Verwaltungsgericht Minden Beschluss, 01. Sept. 2015 - 10 L 285/15.A
Tenor
Der Antragstellerin wird für das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungspflicht bewilligt und Rechtsanwalt X. , N. , beigeordnet.
Die aufschiebende Wirkung der Klage im Verfahren 10 K 763/15.A gegen die im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 9. März 2015 enthaltene Abschiebungsanordnung wird angeordnet.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, trägt die Antragsgegnerin.
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G r ü n d e :
2A. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin für das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist begründet. Die Antragstellerin kann nach den von ihr dargelegten persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen (§§ 166 VwGO, 114 Satz 1, 115 ZPO). Die beabsichtigte Rechtsverfolgung erscheint auch nicht mutwillig und bietet - wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen unter B. ergibt - hinreichende Aussicht auf Erfolg (§§ 166 VwGO, 114 Satz 1 ZPO). Eine anwaltliche Vertretung ist schon angesichts der Bedeutung des Rechtsstreits für die Antragstellerin erforderlich (§§ 166 VwGO, 121 Abs. 2 Alt. 1 ZPO).
3B. Der zulässige, insbesondere innerhalb der einwöchigen Frist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG gestellte Antrag,
4die aufschiebende Wirkung der Klage im Verfahren 10 K 763/15.A gegen die im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 9. März 2015 enthaltene Abschiebungs-anordnung anzuordnen,
5ist begründet. Die im Verfahren nach § 34a Abs. 2 AsylVfG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung geht zugunsten der Antragstellerin aus.
6I. Für die vorzunehmende Interessenabwägung gelten die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO anwendbaren allgemeinen Grundsätze. Dementsprechend ist das Interesse der Antragstellerin an einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung gegen das öffentliche Interesse an deren alsbaldiger Vollziehung abzuwägen. Im Rahmen dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten der Klage maßgeblich zu berücksichtigen.
7Dagegen setzt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage anders als in Fällen der Unbeachtlichkeit oder der offensichtlichen Unbegründetheit des Asylantrags (§ 36 Abs. 1 und 4 Satz 1 AsylVfG) nicht voraus, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestehen. Im Gegensatz zu § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG enthält § 34a Abs. 2 AsylVfG keine entsprechende Einschränkung. Ein Antrag, § 34a Abs. 2 AsylVfG entsprechend zu fassen, fand im Gesetzgebungsverfahren keine Mehrheit.
8Vgl. VG Trier, Beschluss vom 18. September 2013 - 5 L 1234/13.TR -, juris Rn. 5 ff. mit ausführlicher Darstellung des Ablaufs des Gesetzgebungsverfahrens; VG Darmstadt, Beschluss vom 9. Mai 2014 - 4 L 491/14.DA.A -, juris Rn. 2.
9II. Ob die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung rechtswidrig ist und die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist derzeit offen. Zwar ist die Zuständigkeit für das Asylverfahren der Antragstellerin schon deshalb nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 31; sog Dublin III-VO) wegen Ablaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist (vgl. Art. 29 Abs. 1 Unter-abs. 1 VO 604/2013) auf die Antragsgegnerin übergegangen, weil seit der fristgerechten Annahme des Wiederaufnahmeersuchens der Antragsgegnerin durch die ungarischen Behörden am 2. März 2015 noch nicht sechs Monate vergangen sind. Jedoch liegen nunmehr aufgrund aktueller Erkenntnisse ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die in Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013 aufgeführten Voraussetzungen zum Zeitpunkt des Erlasses der vorliegenden Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylVfG) gegeben sind, dass also das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Ungarn derzeit systemische Mängel aufweisen, aufgrund derer die Antragstellerin konkrete Gefahr läuft, im Falle ihrer Überstellung nach Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 4 GR-Charta bzw. des Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden. Dementsprechend ist die bisherige Rechtsprechung der Kammer (zuletzt Beschluss vom 13. Juli 2015 - 10 L 253/15.A -), nach der das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Ungarn bisher keine systemischen Mängel aufwiesen, nicht fortzuführen.
101. Die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013 liegen vor, wenn ein Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen, also strukturell bedingter, größerer Funktionsstörungen, im konkret zu entscheidenden Fall in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird.
11Vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, NVwZ 2014, 1039 (juris Rn. 9) zur Rechtslage nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (ABl. L 50. S. 1; sog. Dublin II-VO).
12Unerheblich ist dagegen, ob es unterhalb der Schwelle systemischer Mängel in Einzelfällen zu Grundrechtsverletzungen kommen kann und ob der betreffende Asylbewerber einer solchen tatsächlich schon einmal ausgesetzt gewesen ist. Derartige Erfahrungen sind vielmehr in die Gesamtwürdigung einzubeziehen, ob systemische Mängel im Zielland der Abschiebung des Asylbewerbers vorliegen; sie führen auch nicht zu einer Beweislastumkehr für die Frage des Vorliegens systemischer Mängel.
13Vgl. BVerwG, Beschluss vom 6. Juni 2014 - 10 B 35.14 -, Asylmagazin 2014, 258 (juris Rn. 6) zur Rechtslage nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003.
14Unter "Asylverfahren und Aufnahmebedingungen" ist das gesamte Asylsystem eines Mitgliedstaats zu verstehen. Dieses umfasst den Zugang zum Asylverfahren, das Asylverfahren selbst, die Behandlung während des Verfahrens, die Handhabung der Anerkennungsvoraussetzungen, das Rechtsschutzsystem und auch die Behandlung nach einer ggf. erfolgten Anerkennung.
15Vgl. VG Regensburg, Urteil vom 29. April 2014 - RO 4 K 14.50022 -, juris Rn. 34; VG Kassel, Beschluss vom 24. Juli 2015 - 6 L 1147/15.KS.A -, Abdruck S. 7; Lübbe, ZAR 2014, 105, 108.
16Systemische Schwachstellen sind solche, die entweder bereits im Asyl- und Aufnahmeregime selbst angelegt sind und von denen alle Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von Asylbewerbern deshalb nicht zufällig und im Einzelfall, sondern vorhersehbar und regelhaft betroffen sind, oder aber tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem - aus welchen Gründen auch immer - faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weitgehend unwirksam wird. Dabei ist der Begriff der systemischen Schwachstelle nicht in einer engen Weise derart zu verstehen, dass er geeignet sein muss, sich auf eine unüberschaubare Vielzahl von Asylbewerbern auszuwirken. Vielmehr kann ein systemischer Mangel auch dann vorliegen, wenn er von vornherein lediglich eine geringe Zahl von Asylbewerbern betreffen kann, sofern er sich nur vorhersehbar und regelhaft realisieren wird und nicht gewissermaßen dem Zufall oder einer Verkettung unglücklicher Umstände bzw. Fehlleistungen von in das Verfahren involvierten Akteuren geschuldet ist.
17Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, NVwZ 2014, 1039 (juris Rn. 9), sowie vom 6. Juni 2014 - 10 B 35.14 -, Asylmagazin 2014, 258 (juris Rn. 5); VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014 - A 11 S 1778/14 -, InfAuslR 2015, 77 (juris Rn. 33).
18Einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung sind Asylbewerber, die vollständig auf staatliche Hilfe angewiesen sind, insbesondere dann ausgesetzt, wenn sie sich in einer mit der menschlichen Würde unvereinbaren Situation ernsthafter Entbehrungen und Not behördlicher Gleichgültigkeit gegenüber sehen.
19Vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarak-hel/Schweiz) -, HUDOC Rn. 98; s.a. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 -, BVerwGE 146, 12 (juris Rn. 24); United Kingdom Supreme Court, Urteil vom 19. Februar 2014 - EM (Eritrea) and others v the Secretary of the State for the Home Department, [2014] UKSC 12 -, Rn. 62.
20Dabei ist zu berücksichtigen, ob staatliche Stellen es durch ihr vorsätzliches Handeln oder Unterlassen Asylbewerbern praktisch verwehren, von ihren gesetzlich verankerten Rechten auf eine Unterkunft und annehmbare materielle Bedingungen Gebrauch zu machen.
21Vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarak-hel/Schweiz) -, HUDOC Rn. 96.
22Sind Kinder betroffen, ist entscheidend auf ihre besondere Verletzlichkeit abzustellen, der der Vorrang gegenüber dem Gesichtspunkt ihres Status als illegaler Einwanderer einzuräumen ist.
23Vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarak-hel/Schweiz) -, HUDOC Rn. 99.
24Im Rahmen der Prognose, ob ein Antragsteller in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird, ist nicht allein auf die Rechtslage im betreffenden Mitgliedstaat abzustellen; maßgeblich ist vielmehr deren Umsetzung in die Praxis.
25Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 (M.S.S./ Belgien und Griechenland) -, NVwZ 2011, 413 und HUDOC Rn. 359; Hailbronner, Ausländerrecht, Band 3, Stand: Juni 2014, § 34a AsylVfG Rn. 21.
262. Bei Anlegung dieses Maßstabs ergeben sich aus den dem Gericht vorliegenden aktuellen Erkenntnissen ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Ungarn derzeit systemische Mängel aufweisen, aufgrund derer die Antragstellerin konkrete Gefahr läuft, im Falle ihrer Überstellung nach Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 4 GR-Charta bzw. des Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden.
27Vgl. VG Münster, Beschluss vom 7. Juli 2015 - 2 L 858/15.A -, juris Rn. 7 ff.; VG München, Beschluss vom 17. Juli 2015 - M 24 S 15.50508 -, Abdruck S. 10 ff.; VG Potsdam, Beschluss vom 20. Juli 2015 - VG 6 L 356/15.A -, Abdruck S. 6 ff.; VG Kassel, Beschluss vom 24. Juli 2015 - 6 L 1147/15.KS.A -, Abdruck S. 7 ff.; VG Saarlouis, Beschluss vom 5. August 2015 - 3 L 633/15 -, juris Rn. 14 ff.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 7. August 2015 - 22 L 616/15.A -, nrwe Rn. 16 ff.; VG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 7. August 2015 - VG 3 L 169/15.A -, Abdruck S. 7 ff.; VG Kassel, Beschluss vom 7. August 2015 - 3 L 1303/15.KS.A -, juris Rn. 23 ff.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 20. August 2015 - 15 L 2556/15.A -, nrwe Rn. 25 ff.; a.A. VG Düsseldorf, Beschluss vom 17. Juli 2015 - 8 L 1895/15.A -, nrwe Rn. 50 ff.; VG Augsburg, Urteil vom 3. August 2015 - Au 5 K 15.50347 -, juris Rn. 39 ff.; VG N. , Beschluss vom 14. August 2015 - 1 L 766/15.A -, Abdruck S. 6 ff.
28a) Es liegen ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass bestimmten Gruppen von Asylbewerbern im Falle einer Ablehnung ihres Asylantrags in Ungarn kein effektiver Rechtsschutz gewährt wird. Einem Bericht des Hungarian Helsinki Committee zufolge sind Klagen gegen Bescheide, mit denen ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde, und Klagen gegen Bescheide, mit denen ein Asylantrag in dem ab dem 1. August 2015 neu eingeführten beschleunigten Verwaltungsverfahren abgelehnt wurde, innerhalb von drei Kalendertagen zu erheben.
29Vgl. Hungarian Helsinki Committee, Building a legal fence- Changes to Hungarian asylum law jeopardise access to protection in Hungary, 7. August 2015, S. 4.
30Dasselbe gilt für die Klage gegen einen Dublin-Bescheid, mit dem die Abschiebung in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union verfügt wird.
31Vgl. Asylum Information Database (aida), Country Report Hungary, 17. Februar 2015, S. 21.
32Allerdings reicht die Kürze der Klagefrist allein nicht aus, um die Gewährung effektiven Rechtsschutzes zu verneinen. Vielmehr sind sämtliche Voraussetzungen der Klageerhebung zu würdigen. Insoweit ist insbesondere von Belang, bei welcher Behörde bzw. welchem Gericht eine Klage zu erheben ist, welche Kosten damit verbunden sind, in welcher Sprache die Klageschrift zu verfassen ist und ob ggf. die Hilfe eines Übersetzers in Anspruch genommen werden kann, ob die Klagebegründung ebenfalls innerhalb der Frist einzureichen ist sowie ob und zu welchen Kosten ein Rechtsbeistand in Anspruch genommen werden kann.
33Vgl. EGMR, Urteil vom 2. Februar 2012 - 9152/09 (I.M./Frank-reich) -, HUDOC, S. 3 f. der deutschen Zusammenfassung des Urteils.
34Die Klärung dieser Umstände muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
35b) Ferner liegen ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die Möglichkeiten, Asylbewerber zu inhaftieren, aufgrund der am 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderungen des ungarischen Asylrechts wesentlich ausgeweitet wurden. Unklar ist nach den dem Gericht vorliegenden Unterlagen allerdings, wie weit diese Änderungen im Einzelnen gehen. Nach Darstellung des Hungarian Helsinki Committee wurde die Dauer der Asylhaft ("asylum detention") auf die Dauer des gerichtlichen Verfahrens erstreckt und ein neuer Haftgrund eingeführt, wonach eine Inhaftierung nunmehr auch im Falle einer ernstlichen Gefahr des Untertauchens ("serious danger of absconding") eines Asylbewerbers möglich sein soll.
36Vgl. Hungarian Helsinki Committee, Building a legal fence- Changes to Hungarian asylum law jeopardise access to protection in Hungary, 7. August 2015, S. 5.
