Verwaltungsgericht München Urteil, 23. Okt. 2017 - M 22 K 15.50906

published on 23/10/2017 00:00
Verwaltungsgericht München Urteil, 23. Okt. 2017 - M 22 K 15.50906
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Gericht

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Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Oktober 2015 wird aufgehoben.

II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der Kläger, ein senegalesischer Staatsangehöriger, stellte am … Juni 2015 einen Asylantrag. Nachdem eine Eurodac-Abfrage zwei Treffer (Katergorie 1 und 2) für Italien ergeben hatte, wandte sich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) mit Schreiben vom … Juli 2015 an die italienische Dublin Unit mit der Bitte um Wiederaufnahme des Klägers im Vollzug der Dublin III-Verordnung unter Hinweis auf den vom Kläger am … Dezember 2013 in Italien gestellten Asylantrag. Dieses Gesuch blieb unbeantwortet.

Mit Bescheid vom 29. Oktober 2015 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab,ordnete die Abschiebung des Klägers nach Italien an und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf „0 Monate“.

In den Bescheidsgründen wurde ausgeführt, da die italienische Dublin Unit auf das Wiederaufnahmegesuch nicht geantwortet habe, sei davon auszugehen, dass dieses akzeptiert werde. Der in Deutschland gestellte Asylantrag sei gemäß § 27a AsylG unzulässig, da Italien aufgrund des dort gestellten Antrags für die Behandlung des Asylbegehrens zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht auszuüben, seien nicht ersichtlich. Insbesondere bestünden in Italien keine systemischen Mängel des Asylverfahrens bzw. der Aufnahmebedingungen.

Wann der Kläger den Bescheid erhalten hat, lässt sich der Behördenakte nicht entnehmen. Am 5. November 2015 erfolgte unter einer früheren, nicht mehr aktuellen Adresse des Antragstellers ein Zustellversuch (Niederlegung bei der Post).

Am 12. November 2015 erhob der Kläger Anfechtungsklage. Er beantragt,

den Bescheid des Bundesamtes vom 29. Oktober 2015 aufzuheben.

Zur Begründung der Klage wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass das italienische Asylsystem an Mängeln leiden würde, die einer Abschiebung des Klägers nach dorthin entgegenstünden. Des Weiteren wurde zu Gefährdungen vorgetragen, denen sich der Kläger für den Fall einer Rückkehr in den Senegal ausgesetzt sähe.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.

Mit Beschluss vom 23. Februar 2016 ordnete das Gericht in dem weiter vom Kläger angestrengten Eilverfahren die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung an (M 22 S 15.50907).

Mit Beschluss vom 20. September 2016 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.

Gründe

Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig (ein Durchentscheiden kommt vorliegend nicht in Betracht, vgl. BVerwG, U.v. 27.10.2015 - 1 C 32.14 - juris) und hat auch in der Sache Erfolg, da der angefochtene Bescheid rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist Italien für die Prüfung des Antrags des Klägers auf internationalen Schutz nicht zuständig. Unbeschadet der Frage, ob die Zuständigkeit eines weiteren Dublin-Mitgliedsstaates hier im Raum gestanden hat, ist mittlerweile jedenfalls davon auszugehen, dass die Bundesrepublik Deutschland für die Prüfung des Asylantrags nach den Vorgaben der Dublin II-VO zuständig geworden ist und der Kläger daher eine sachliche Prüfung seines Asylbegehrens durch das Bundesamt verlangen kann. Wegen der danach gebotenen Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung können auch die daran anknüpfenden Folgeregelungen (Abschiebungsanordnung, Befristungsentscheidung) keinen Bestand haben. Der angefochtene Bescheid war also vollumfänglich aufzuheben.

2. Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage in Asylsachen ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG). Hinsichtlich der Ablehnung des Antrags als unzulässig ist daher vorliegend auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b AsylG in der seit dem 6. August 2016 gültigen Fassung (vgl. BGBl. I 2016, 1939, 1946) abzustellen. Nach dieser Bestimmung ist ein Asylantrag u.a. unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin II-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Die Anwendbarkeit der Dublin II-VO für die Frage der Zuständigkeit folgt hier aus dem Umstand, dass der Kläger seinen maßgeblichen Erstantrag in Italien noch unter Geltung dieser Verordnung gestellt hat (vgl. hierzu Art. 49 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-VO, wonach diese Verordnung bezüglich der Zuständigkeitsbestimmung erst für Anträge gilt, die ab dem 01.01.2014 gestellt wurden).

