteuerabzug vor, ist Absatz 1 Satz 4 und 5 sinngemäß anzuwenden.
(3)1In den Fällen des § 38 Absatz 3a Satz 1 kann der Dritte die Lohnsteuer für einen sonstigen Bezug mit 20 Prozent unabhängig von den Lohnsteuerabzugsmerkmalen des Arbeitnehmers ermitteln, wenn der maßgebende Jahresarbeitslohn nach § 39b Absatz 3 zuzüglich des sonstigen Bezugs 10 000 Euro nicht übersteigt.2Bei der Feststellung des maßgebenden Jahresarbeitslohns sind nur die Lohnzahlungen des Dritten zu berücksichtigen.
(1) Die Anklageschrift hat den Angeschuldigten, die Tat, die ihm zur Last gelegt wird, Zeit und Ort ihrer Begehung, die gesetzlichen Merkmale der Straftat und die anzuwendenden Strafvorschriften zu bezeichnen (Anklagesatz). In ihr sind ferner die Beweismittel, das Gericht, vor dem die Hauptverhandlung stattfinden soll, und der Verteidiger anzugeben. Bei der Benennung von Zeugen ist nicht deren vollständige Anschrift, sondern nur deren Wohn- oder Aufenthaltsort anzugeben. In den Fällen des § 68 Absatz 1 Satz 3, Absatz 2 Satz 1 genügt die Angabe des Namens des Zeugen. Wird ein Zeuge benannt, dessen Identität ganz oder teilweise nicht offenbart werden soll, so ist dies anzugeben; für die Geheimhaltung des Wohn- oder Aufenthaltsortes des Zeugen gilt dies entsprechend.
(2) In der Anklageschrift wird auch das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen dargestellt. Davon kann abgesehen werden, wenn Anklage beim Strafrichter erhoben wird.
(1) Wer als Arbeitgeber der Einzugsstelle Beiträge des Arbeitnehmers zur Sozialversicherung einschließlich der Arbeitsförderung, unabhängig davon, ob Arbeitsentgelt gezahlt wird, vorenthält, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer als Arbeitgeber
- 1.
der für den Einzug der Beiträge zuständigen Stelle über sozialversicherungsrechtlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht oder - 2.
die für den Einzug der Beiträge zuständige Stelle pflichtwidrig über sozialversicherungsrechtlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt
(3) Wer als Arbeitgeber sonst Teile des Arbeitsentgelts, die er für den Arbeitnehmer an einen anderen zu zahlen hat, dem Arbeitnehmer einbehält, sie jedoch an den anderen nicht zahlt und es unterlässt, den Arbeitnehmer spätestens im Zeitpunkt der Fälligkeit oder unverzüglich danach über das Unterlassen der Zahlung an den anderen zu unterrichten, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Satz 1 gilt nicht für Teile des Arbeitsentgelts, die als Lohnsteuer einbehalten werden.
(4) In besonders schweren Fällen der Absätze 1 und 2 ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter
- 1.
aus grobem Eigennutz in großem Ausmaß Beiträge vorenthält, - 2.
unter Verwendung nachgemachter oder verfälschter Belege fortgesetzt Beiträge vorenthält, - 3.
fortgesetzt Beiträge vorenthält und sich zur Verschleierung der tatsächlichen Beschäftigungsverhältnisse unrichtige, nachgemachte oder verfälschte Belege von einem Dritten verschafft, der diese gewerbsmäßig anbietet, - 4.
als Mitglied einer Bande handelt, die sich zum fortgesetzten Vorenthalten von Beiträgen zusammengeschlossen hat und die zur Verschleierung der tatsächlichen Beschäftigungsverhältnisse unrichtige, nachgemachte oder verfälschte Belege vorhält, oder - 5.
die Mithilfe eines Amtsträgers ausnutzt, der seine Befugnisse oder seine Stellung missbraucht.
(5) Dem Arbeitgeber stehen der Auftraggeber eines Heimarbeiters, Hausgewerbetreibenden oder einer Person, die im Sinne des Heimarbeitsgesetzes diesen gleichgestellt ist, sowie der Zwischenmeister gleich.
(6) In den Fällen der Absätze 1 und 2 kann das Gericht von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen, wenn der Arbeitgeber spätestens im Zeitpunkt der Fälligkeit oder unverzüglich danach der Einzugsstelle schriftlich
Liegen die Voraussetzungen des Satzes 1 vor und werden die Beiträge dann nachträglich innerhalb der von der Einzugsstelle bestimmten angemessenen Frist entrichtet, wird der Täter insoweit nicht bestraft. In den Fällen des Absatzes 3 gelten die Sätze 1 und 2 entsprechend.