37Dagegen berichtet UNHCR über die Zulässigkeit einer anhaltenden Inhaftierung von Asylsuchenden ("prolonged detention of asylum-seekers"), ohne näher auf die Voraussetzungen für eine Inhaftierung einzugehen.
38Vgl. UNHCR, UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste, 3. Juli 2015.
39Andere Beobachter sprechen davon, dass Asylbewerber künftig wieder - wie bereits bis 2012 üblich - für die Dauer der Antragsbearbeitung inhaftiert werden können.
40Vgl. Die Welt vom 6. Juli 2015, Ungarn zieht Grenzzaun gegen Flüchtlinge hoch.
41Für Letzteres sprechen auch Äußerungen des Fraktionsvorsitzenden der Regierungspartei Fidesz, Antal Rogan, der sich für eine Rückkehr zur bis 2012 geltenden Rechtslage aussprach.
42Vgl. Hungarian Helsinki Committee, Hungarian government reveals plans to breach EU asylum law and to subject asylum-seekers to massive detention and immediate deportation, 4. März 2015, S. 4 (Übersetzung durch das Gericht): "… Wir mussten das (Anmerkung des Gerichts: die bis 2012 geltende Rechtslage) wegen der EU ändern und es ist offensichtlich, dass die EU, wenn wir zu den Regeln, die vor 2012 galten zurückkehren - was wir wirklich wollen -, ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren anstrengen wird. …"
43Die Klärung der Fragen, ob mit den jüngsten Änderungen tatsächlich eine Rückkehr zur bis 2012 geltenden Rechtslage erfolgt ist und inwieweit von den gesetzlich eingeräumten Möglichkeiten tatsächlich Gebrauch gemacht wird, bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
44c) Vor dem Hintergrund stark gestiegener Zugangszahlen liegen zudem ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die ungarischen Behörden derzeit nicht mehr in der Lage sind, Asylbewerber angemessen mit Unterkunft, Nahrung, Kleidung und sonstigem täglichen Bedarf (vgl Art. 2 lit. g) und 17 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013, ABl. L 180, S. 96; sog. Aufnahmerichtlinie) zu versorgen und ihnen zumindest eine medizinische Notversorgung (vgl. Art. 19 RL 2013/33/EU) zukommen zu lassen.
45Vgl. VG Münster, Beschluss vom 7. Juli 2015 - 2 L 858/15.A -, juris Rn. 7 ff; VG München, Beschluss vom 17. Juli 2015 - M 24 S 15.50508 -, Abdruck S. 10 ff.; VG Kassel, Beschlüsse vom 24. Juli 2015 - 6 L 1147/15.KS.A -, Abdruck S. 7 ff., sowie vom 7. August 2015 - 3 L 1303/15.KS.A -, juris Rn. 23 ff.; a.A. VG Potsdam, Beschluss vom 20. Juli 2015 - VG 6 L 356/15.A -, Abdruck S. 6 ff.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 7. August 2015 - 22 L 616/15.A -, nrwe Rn. 29.
46Die Zahl der in Ungarn gestellten Asylanträge hat sich zwischen 2012 (2.157) und 2014 (knapp 43.000) fast verzwanzigfacht.
47Vgl. Hungarian Helsinki Committee, Hungarian Government reveals plans to breach EU asylum law and to subject asylum-seekers to massive detention and immediate deportation, 4. März 2015, S. 1.
48Im ersten Halbjahr 2015 sind bereits knapp 67.000 Asylanträge in Ungarn gestellt worden.
49Vgl. http://ec.europa.eu/eurostat/tgm/table.do?tab=table&init=1 & language=de&pcode=tps00189&plugin=1 (aufgerufen am 21. August 2015)
50Dem stehen insgesamt knapp 2.000 Aufnahmeplätze in offenen und knapp 500 Aufnahmeplätze in geschlossenen Einrichtungen gegenüber. Allerdings ist bei dieser Gegenüberstellung zu berücksichtigen, dass etwa 80 bis 90 % der Asylbewerber Ungarn nicht als Ziel ihrer Flucht, sondern nur als Transitland betrachten und Ungarn bereits nach kurzer Zeit, oftmals bereits nach mehreren Tagen, wieder verlassen.
51Vgl. European Asylum Support Office (EASO), Description of the Hungarian asylum system, 4. Juni 2015, S. 7, 10 und 11.
52Folglich kann aus dem auf den ersten Blick bestehenden Missverhältnis zwischen der Anzahl der Asylbewerber und der Anzahl der Unterbringungsplätze nicht ohne Weiteres auf einen gravierenden Kapazitätsengpass geschlossen werden.
53Vgl. VG Potsdam, Beschluss vom 20. Juli 2015 - VG 6 L 356/15.A -, Abdruck S. 5.; a.A. z.B. VG Kassel, Beschluss vom 7. August 2015 - 3 L 1303/15.KS.A -, juris Rn. 27
54Dementsprechend berichtet das European Asylum Support Office, dass die Unterbringungsplätze noch im März 2015 lediglich zu 60 bis 70 % ausgelastet waren.
55Vgl. EASO, Description of the Hungarian Asylum System, 4. Juni 2015, S. 10.
56Jedoch hat sich die ungarische Regierung im Juni 2015 selbst darauf berufen, dass Ungarn keine weiteren Flüchtlinge mehr aufnehmen könne, weil die dortigen Aufnahmekapazitäten erschöpft seien.
57Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23. Juni 2015, Ungarn schottet sich ab, und vom 24. Juni 2015, Ungarn relativiert Aufnahmestopp für Asylsuchende; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Juni 2015, Ungarn nimmt keine Flüchtlinge mehr auf; Die Welt vom 24. Juni 2015, Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat.
58Aktuelle Berichte über die Zustände in ungarischen Flüchtlingslagern scheinen die Einschätzung der ungarischen Regierung zu bestätigen.
59Budapest Beacon vom 19. August 2015, Migration aid needs food, blankets and foam mattresses, sowie vom 25. Juli 2015, Hungary's Vamosszabadi refugee camp dangerously overcrow-ded.
60Anhaltspunkte dafür, dass die ungarischen Behörden ihre Aufnahmekapazitäten zwischenzeitlich aufgestockt haben oder entsprechende Planungen erfolgen, lassen sich den dem Gericht vorliegenden Unterlagen nicht entnehmen.
61Die weitere Klärung aller damit zusammenhängenden Fragen bleibt ebenfalls dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
62d) Eine weitere zum 1. August 2015 in Kraft getretene Änderung des ungarischen Asylrechts beinhaltet den Erlass einer Regierungsverordnung, mit der u.a. Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien zu sicheren Drittstaaten erklärt werden. Asylanträge von Personen, die über eines dieser Länder nach Ungarn eingereist sind, sind als unzulässig abzuweisen. Dies betrifft nach Einschätzung des Hungarian Helsinki Committee 99 % aller nach Ungarn eingereisten Asylbewerber, da diese vorliegenden Erkenntnissen zufolge derzeit nahezu ausschließlich über Serbien nach Ungarn einreisen.
