I.
Der Antragsteller, seinen Angaben nach afghanischer Staatsangehöriger, wurde am … August 2016 von der Bundespolizei in … unter dem Namen R. S. aufgegriffen und am 25. August 2016 dem Jugendamt P. im Hinblick auf das angenommene bzw. angegebene Geburtsdatum 1. Januar 2000 übergeben. Das Jugendamt der Stadt P. stellte nach einer vorläufigen Alterseinschätzung aufgrund ausgeprägter Stirnfalten, postpubertären Körperbaus, gereiften Gesamteindrucks, erwachsener Stimmlage und eines ausgeprägten Kehlkopfes die Volljährigkeit des Antragstellers fest und lehnte eine vorläufige Inobhutnahme ab.
Am 28. August 2016 wurde der Antragsteller, nun unter dem Namen K. S. R. in F. aufgegriffen. Der Antragsgegner zu 2) nahm aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes des Antragstellers (markante Gesichtszüge, ausgebildeter Bartwuchs, Körperbau und ausgebildete Handknochen) ebenfalls Volljährigkeit an und lehnte mit Bescheid vom 29. August 2016 seine vorläufige Inobhutnahme ab.
Am ... September 2016 bat der Antragsteller, der mittlerweile in einer Gemeinschaftsunterkunft für Erwachsene in M. wohnhaft war, das Jugendamt der Antragsgegnerin zu 1), sein Alter zu ändern. Er sei, so habe ihm sein Vater gesagt, am 5. März 2000 geboren und heiße S. K. Er wurde von der Antragsgegnerin zu 1) auf die Möglichkeit eines Rechtsmittels gegen den Bescheid des Antragsgegners zu 2) und eines Antrags auf Hilfe für junge Volljährige hingewiesen.
Noch am ... September 2016 beantragte der Antragsteller zur Niederschrift beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
die Antragsgegnerin zu 1) im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihn vorläufig in Obhut zu nehmen.
Er legte den Ablehnungsbescheid des Antragsgegners zu 2) vor und wiederholte sein Vorbringen gegenüber der Antragsgegnerin zu 1) und wies darauf hin, dass er nur aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes, nicht aufgrund einer ärztlichen Untersuchung für volljährig geschätzt worden sei. Er sei aufgrund seiner tatsächlichen Minderjährigkeit nicht altersgerecht untergebracht und erhalte nicht die entsprechenden Hilfeleistungen. Er habe auch einen Cousin in H.
Die Antragsgegnerin zu 1) beantragte mit Schreiben vom 23. September 2016,
den Antrag abzulehnen.
Gemäß § 88 a SGB VIII sei das Jugendamt P., in dessen Bereich der Antragsteller erstmals aufgegriffen worden sei, zuständig geblieben. Deshalb sei auch keine Alterseinschätzung mehr erfolgt. Eine vorläufige Inobhutnahme durch P. sei beim Verwaltungsgericht Regensburg durchzusetzen.
Darüber hinaus habe der Antragsteller seine Minderjährigkeit nicht substantiiert behauptet und die Feststellungen der Jugendämter P. und B. nicht entkräften können.
Der Antragsgegner zu 2) beantragte mit Schriftsatz vom 6. Oktober 2016,
den Antrag abzulehnen.
Eine ärztliche Untersuchung des Antragstellers habe nicht stattgefunden, da er aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes eindeutig volljährig sei. Wenn man von Minderjährigkeit ausgehe, sei der Antragsgegner zu 2) örtlich nicht zuständig, sondern gemäß § 88 a SGB VIII die Antragsgegnerin zu 1), wo sich der Antragsteller vor Beginn einer (möglichen) Maßnahme tatsächlich aufhalte.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
II.
Im Hinblick auf die Vorlage des (damals) noch nicht bestandskräftigen Bescheids des Antragsgegners zu 2) vom 29. August 2016 war der Antrag dahin auszulegen, dass er sich sowohl gegen die Antragsgegnerin zu 1) wie auch gegen den Antragsgegner zu 2) richtet.