3. Auf der Grundlage der im Verwaltungsverfahren getroffenen Feststellungen wäre hier an sich von einer Zuständigkeit Italiens (nach Art. 10 Abs. 1 bzw. Art. 13 Dublin II-VO) auszugehen gewesen. Eine Überstellung des Klägers nach Italien stellt sich nach den Umständen des Falles aber aufgrund der sich aus Art. 4 EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK ergebenden Anforderungen als unzulässig dar.

3.1 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zur Dublin II-VO (U.v. 21.12.2011 - C-411/10 u.a., N.S. u.a. - NVwZ 2012, 417; vgl. dazu auch U.v. 10.12.2013 - C-394/12, … - NVwZ 2014, 208) hat das Vorliegen systemischer Schwachstellen des Asylsystems im an sich zuständigen Mitgliedsstaat, welche die beachtliche Gefahr einer Verletzung der Rechte aus Art. 4 EU-Grundrechtecharta begründen, zur Folge, dass in diesen Staat nicht abgeschoben werden darf und der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedsstaat die Prüfung fortzusetzen hat, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedsstaat als zuständig bestimmt werden kann (siehe hierzu nunmehr Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 3 Dublin III-VO).

Zum Begriff der systemischen Schwachstellen ist zu bemerken, dass es sich dabei um Defizite des Asyl- und Aufnahmeregimes handelt, die in diesem selbst angelegt sind und von denen alle Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von Asylbewerbern deshalb nicht zufällig und im Einzelfall, sondern vorhersehbar und regelhaft betroffen sind, oder aber um tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem - aus welchen Gründen auch immer - faktisch ganz oder in Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weitgehend unwirksam wird (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 - 10 B 6.14 - NVwZ 2014, 1039 und B.v. 6.6.2014 - 10 B 35.14 - NVwZ 2014, 1677).

Hinsichtlich einer etwaigen Pflicht zur Ermittlung des Vorliegens eines durch systemische Schwachstellen bedingten Überstellungsverbotes durch den die Zuständigkeit prüfenden Mitgliedstaat ist zu beachten, dass die Dublin-Verordnungen auf dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens beruhen. Auf dieser Grundlage gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Antragsteller in jedem einzelnen Mitgliedsstaat in Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechtecharta, der EMRK und der GFK steht (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10 - juris Rn. 80). Diese Vermutung ist allerdings widerleglich. Das Dublin-Zuständigkeitssystem ist nach dieser Rechtsprechung dann (teilweise) zu suspendieren, wenn einem Mitgliedstaat aufgrund der ihm vorliegenden Informationen nicht unbekannt sein kann, dass systemische Mängel oder Schwachstellen des Asylverfahrens bzw. der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller dort Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechtecharta ausgesetzt zu sein (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O. u.v. 14.11.2013 - C-4/11, Puid - NVwZ 2014,129).

Die Annahme einer drohenden Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EU-Grundrechtecharta muss dabei durch wesentliche Gründe gestützt werden. Das bedeutet, dass die festgestellten Tatsachen hinreichend verlässlich und aussagekräftig sein müssen, um die Schlussfolgerung zu rechtfertigen, dass es nicht nur vereinzelt, sondern immer wieder und regelhaft zu Grundrechtsverletzungen nach Art. 4 EU-Grundrechtecharta kommt. Das dabei zugrunde zu legende Beweismaß ist das der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nach herkömmlichen Verständnis (zu Kriterien für die Beurteilung der Frage, ob die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht, siehe insbesondere die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte - EGMR - zu Art. 3 EMRK, der mit Art. 4 EU-Grundrechtecharta übereinstimmt - z.B. U.v. 21.1.2011 - Nr. 30696/09, M.S.S./Belgien - NVwZ 2011, 413; U.v. 4.11.2014 - Nr. 29217/12, Tarakhel/Schweiz - NVwz 2015, 127 und E.v. 5.2.2015 - Nr. 51428/10, A.M.E./Niederlande -, juris).