63Vgl. Hungarian Helsinki Committee, Building a legal fence- Changes to Hungarian asylum law jeopardise access to protection in Hungary, 7. August 2015, S. 1 f.; Asylum Information Database (aida), Hungary adopts list of safe countries of origin and safe third countries, 23. Juli 2015.
64Von dieser Änderung ist die Antragstellerin allerdings nicht betroffen, da sie nach ihren wiederholten Angaben über Italien nach Ungarn eingereist ist.
653. Ist nach den vorstehenden Ausführungen derzeit offen, ob der angefochtene Bescheid rechtswidrig ist und die Antragstellerin in ihren Rechten verletzt, überwiegt angesichts der durch die Abschiebungsanordnung betroffenen Rechte der Antragstellerin ihr Interesse an einem vorläufigen Verbleib im Bundesgebiet und damit an einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung das öffentliche Interesse an deren alsbaldiger Vollziehung durch Überstellung der Antragstellerin nach Ungarn.
66Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylVfG.
67Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
Urteilsbesprechung zu Verwaltungsgericht Minden Beschluss, 01. Sept. 2015 - 10 L 285/15.A
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(1) Die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Prozesskostenhilfe sowie § 569 Abs. 3 Nr. 2 der Zivilprozessordnung gelten entsprechend. Einem Beteiligten, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, kann auch ein Steuerberater, Steuerbevollmächtigter, Wirtschaftsprüfer oder vereidigter Buchprüfer beigeordnet werden. Die Vergütung richtet sich nach den für den beigeordneten Rechtsanwalt geltenden Vorschriften des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes.
(2) Die Prüfung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nach den §§ 114 bis 116 der Zivilprozessordnung einschließlich der in § 118 Absatz 2 der Zivilprozessordnung bezeichneten Maßnahmen, der Beurkundung von Vergleichen nach § 118 Absatz 1 Satz 3 der Zivilprozessordnung und der Entscheidungen nach § 118 Absatz 2 Satz 4 der Zivilprozessordnung obliegt dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des jeweiligen Rechtszugs, wenn der Vorsitzende ihm das Verfahren insoweit überträgt. Liegen die Voraussetzungen für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe hiernach nicht vor, erlässt der Urkundsbeamte die den Antrag ablehnende Entscheidung; anderenfalls vermerkt der Urkundsbeamte in den Prozessakten, dass dem Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen Prozesskostenhilfe gewährt werden kann und in welcher Höhe gegebenenfalls Monatsraten oder Beträge aus dem Vermögen zu zahlen sind.
(3) Dem Urkundsbeamten obliegen im Verfahren über die Prozesskostenhilfe ferner die Bestimmung des Zeitpunkts für die Einstellung und eine Wiederaufnahme der Zahlungen nach § 120 Absatz 3 der Zivilprozessordnung sowie die Änderung und die Aufhebung der Bewilligung der Prozesskostenhilfe nach den §§ 120a und 124 Absatz 1 Nummer 2 bis 5 der Zivilprozessordnung.
(4) Der Vorsitzende kann Aufgaben nach den Absätzen 2 und 3 zu jedem Zeitpunkt an sich ziehen. § 5 Absatz 1 Nummer 1, die §§ 6, 7, 8 Absatz 1 bis 4 und § 9 des Rechtspflegergesetzes gelten entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Rechtspflegers der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle tritt.
(5) § 87a Absatz 3 gilt entsprechend.
(6) Gegen Entscheidungen des Urkundsbeamten nach den Absätzen 2 und 3 kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe die Entscheidung des Gerichts beantragt werden.
(7) Durch Landesgesetz kann bestimmt werden, dass die Absätze 2 bis 6 für die Gerichte des jeweiligen Landes nicht anzuwenden sind.
(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).
(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur
- 1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten, - 2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten, - 3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen, - 3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen, - 4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.
(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.
(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn
- 1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder - 2.
eine Vollstreckung droht.
(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.
(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung der in der Hauptsache unter dem Aktenzeichen 5 K 1233/13.TR bei dem beschließenden Gericht anhängigen Klage des Antragstellers wird angeordnet.
2. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
- 1
Der am 6. September 2013 gestellte Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung der in der Hauptsache erhobenen Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. August 2013 anzuordnen, ist gemäß § 80 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO – in Verbindung mit §§ 34a Abs. 2, 75 Satz 1 Asylverfahrensgesetz – AsylVfG – in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), geändert durch den insoweit gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG seit dem 6. September 2013 anwendbaren Artikel 1 des Gesetzes vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3474), zulässig.
- 2
Mit dem vorgenannten Bescheid hat die Antragsgegnerin den Asylantrag des Antragstellers unter Bezugnahme auf § 27a AsylVfG und Art. 16 Abs. 1e der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 - Dublin-II-VO - für unzulässig erklärt und auf der Grundlage des § 34a AsylVfG die Abschiebung des Antragstellers nach Italien angeordnet. Gegen beide Entscheidungen ist in der Hauptsache eine Anfechtungsklage im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO statthaft, da die Antragsgegnerin mit ihrem Bescheid das Asylverfahren des Antragstellers ohne Sachprüfung abgeschlossen hat (vgl. insoweit BVerwG, Urteile vom 7. März 1995 - 9 C 264/94 - und vom 6. Juli 1998 - 9 C 45/97 -, juris; Bayerischer VGH, Urteil vom 14. Januar 2013 - 20 B 12.30348 -, juris; Urteil der erkennenden Kammer vom 30. Mai 2012 - 5 K 967/11.TR -, ESOVGRP), so dass § 80 VwGO anwendbar ist.
- 3
Des Weiteren wurde der Antrag ungeachtet der Frage, welche Frist für eine Antragstellung bei bereits vor Inkrafttreten der Änderung des § 34a AsylVfG bekannt gegebenen Bescheiden gilt, jedenfalls fristgerecht gestellt.
- 4
Der Antrag ist auch in der Sache begründet.
- 5
Bei der Entscheidung darüber, ob die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen ist, ist das öffentliche Interesse an einer alsbaldigen Vollziehung des Verwaltungsaktes gegenüber dem Interesse des Betroffenen an einer Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abzuwägen. Insoweit finden die in den Fällen der vorliegenden Art in der Vergangenheit geltenden Einschränkungen, die darauf gründeten, dass aufgrund der bislang geltenden gesetzlichen Bestimmungen eine angeordnete Abschiebung in einen anderen EU-Mitgliedstaat kraft Gesetzes nicht nach §§ 80, 123 VwGO ausgesetzt werden durfte, keine Anwendung mehr, so dass die allgemeinen Grundsätze gelten, zumal der Gesetzgeber insoweit die für offensichtlich unbegründete Asylanträge geltende Bestimmung des § 36 Abs. 4 AsylVfG, der zufolge eine Aussetzung der Abschiebung nur bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes angeordnet werden darf, nicht für entsprechend anwendbar erklärt hat und die Gesetzesmaterialen keine Anhaltspunkte für eine abweichende Gesetzauslegung bieten.