Der Antrag ist zulässig und begründet.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete streitige Recht (den sog. Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO. Maßgebend sind die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
Der Antragsteller hat gegenüber der Antragsgegnerin zu 1) einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
Die Antragsgegnerin zu 1) ist für die vorläufige Inobhutnahme des Antragstellers örtlich zuständig. Gemäß § 88 a Abs. 1 SGB VIII ist für die vorläufige Inobhutnahme eines unbegleiteten ausländischen Kindes oder Jugendlichen der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Maßnahme tatsächlich aufhält.
Zwar ist der Antragsgegnerin zu 1) zuzugeben, dass der Gesetzgeber bei der Formulierung der Norm zunächst von der Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers ausging, in dessen Bereich erstmals die Einreise des Kindes bzw. Jugendlichen festgestellt wurde (vgl. BT-Drs. 349/15, S. 27). Durch die Regelung sollte möglichst schnell eine dem Kindeswohl des Minderjährigen entsprechende Unterbringung veranlasst werden und eine ordnungsgemäße Feststellung des Alters des Betroffenen erfolgen.
Dieses Ziel wird jedoch nicht mehr erreicht in den Fällen, in denen ein unbegleiteter ausländischer Minderjähriger den Bereich des Aufgriffsortes verlässt, ohne dass dort ein ordnungsgemäßes Alterseinschätzungsverfahren durchgeführt wurde und eine Inobhutnahme erfolgt ist. Dann ist entsprechend dem Wortlaut der Vorschrift davon auszugehen, dass im Fall einer gerichtlichen Klärung das zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zuständige Jugendamt jenes ist, in dessen Bereich sich der Betreffende tatsächlich aufhält. Dafür spricht neben dem Wortlaut der Regelung, die der Rechtslage des § 87 SGB VIII entspricht, auch die Praktikabilität. Es wird vermieden, dass unter Umständen ein vom tatsächlichen Aufenthaltsort weit entferntes Jugendamt für eine vorläufige Inobhutnahme zuständig wird (vgl. Kepert, ZKJ 2016, 12 - 15).
Nach § 42 a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII ist ein Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein ausländisches Kind oder einen ausländischen Jugendlichen in Obhut zu nehmen, sobald dessen unbegleitete Einreise nach Deutschland festgestellt wird. Die Inobhutnahme umfasst gemäß §§ 42 a Abs. 1 Satz 2, 42 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen. Anspruchsberechtigt nach der vorgenannten Norm sind ausschließlich Kinder und Jugendliche, also entsprechend § 7 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 SGB VIII Personen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Volljährige dürfen nicht in Obhut genommen werden. Beim Antragsteller ist zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bis zur Klärung seines Alters von Minderjährigkeit auszugehen. Er ist damit bis zum Abschluss eines ordnungsgemäßen, vollständigen Alterseinschätzungsverfahrens durch die Antragsgegnerin zu 1) vorläufig in Obhut zu nehmen.