3.2 Weiter ist darauf hinzuweisen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Rechtsprechung zur Prüfung der Zulässigkeit von Dublin-Überstellungen am Maßstab des (neben Art. 4 EU-Grundrechtecharta anwendbaren) Art. 3 EMRK zwar den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens anerkennt und auch den Begriff der systemischen Mängel rezipiert hat, allerdings davon ausgeht, dass für die Beurteilung nicht in der Art eines Ausschlusskriteriums allein darauf abgestellt werden darf, ob Gefährdungen durch relevante systemische Mängel bedingt sind oder nicht, sondern die Bedeutung der Einzelfallprüfung in den Vordergrund stellt. In Rn. 104 des Urteils in der Sache … (v. 4.11.2014 - Nr. 29217/12) wird dazu etwa ausgeführt, die Ursache der Gefahr habe keinerlei Auswirkungen auf das Schutzniveau, welches durch die Konvention garantiert werde oder auf die sich aus der Konvention ergebenden Pflichten des Staates, der die Abschiebung der Person anordnet. Diese (gemeint ist die Gefahrenursache) befreie diesen Staat also nicht davon, eine gründliche und individuelle Prüfung der Situation der betroffenen Person vorzunehmen und die Durchsetzung der Abschiebungsanordnung auszusetzen, falls die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung festgestellt werden sollte.

3.3 Bezüglich der aktuellen Situation in Italien geht das erkennende Gericht davon aus, dass die Gegebenheiten hinsichtlich der Aufnahmebedingungen und des Asylverfahrens den einschlägigen rechtlichen Anforderungen (siehe hierzu die Vorgaben der Aufnahme- und der Verfahrensrichtlinie, RL 2013/33 EU und RL 2013/32/EU, beide vom 26.06.2013) im Wesentlichen genügen, das Asylsystem also prinzipiell funktionsfähig ist, auch wenn es in verschiedenen Bereichen zum Teil nicht unbeträchtliche Defizite gibt, die unter Umständen als nicht das gesamte System erfassende systemische Mängel zu werten sein könnten (zur praktischen Umsetzung siehe insbesondere aida, Country Report: Italy, vom Dezember 2015 - i.F:. aida - und SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, vom August 2016 - i.F.: SFH; zur Bewertung des italienischen Asylsystems durch die SFH siehe insbes. S. 67 ff.; die deutsche Verwaltungsrechtsprechung verneint ganz überwiegend das Vorliegen systemischer Mängel hinsichtlich der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien, vgl. hierzu aus neuerer Zeit OVG NRW, U.v. 21.6.2016 - 13 A 1896/14.A - juris - m.w.N.).

3.3.1 Für Dublin-Rückkehrer, soweit diese in Italien bereits einen Asylantrag gestellt haben, über den noch nicht bestandskräftig entschieden wurde bzw. hinsichtlich dessen eine Fortführung des Verfahrens grundsätzlich in Betracht kommt - wovon beim Verfahren des Klägers auszugehen ist -, ist das Aufnahmeverfahren wie folgt geregelt:

Überstellungen erfolgen an den Flughäfen Rom und Mailand. Wenn für die Behandlung des Asylgesuchs des Betroffenen die Präfektur der Provinz des Flughafens zuständig ist (Varese bzw. Rom) kann das Verfahren vor Ort weitergeführt werden. Wenn eine andere Präfektur zuständig ist, muss der Antragsteller dorthin reisen (von einer mit der Betreuung der Rückkehrenden betrauten NGO kann dazu ein Zugticket organisiert werden, vgl. SFH, S. 26 und 28 f.).

Die zuständige Präfektur veranlasst dann auch die Unterbringung des Asylsuchenden. Problematisch ist die Unterbringungssituation allerdings für Personen, die bei ihrem vorherigen Aufenthalt in Italien die zugewiesene Unterkunft nicht in Anspruch genommen haben oder untergetaucht sind. In diesem Fall - es ist davon auszugehen, dass es sich beim Kläger so verhalten würde - entfällt das Recht auf Unterbringung. Unter Umständen kann aber die Aufnahme in eine Unterkunft auf Antrag hin erneut gestattet werden. Bis dahin hat die Person keinen Zugang zu einer Unterbringung. Wenn die Präfektur die Wiederaufnahme ablehnt, gibt es keine Unterbringungsalternativen, die vom Staat zur Verfügung gestellt werden (SFH S. 28 f.; aida S. 74 f.; AA, Stellungnahme an das OVG NRW v. 23.02.2016, Antwort zu Frage 2.1; zu den gemeinschaftsrechtlichen Rahmenbedingungen für den Entzug oder die Beschränkung der im Rahmen der Aufnahmebedingungen gewährten Vorteile siehe Art. 20 RL 2013/33/EU).