- 6
Die Bundestags-Drucksache 17/13556, die der Änderung des § 34a AsylVfG zugrunde liegt, enthält keine Angaben zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen vorläufiger Rechtsschutz gewährt werden kann. In der Bundestagssitzung vom 7. Juni 2013 (vgl. Plenarprotokoll 17/244 S. 30891 ff, insbesondere S. 30895) wurde alsdann vor der Beschlussfassung in 2. und 3. Lesung ausdrücklich auf die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes eingegangen und darauf hingewiesen, dass nur noch entscheidend sei, ob dem Aussetzungsinteresse des Schutzsuchenden Vorrang vor dem Vollzugsinteresse der Behörde einzuräumen sei.
- 7
Die Materialien über die Beteiligung des Bundesrats am Gesetzgebungsverfahren ergeben ebenfalls keine Anhaltspunkte für eine entsprechende Anwendung des § 36 Abs. 4 AsylVfG.
- 8
In der Bundesratsdrucksache 495/1/13 vom 21. Juni 2013 ist festgehalten, dass der Bundesratsausschuss für Innere Angelegenheiten dem Bundesrat gegenüber unter 3. eine Empfehlung folgenden Inhalts abgegeben hat:
- 9
„Der Bundesrat stellt aber fest, dass die Änderungen in § 34a AsylVfG ergänzungsbedürftig sind, weil sie das verwaltungsgerichtliche Verfahren bei Anträgen nach § 80 Absatz 5 VwGO ungeregelt lassen. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, bei dem nächsten Gesetzentwurf zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes vorzusehen, dass im beschleunigten Verfahren bei Unbeachtlichkeit und offensichtlicher Unbegründetheit von Asylanträgen (§ 36 AsylVfG) entsprechende Bestimmungen ergänzt werden. Die Aussetzung der Überstellung darf nur angeordnet werden, wenn systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber erkennbar sind, sodass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH vom 21. Dezember 2011, Rs. C-411/10 und C-493/10).“
- 10
In der Sitzung des Bundesrates vom 5. Juli 2013 (vgl. Stenografischer Bericht, Plenarprotokoll 912, S. 401, 429 - Anlage 19) gab alsdann die rheinland-pfälzische Staatsministerin Margit Conrad eine Erklärung dahingehend zu Protokoll, dass die vorstehend zitierte Entschließung aus dem Innenausschuss nicht mitgetragen werden könne, weil sie den gerade wieder eingeführten einstweiligen Rechtsschutz wieder relativieren würde.
- 11
Bei der anschließenden Beschussfassung des Bundesrates schloss sich alsdann nur eine Minderheit des Bundesrates der dargestellten Beschlussempfehlung an (vgl. Plenarprotokoll 912, S. 401 zu Punkt 14, Ziffer 3).
- 12
Demnach kommt eine entsprechende Anwendung des § 36 Abs. 4 AsylVfG nicht in Betracht, so dass die bei der Anwendung des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5 VwGO für kraft Gesetzes sofort vollziehbare Verwaltungsakte allgemein geltenden Grundsätze Anwendung finden müssen. Danach haben die Gerichte die Erfolgsaussichten der in der in der Hauptsache erhobenen Klage zu prüfen. Zu einer weitergehenden Einzelfallbetrachtung sind sie grundsätzlich nur im Hinblick auf solche Umstände angehalten, die von den Beteiligten vorgetragen werden und die die Annahme rechtfertigen können, dass im konkreten Fall von der gesetzgeberischen Grundentscheidung ausnahmsweise abzuweichen ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2003 - 1 BvR 2025/03 -, juris).
- 13
Ausgehend hiervon erscheint es der Kammer interessengerecht, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, weil sie die Erfolgsaussichten der Klage unter Berücksichtigung der Gründe des den Beteiligten bekannten Beschlusses des OVG Rheinland-Pfalz vom 19. Juni 2013 - 10 B 10627/13.OVG –, auf die die Kammer zur Vermeidung von Wiederholungen in entsprechender Anwendung des § 77 Abs. 2 AsylVfG verweist, als zumindest offen einstuft, da der dortige Sachverhalt – insbesondere im Hinblick auf die vom Antragsteller geltend gemachten gesundheitlichen Probleme - mit dem vorliegenden Sachverhalt vergleichbar erscheint, und in dem von dem Antragsteller vorgelegten fachärztlichen Attest, auf das die Antragsgegnerin in ihrer ausführlichen Antragserwiderung nicht eingegangen ist, nachvollziehbar dargelegt ist, warum bei dem Antragsteller aufgrund besonderer Umstände seines Einzelfalles in Italien eine Verschlimmerung seiner gesundheitlichen Lage zu befürchten sei, so dass die vorzunehmende Interessenabwägung zu seinen Gunsten auszufallen hat.
- 14
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden gemäß § 83 b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben.
- 15
Der Beschluss ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.
(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.
(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.
(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 30. Juni 2014 - A 7 K 880/14 - geändert, soweit es der Klage stattgegeben hat.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Entscheidungsgründe
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Gründe
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Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 2 K 1422/15.A des Antragstellers gegen die in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Mai 2015 enthaltene Abschiebungsanordnung nach Ungarn wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
G r ü n d e
2Der Antrag des Antragstellers,
3die aufschiebende Wirkung seiner Klage 2 K 1422/15.A gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 12. Mai 2015, zugestellt am 18. Juni 2015, anzuordnen,
4ist zulässig und begründet.
5Im Rahmen der in Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotenen Abwägung zwischen dem privaten Interesse des Antragstellers an einem Verbleib in Deutschland bis zum Abschluss des Klageverfahrens und dem öffentlichen Interesse an einem Vollzug der auf § 34a Abs. 1 AsylVfG gestützten Anordnung der Abschiebung nach Ungarn im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Mai 2015 überwiegt unter Berücksichtigung aller derzeit erkennbaren Umstände das Aussetzungsinteresse. Denn es lässt sich nicht mehr mit der in Verfahren der vorliegenden Art hinreichenden Wahrscheinlichkeit annehmen, dass sich der auf §§ 27a, 34a AsylVfG gestützte Bundesamtsbescheid im Ergebnis als rechtmäßig erweisen wird. Deshalb wäre mit einem sofortigen Vollzug des umstrittenen Bundesamtsbescheides eine unbillige Härte für den Antragsteller verbunden (vgl. zum Prüfungsmaßstab § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO).