Gemäß § 42 f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat das Jugendamt im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42 a SGB VIII die Minderjährigkeit einer Person durch Einsichtnahme in deren Ausweispapiere festzustellen oder mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen. Über Papiere verfügt der Antragsteller offensichtlich nicht, so dass als nächster Schritt die Selbstauskunft geboten ist, der besondere Bedeutung zukommt (BayVGH, B.v. 18.8.16 – 12 CE 16.1570, juris Rn. 10). Hier hat der Antragsteller das Jahr 2000 angegeben, was von den Jugendämtern P. und B. … bezweifelt wurde. In diesem Fall ist eine Alterseinschätzung und –feststellung in Form einer qualifizierten Inaugenscheinnahme vorzunehmen. Ein ordnungsgemäßes Alterseinschätzungsgespräch mit dem Antragsteller, das neben dem äußeren Erscheinungsbild auch eine Bewertung von in einem Gespräch mit ihm gewonnenen Informationen umfasst, hat bisher nicht stattgefunden. Die Annahme der Volljährigkeit beruht lediglich auf der Bewertung seines äußeren Erscheinungsbildes. Demgegenüber hat der Antragsteller seit seinem erstmaligen Aufgreifen in Deutschland durchgehend ein Geburtsdatum im Jahr 2000 und damit seine Minderjährigkeit angegeben, so dass nach der obergerichtlichen Rechtsprechung von einem Zweifelsfall im Sinne des § 42 f Abs. 2 SGB VIII auszugehen ist. Die bisherigen behördlichen Feststellungen sind nicht ausreichend, um entgegen der behaupteten Minderjährigkeit eine offensichtliche Volljährigkeit des Antragstellers anzunehmen. Es liegt somit nach Auffassung des Gerichts ein Zweifelsfall vor, in dem von Amts wegen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung durch das Jugendamt erfolgen muss.
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in seinen Entscheidungen vom 16. August 2016 (Az: 12 CS 16.1550) und vom 18. August 2016 (Az: 12 CE 16.1570) das Tatbestandsmerkmal des Zweifelfalles ausgelegt. Zweifel bei der Feststellung des Alters liegen demnach dann vor, wenn nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass ein fachärztliches Gutachten zu dem Ergebnis kommen wird, der Betroffene sei noch minderjährig. Eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durch Mitarbeiter eines Jugendamtes kann allenfalls dann als zur Altersfeststellung geeignet angesehen werden, wenn es darum geht, für jedermann ohne weiteres erkennbare offensichtliche, gleichsam auf der Hand liegende, über jeden vernünftigen Zweifel erhabene Fälle eindeutiger Volljährigkeit festzustellen. In allen anderen Fällen ist vom Vorliegen eines Zweifelfalles auszugehen mit der Folge, dass eine ärztliche Untersuchung vom Jugendamt zu veranlassen ist.
Unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung ist auch im vorliegenden Fall ein ärztliches Gutachten gemäß § 42 f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII von der Antragsgegnerin zu 1) zu veranlassen. Die bisherigen Feststellungen beruhen lediglich auf einer äußeren Begutachtung des Antragstellers, nicht einmal auf Fragen zu seiner Biographie. Demgegenüber hat der Antragsteller selbst durchgehend ein Datum im Jahr 2000 als Geburtsdatum angegeben. Es ist somit nicht ausgeschlossen, dass er tatsächlich noch minderjährig sein könnte. Die Antragsgegnerin zu 1) hat aktuell sein Geburtsdatum auf den 1. September 1998 festgesetzt und ist damit von einer erst kürzlich eingetretenen Volljährigkeit ausgegangen, ohne dass allerdings nach ihrem Vortrag ein Alterseinschätzungsverfahren durchgeführt worden ist.
Der Antragsteller kann auch einen Anordnungsgrund glaubhaft machen. Er kann nicht darauf verwiesen werden, im Fall seiner Minderjährigkeit bis zur ordnungsgemäß durchgeführten Alterseinschätzung einstweilen in einer Asylbewerberunterkunft für Erwachsene zu verbleiben, da die Unterbringung dort nicht annähernd gleichwertig ist mit der Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung oder Pflegefamilie (BayVGH vom 23.9.2014 - 12 CE 14.1833). Aus den genannten Gründen war die Antragsgegnerin zu 1) zu verpflichten, den Antragsteller einstweilen bis zur Klärung seines Alters vorläufig in Obhut zu nehmen.
Der Antragsgegner zu 2) ist wegen fehlender örtlicher Zuständigkeit in keinem Fall für eine vorläufige Inobhutnahme des Antragstellers zuständig. Der Antrag konnte insoweit keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 188 Satz 2 VwGO.