3.3.2 Zu den Rahmenbedingungen für das Aufnahmesystem und der praktischen Umsetzung der Vorgaben (zu Folgendem siehe insbes. SFH S. 12 ff.) ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Zahl der Asylgesuche seit 2013 stark angestiegen ist. 2015 wurden etwa ca. 84.000 Asylgesuche gestellt (bei ca. 184.000 Ankünften über das Mittelmehr). 2016 wurden bis Ende Juli bei ca. 94.000 Ankünften ca. 61.000 Asylgesuche formell eingereicht. Das Aufnahmesystem (bestehend aus den sog. CPSA, den Centri governanti die prima accoglienza, den SPRAR-Zentren sowie den temporären Strukturen der CAS) ist innerhalb von vier Jahren von ca. 5.000 auf über 100.000 Plätze gewachsen. Im Februar 2016 betrug die Aufnahmekapazität ca. 105.000 Plätze. Der größte Teil davon sind mit ca. 80.000 Plätzen sog. CAS (die u.a. von Gemeinden und Privatorganisationen betrieben werden; alle sechs Monate finden hierzu Ausschreibungen statt). Untergebracht sind in den Einrichtungen Asylsuchende, die dort bis zum Abschluss des Verfahrens bleiben können, sowie Schutzberechtigte für einen Zeitraum bis zu sechs Monate (vorgesehen hierfür sind eigentlich die SPRAR-Einrichtungen, die aber nicht über genügend freie Plätze verfügen).

Das System ist also darauf ausgerichtet, den aktuellen Bedarf an Aufnahmeplätzen kurzfristig und bedarfsgerecht zu befriedigen, was im Wesentlichen durch eine entsprechende Bewirtschaftung (zeitnahe Ausweitung bzw. auch Beschränkung) der CAS-Plätze erreicht werden soll.

Es liegt auf der Hand, dass ein solches System bei permanent hoher Auslastung anfällig für Störungen ist. In diesem Zusammenhang ist insbesondere der Umstand in den Blick zu nehmen, dass nach den vorliegenden Informationen in Italien tausende Asylsuchende, Schutzberechtigte und irregulär aufhältige Migranten in besetzten Häusern oder slumartigen Hüttensiedlungen zumeist unter nicht akzeptablen Bedingungen leben (in Rom sollen bis zu ca. 2.900 Menschen hiervon betroffen sein, SFH S. 44) oder obdachlos sind (SFH, S. 44 ff.). Belastbare Feststellungen, die eine einigermaßen konkrete Abschätzung dazu ermöglichen würden, wieviele Menschen sich tatsächlich mit solchen Verhältnissen konfrontiert sehen und wie hoch insoweit der Anteil an Asylsuchenden ist, die Anspruch auf Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung hätten, liegen zwar nicht vor. Es handelt sich aber offenkundig, auch soweit man nur die Gruppe der Asylbewerber in den Fokus nimmt, um kein zu vernachlässigendes Problem. Nach einer von Ärzte ohne Grenzen durchgeführten Erhebung in diversen über Italien verteilten „informellen Siedlungen“ sind ca. 6 Prozent der Bewohner Asylbewerber (SFH, Aufnahmebedingungen, S. 44). Nach den Angaben im Anhang des Berichts von Ärzte ohne Grenzen (Out of Sight, März 2016) mit einer Übersicht zu informellen Siedlungen, S. 31, beläuft sich die Zahl der dort lebenden Asylbewerber auf im Minimum 320 bzw. maximal auf 980. Die Aufenthaltsdauer in den Siedlungen bei Asylsuchenden, die auf einen Platz in einer Aufnahmeeinrichtung warten, soll zwischen eineinhalb und drei Monate betragen (S. 11). Weiter ist hier auf eine im Jahr 2015 durchgeführte Auswertung der Beratungsgespräche bei einer Anlaufstelle für Obdachlose im Mailand hinzuweisen, die ergeben hat, dass von den beratenen Personen 43 Prozent Asylbewerber waren (SFH 42 f.). Auch wenn es im Übrigen an konkreten Erkenntnissen dazu fehlt, aus welchen Gründen die in solchen Umständen lebenden Asylsuchenden nicht in Aufnahmeeinrichtungen untergebracht sind - weil ihnen ein Unterbringungsplatz (noch) nicht zur Verfügung gestellt wurde oder aber weil sie aus welchen Gründen auch immer das Angebot nicht annehmen wollten bzw. die zur Verfügung gestellte Unterkunft wieder verlassen haben - so liegt aber doch auf der Hand, dass die Betroffenen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil sicherlich einen Platz in einer Aufnahmeeinrichtung Anspruch nehmen wollten, aufgrund Platzmangels oder wegen sonstiger Umstände (Zurückweisung wegen früheren Verlassens der Unterkunft; Erschwernisse beim Zugang zum Asylverfahren) aber keine Aufnahme gefunden haben und es erscheint auch naheliegend anzunehmen, dass ein entsprechendes reelles Risiko gerade auch für Dublin-Rückkehrer besteht (wenn sie bereits im Verfahren waren u.a. wegen der Gefahr der Verweigerung einer neuerlichen Unterbringung; wenn sie noch keinen Antrag gestellt haben im Hinblick auf die Wartezeiten zum Stellen eines Asylantrags, vgl. SFH S. 18 ff.).