6Nach § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt in einem solchen Fall die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
7Zwar ist die Antragsgegnerin zutreffend davon ausgegangen, dass Ungarn grundsätzlich der für die Durchführung des Asylverfahrens zuständige Mitgliedsstaat ist. Die ungarischen Behörden haben auf das Wiederaufnahmegesuch der Bundesrepublik Deutschland mit Schreiben vom 10. April 2015 ihre Zuständigkeit gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin II-VO) für die Bearbeitung des Asylantrags des Antragstellers erklärt.
8Allerdings kann nach Einschätzung des Gerichts unter Berücksichtigung des vorliegenden neueren Erkenntnismaterials sowie der geänderten Positionierung des ungarischen Staates zur Aufnahmebereitschaft von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Übereinkommens aktuell nicht mehr mit der erforderlichen Gewissheit davon ausgegangen werden, dass in Ungarn systemische Mängel bzw. Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber nicht anzunehmen sind. Vielmehr gibt die jüngste Entwicklung in Ungarn Anlass zu der Annahme, dass gravierende Anhaltspunkte für das Bestehen systemischer Mängel vorhanden sind, aufgrund derer der Antragsteller im Falle der Rückführung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein.
9Ausgangspunkt für diese Bewertung ist das in Ungarn sich in jüngster Zeit massiv zuspitzende Kapazitätsproblem bei der Aufnahme von Asylbewerbern bedingt durch die stetig ansteigende Zahl von Asylbewerbern. Während in Ungarn im Jahre 2012 lediglich 2.157 Asylanträge gestellt wurden, stieg die Anzahl der Asylbewerber im Jahre 2013 auf 18.900 an und verdoppelte sich im Jahre 2014 auf 42.777. Vom 1. Januar 2015 bis zum 1. März 2015 registrierten die ungarischen Behörden bereits eine Anzahl von 28.535 Personen.
10Vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015 (abrufbar unter http://helsinki.hu/wp-content/uploads/Asylum-2015-Hungary-press-info-4March2015.pdf.
11Bis zu 72.000 Flüchtlinge sollen bereits in diesem Jahr nach Angaben der ungarischen Regierung in das Land gelangt sein.
12Vgl. spiegelonline: Überlastetes Asylsystem, Ungarn verschärft Gesetz zur Aufnahme von Flüchtlingen, Bericht vom 6. Juli 2015, abrufbar unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-verschaerft-gesetzzur-aufnahme-von-flüchtlingen.
13Ungarn gehört damit in der EU zum drittgrößten Zuwanderungsland für Asylbewerber.
14Vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015,aaO.
15Hinzu kommt noch, dass Ungarn nach der Dublin-VO verpflichtet ist, alle weitergereisten Personen, die erstmals in Ungarn einen Asylantrag gestellt haben, wiederaufzunehmen. Dieser großen Anzahl von Asylbewerbern steht demgegenüber nur eine geringe Zahl von Aufnahmeplätzen gegenüber. Wie dem jüngsten Bericht des European Asylum Support Office (EOS) vom 18. Mai 2015 zu entnehmen ist, der eine ausführliche aktuelle Berichterstattung über das ungarische Asylsystem enthält,
16http://easo.europa.eu/wp-content/uploads/Description-of-the-Hungarian-asylum-system-18-May-final.pdf;
17gibt es in ganz Ungarn weniger als 2.500 Aufnahmeplätze in staatlichen Unterbringungseinrichtungen. Die Plätze verteilen sich auf vier offene Aufnahmeeinrichtungen (Bicske 439, Debrecen 823, Vamaosszabadi 255, Nagyfa 300 sowie in Balassagyarmat 111) und drei geschlossene Lager (Debrecen 192, Bekescsabe 159, Nyirbator 105).
18Bereits diese Zahlen verdeutlichen das bestehende massive Unterbringungsproblem in Ungarn. Es kann angesichts dieser Größenordnung bei einer Zuwanderung von mehr als 60.000 Flüchtlingen innerhalb eines halben Jahres ersichtlich nicht davon ausgegangen werden, dass die erheblich zu geringe Zahl an staatlichen Unterbringungsplätzen für Asylbewerber auch nur ansatzweise durch von Kirchen und sonstigen nichtstaatlichen caritativen Einrichtungen aufgefangen werden könnte.
19Hinzu kommt, dass sich der ungarische Staat selbst weder willens noch in der Lage sieht, die Unterbringung und Versorgung der stetig ansteigenden Zahl von Asylbewerbern zu gewährleisten. Dass bereits seit einigen Monaten von den ungarischen Behörden die Situation der Flüchtlingsunterbringung als dramatisch eingestuft wird, zeigt der Umstand des bereits Ende Mai 2015 erklärten Aufnahmestopps von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Transfers wegen ausgeschöpfter Aufnahmekapazitäten bis zum 5. August 2015.
20S. E-Mail der Dublinet Hungary vom 29. Mai 2015 an die Europäischen Mitgliedsstaaten betr. INFO Transfer Stop.
21Als erschwerend ist die ablehnende Haltung der ungarischen Regierung gegenüber dem Dublin-Übereinkommen anzusehen, die das gesamte Dublin-Konzept als ein Systemfehler bezeichnet. Seitens der ungarischen Regierung wird unmissverständlich deutlich gemacht, dass man eine nennenswerte Zuwanderung sog. Wirtschaftsflüchtlinge nicht wünsche und Ungarn keine multikulturelle Gesellschaft werden wolle.
22Vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015, aaO; Die Welt, Bericht vom 24. Juni 2015, Flüchtlingskrise: Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat, abrufbar unter: http://www.welt.de/143027058; Süddeutsche Zeitung, Bericht vom 24. Juni 2015, Die ungarische Regierung will Flüchtlinge ab sofort aussperren.
23Die mangelnde Bereitschaft der ungarischen Regierung zur Aufnahme von Dublin-Rückkehrern gipfelte schließlich in der am 23. Juni 2015 erfolgten Ankündigung des Regierungschef Orban, das EU Abkommen zur Aufnahme von Flüchtlingen auszusetzen. Begründet wurde diese Entscheidung mit dem Hinweis, dass die Kapazitäten ausgeschöpft seien („Das Boot ist voll“) und die ungarische Interessen sowie die ungarische Bevölkerung geschützt werden müssten.
24Vgl. Die Welt, Bericht vom 24. Juni 2015, Flüchtlingskrise: Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat; aa0; Süddeutsche Zeitung, Bericht vom 24. Juni 2015, aa0.
25Wenn auch diese Ankündigung bereits einen Tag später zurückgenommen wurde, so macht sie doch auf der einen Seite die dramatische Unterbringungssituation für die Flüchtlinge in Ungarn deutlich wie auch auf der anderen Seite die fehlende Bereitschaft staatlicher Stellen, die Aufnahme von Flüchtlingen zu unterstützen und deren menschwürdige Unterbringung zu garantieren. Vielmehr ist zu konstatieren, dass die ungarische Regierung die Politik der Ausgrenzung weiter forciert. Ungeachtet internationaler Kritik hat Ungarn die Regeln für die Einwanderung verschärft. Am Montag, den 6. Juli 2015 verabschiedete das ungarische Parlament eine Verschärfung der gesetzlichen Rahmenbedingungen. Der Zeitrahmen für Asylverfahren wird gekürzt werden. Mit der neuen Rechtslage wird ermöglicht, Asylanträge von Flüchtlingen abzulehnen, die über sichere Transitländer nach Ungarn gereist sind - selbst wenn sie aus Bürgerkriegsländern wie Syrien, Afghanistan oder dem Irak stammen. Vorgesehen ist überdies, dass Asylbewerber zukünftig selbst für Kost und Unterbringung während der Antragsbearbeitung zahlen sollen.
26Vgl. spiegelonline. Überlastetes Asylsystem, aa0; Die Welt, Bericht vom 6. Juli 2015 Zuwanderung: Ungarn zieht Grenzzaun gegen Flüchtlinge hoch, abrufbar unter: http://www.welt.de/143651657.
27Angesichts dieser jüngeren Entwicklungen bestehen ernst zu nehmende Anhaltspunkte für die Annahme, dass das Asylsystem in Ungarn systemische Schwachstellen aufweist. Daher sieht sich das Gericht veranlasst, im vorläufigen Rechtsschutzverfahren – unter Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung - die Erfolgsaussichten der Klage gegen die Abschiebungsanordnung nach Ungarn nach summarischer Prüfung derzeit als offen zu betrachten. Die nähere Prüfung dieser in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht komplexen Fragestellung ist allerdings dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Im vorliegenden Verfahren überwiegt das Aussetzungsinteresse.
28Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVG.
29Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
30Hemmelgarn
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 22 K 1489/15.A gegen Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Februar 2015 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe:
2Der am 25. Februar 2015 sinngemäß gestellte Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 22 K 1489/15.A gegen Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Februar 2015 anzuordnen,
4hat Erfolg.
5Der Antrag ist zulässig und begründet.
6Der Antrag ist nach § 34a Abs. 2 S. 1 AsylVfG zulässig, insbesondere ist die dort bestimmte Antragsfrist von einer Woche nach Bekanntgabe gewahrt.
7Der Antrag ist auch begründet. Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht auf Antrag im Rahmen einer eigenen Ermessensentscheidung die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn das Interesse des Antragstellers an der beantragten Aussetzung der Vollziehung das bezüglich der Abschiebungsanordnung durch § 75 AsylVfG gesetzlich angeordnete öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzbarkeit des Verwaltungsaktes überwiegt. Die dabei vorzunehmende Interessenabwägung geht zu Gunsten des Antragstellers aus. Die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gestützte Abschiebungsanordnung in Ziffer 2 des angefochtenen Bescheides begegnet nach der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
8Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 27a AsylVfG zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Es bestehen erhebliche Zweifel, dass die hierfür erforderlichen Voraussetzungen im vorliegenden Fall derzeit erfüllt sind.
9Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III‑VO). Diese findet gemäß ihres Art. 49 Unterabsatz 2 Satz 1 auf Schutzgesuche Anwendung, die nach dem 31. Dezember 2013 gestellt werden, mithin auch auf den von dem Antragsteller im Dezember 2014 gestellten Asylantrag.
10Nach Art. 13 Abs. 1 der Dublin III‑VO ist die Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des Asylantrages des Antragstellers begründet worden. Nach dieser Norm ist der Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrages zuständig, in den der betreffende Ausländer ausweislich der in dieser Norm genannten Erkenntnismittel aus einem Drittstaat kommend illegal eingereist ist, wenn der Tag des illegalen Grenzübertritts zum maßgeblichen Zeitpunkt der erstmaligen Beantragung internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat (vgl. Art. 7 Abs. 2 Dublin III‑VO) noch nicht länger als zwölf Monate zurückliegt. Die Anfrage im EURODAC-Verzeichnis hat nach Angaben des Bundesamtes in dem an Ungarn gerichteten Übernahmeersuchen am 30. Dezember 2014 ergeben, dass sich der Antragsteller vor seiner Einreise in das Bundesgebiet in Ungarn aufgehalten und dort am 10. November 2014 einen Asylantrag gestellt hat. Es liegen damit hinreichende Indizien dafür vor, dass der Antragsteller aus einem Drittstaat kommend illegal nach Ungarn eingereist ist.
11Die damit anzunehmende Zuständigkeit ist auch nicht nachträglich entfallen. Insbesondere hat das Bundesamt innerhalb der in Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO genannten Frist am 29. Januar 2015 ein Wiederaufnahmegesuch an Ungarn gerichtet.
12Ungarn hat mit Schreiben vom 12. Februar 2015 dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben.
13Ferner ist die Zuständigkeit nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III‑VO wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf die Antragsgegnerin übergegangen. Die Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch Ungarn liegt weniger als sechs Monate zurück.
14Auch kann sich der Antragsteller nicht erfolgreich darauf berufen, die Antragsgegnerin sei verpflichtet, von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Dublin III-VO Gebrauch zu machen, weil ihrer Überstellung nach Ungarn rechtliche Hindernisse entgegenstünden. Die Unmöglichkeit der Überstellung eines Asylbewerbers an einen bestimmten Staat hindert nur die Überstellung dorthin, begründet aber kein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts gegenüber der Antragsgegnerin,
15vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 - C 394/12 -, juris, Rdn. 60, 62 und Urteil vom 14. November 2013 - C 4/11 -, juris, Rdn. 37; BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6/14 -, juris, Rdn. 7.
16Gegenwärtig steht indes nicht im Sinne von § 34a Abs. 1 S. 1 AsylVfG fest, dass die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn durchgeführt werden kann. Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift ist es Aufgabe allein des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu prüfen.
17Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014 - 2 BvR 1795/14-, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 30. August 2011 -18 B 1060/11 -, juris Rn. 4 und vom 3. März 2015 und ‑ 14 B 102/15.A ‑, juris; OVG Niedersachsen, Urteil vom 4. Juli 2012- 2 LB 163/10 -, juris Rn. 41; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. Februar 2012 - OVG 2 S 6.12 -, juris Rn. 4 ff.; VGH Bayern, Beschluss vom 12. März 2014 - 10 CE 14.427 -, juris Rn. 4; OVG des Saarlandes, Beschluss vom 25. April 2014 - 2 B 215/14 -, juris Rn. 7; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 31. Mai 2011 ‑ A 11 S 1523/11 -, juris Rn. 4 ff.; OVG Hamburg, Beschluss vom 3. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, juris Rn. 9 ff.; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 29. November 2004- 2 M 299/04 -, juris Rn. 9 ff.
18Die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist nicht etwa nur zu unterlassen, wenn ein Abschiebungshindernis vorliegt, sondern darf erst dann ergehen, wenn ein solches ausgeschlossen ist ("feststeht, dass sie durchgeführt werden kann").