3.4 Das Gericht geht daher davon aus, dass bedingt durch die angeführten Umstände Dublin-Rückkehrer wie der Kläger, die in Italien bereits einen Asylantrag gestellt haben und dort auch untergebracht waren, jedenfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, über einen unter Umständen auch längeren Zeitraum keine neuerliche Unterkunft gestellt zu bekommen, damit weiter von den sonstigen daran anknüpfenden Leistungen ausgeschlossen wären und hierdurch ohne weiteres in eine Lage geraten können, die sich als Verstoß gegen Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-Grundrechtecharta darstellen würde. Angemerkt sei dazu, dass nach Art. 19 Abs. 5 Satz 2 RL 2013/33/EU auch bei einer Beschränkung oder einem Entzug von im Rahmen der Aufnahme zu gewährenden Leistungen dafür Sorge zu tragen ist, dass ein „würdiger Lebensstandard“ gewährleistet bleibt.

Ob die beschriebenen Gegebenheiten mit dem daraus folgenden Risiko, während des laufenden Verfahrens unter Umständen in Obdachlosigkeit und extreme soziale Not zu geraten, als (partieller) systemischer Mangel zu qualifizieren wären, wofür hier vieles spricht, kann im Ergebnis dahinstehen (bejahend VG München, U.v. 19.09.2016 - M 24 K 16.50482 - juris; die Mehrzahl der deutschen Verwaltungsgerichte verneint wie bereits erwähnt das Vorliegen systemischer Mängel hinsichtlich des italienischen Aufnahmesystems). Denn auch wenn man insoweit keinen systemischen Mangel konstatieren wollte (was nach der oben zitierten Rechtsprechung einer Berufung des Klägers auf Art. 4 EU-Grundrechtecharta entgegenstünde), wäre aber doch von einer beachtlich wahrscheinlichen Gefahrenlage, die unter Art. 3 EMRK fällt, auszugehen und hinsichtlich der Anwendung dieser Bestimmung kommt es wie oben unter 3.2 dargestellt - das erkennende Gericht folgt insoweit der Rechtsprechung des EGMR - gerade nicht auf die Gefahrenursache an.

Eine Abschiebung wäre folglich hier allenfalls dann in Betracht gekommen, wenn das Bundesamt im Vorfeld der Überstellung durch Abstimmung mit den italienischen Behörden Vorkehrungen dafür getroffen hätte, dass der Kläger für den Fall seiner Überstellung ohne nicht vertretbaren zeitlichen Verzug angemessen untergebracht wird (zum Instrument der individuellen verbindlichen Zusicherung zur Herbeiführung der Voraussetzungen für eine Überstellung siehe EGMR, U.v. 4.11.2014 - 29217/12 Tarakhel/Schweiz - NVwZ 2015, 127). Eine entsprechende Zusicherung hat das Bundesamt aber nicht eingeholt und soweit ersichtlich ist Italien auch nicht bereit, individuelle Zusicherungen abzugeben.

4. Kommt eine Abschiebung nach Italien aber nicht in Betracht, war die Beklagte, nachdem auch für die Zuständigkeit eines anderen Dublin-Staates nichts ersichtlich ist, gehalten, den Antrag des Klägers in eigener Zuständigkeit zu prüfen (Selbsteintritt nach (Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO bzw. Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO). Der angefochtene Bescheid kann daher keinen Bestand haben.

5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO:

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(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag au

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs. (2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungskl
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(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag au

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs. (2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungskl
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published on 19/09/2016 00:00

Tenor I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20. Juni 2016, Geschäftszeichen: 6422031-232, wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. III. Die Kosten des Verfahrens haben der Kläge
published on 21/06/2016 00:00

Tenor Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen vom 30. Juli 2014 geändert. Die Klage wird abgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, in beiden Inst
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(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.

(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.

(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.