19Vgl. zum tatsächlichen Abschiebungshindernis der fehlenden Übernahmebereitschaft des Zielstaates: OVG NRW, Beschlüsse vom 3. März 2015 ‑ 14 B 101/15.A ‑ und ‑ 14 B 102/15.A ‑ sowie vom 10. März 2015 ‑ 14 B 162/15.A ‑; Funke-Kaiser in: GK AsylVfG 1992, Loseblattsammlung (Stand: November 2014), § 34a Rn. 20.
20Daran fehlt es hier nach der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung. Denn es gibt wesentliche Gründe für die Annahme, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn gegenwärtig rechtlich unmöglich ist, weil ihm in diesem Falle wegen systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen,
21vgl. zur Definition „systemischer Mängel“ im Einzelnen: Lübbe: „Systemische Mängel“ in Dublin-Verfahren, in: ZAR 2014, 105 ff,; EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris, Rdn. 83 ff., 99; EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 -, NVwZ 2011, 413,
22die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GR-Charta) bzw. Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) droht.
23Systemische Mängel in diesem Sinne können angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen einer Art. 4 EU-GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK entsprechenden Schwere nicht nur in Einzelfällen, sondern strukturell bedingt, eben systemisch, vorliegen. Diese müssen dabei aus Sicht des überstellenden Staates offensichtlich sein. In der Diktion des Europäischen Gerichtshofs dürfen diese systemischen Mängel dem überstellenden Mitgliedstaat nicht unbekannt sein können.
24Vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris, Rdn. 94.
25Die im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem grundsätzlich bestehende Vermutung, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat ist und die Grundrechte von Asylbewerbern einschließlich des Refoulement-Verbots hinreichend achtet, ist nicht unwiderleglich. Vielmehr hat eine Überstellung in einen Mitgliedstaat zu unterbleiben, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Artikel 4 EU-GR-Charta implizieren,
26EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 et al. –, juris, Rdn. 86.
27Eine Widerlegung der Vermutung ist aber wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft: Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder geringste Verstöße gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Das Gericht muss sich vielmehr die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Absatz 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird.
28Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. März 2014 – 10 B 6.14 –, juris, Rdn. 6 ff. m.w.N.
29Vorliegend dürften nach Auffassung des Gerichts zwar auch weiterhin keine hinreichenden Anhaltspunkte für systemische Mängel im oben genannten Sinn hinsichtlich der Aufnahmebedingungen in Ungarn bestehen,
30vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 20. März 2015 – 13 K 501/14. A –, juris; a.A. VG Köln, Urteil vom 15. Juli 2015 – 3 K 2005/15.A -, www.nrwe.de.
31Demgegenüber ergeben sich jedoch hinsichtlich des Asylverfahrens in Ungarn solche hinreichenden Anhaltspunkte aus den am 6. Juli 2015 beschlossenen und zum 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderungen des ungarischen Asylrechts, soweit sie sich aus frei zugänglichen Veröffentlichungen ergeben,
32vgl. Information im englischsprachigen Internetangebot der ungarischen Regierung, http://www.kormany.hu/en/news/government-has-identified-list-of-safe-countries; UNHCR vom 2. Juli 2015, „UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste”, http://www.unhcr.org/559641846.html; aida: „Hungary adopts list of safe countries of origin and safe third countries”, http://www.asylumineurope.org/news/23-07-2015/hungary-adopts-list-safe-countries-origin-and-safe-third-countries; amnesty international: „Hungary: Change to Asylum Law puts tens of thousands at risk”, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2015/07/hungary-change-to-asylum-law-puts-tens-of-thousands-at-risk/; alle abgerufen am 6. August 2015.
33Insbesondere begründet die Aufnahme von Serbien – neben allen anderen an Ungarn angrenzenden Staaten – in die Liste der sicheren Drittstaaten die Gefahr, dass der betroffene Antragsteller keinen Zugang zu einem Asylverfahren erhält, in dem eine inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe vorgenommen würde. Es besteht die Gefahr, dass er bei einer Überstellung nach Ungarn durch die dortigen Behörden ohne inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe nach europäischen Mindeststandards beispielsweise nach Serbien abgeschoben wird. Nach den Feststellungen des Europäischen Kommissars für Menschenrechte ist jedoch jedenfalls hinsichtlich Serbien äußerst zweifelhaft, dass das dortige Asylverfahren und die dortigen Aufnahmebedingungen den europäischen Mindestanforderungen entsprechen,
34vgl. Schreiben an den serbischen Premierminister und Innenminister vom 27. November 2013, https://wcd.coe.int/com.instranet.InstraServlet?command=com.instranet.CmdBlobGet&InstranetImage=2444713&SecMode=1&DocId=2108062&Usage=2, abgerufen am 6. August 2015.
35Damit liegen hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass dem Antragsteller im Falle einer Abschiebung nach Ungarn eine weitere Abschiebung in ein nicht sicheres Drittland und damit letztlich in sein Herkunftsland droht, ohne ihm Zugang zu einem Verfahren auf Zuerkennung internationalen Schutzes zu gewähren, in dem seine Fluchtgründe inhaltlich geprüft werden. Darin läge zugleich ein Verstoß gegen das Refoulement-Verbot zu Lasten des Antragstellers,
36so im Ergebnis auch VG Kassel, Beschluss vom 24. Juli 2015 – 6 L 1147/15.KS.A -, n.v.
37Ob und gegebenenfalls mit welcher Wahrscheinlichkeit eine solche Gefahr für den Antragsteller in seiner persönlichen Situation als Dublin-Rückkehrer tatsächlich besteht, bedarf weiterer Aufklärung im Hauptsacheverfahren.
38Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs.1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 RVG.
39Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 15 K 5237/15.A gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 20. Juli 2015 wird angeordnet, soweit dort unter Ziffer 2 die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn angeordnet ist.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe:
2Das am 27. Juli 2015 bei Gericht eingegangene vorläufige Rechtsschutzgesuch mit dem sinngemäß (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO) gestellten Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 15 K 5237/15.A gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 20. Juli 2015 anzuordnen, soweit dort unter Ziffer 2 die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn angeordnet ist,
4hat Erfolg. Es ist als Anordnungsbegehren gemäß den §§ 123 Abs. 5, 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO zwar, weil der Klage gegen den Ablehnungsbescheid des Bundesamtes nach § 75 Abs. 1 AsylVfG kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung zukommt, statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere ist der Rechtsschutzantrag gegenüber der Abschiebungsanordnung, die auf § 34 a Abs. 1 S. 1 AsylVfG gestützt ist, fristgerecht gestellt. Ausweislich der beigezogenen Verwaltungsvorgänge ist der angegriffene Bundesamtsbescheid gerichtet an den Antragsteller am 23. Juli 2015 zur Post gegeben worden mit der Folge, dass das am 27. Juli 2015 gestellte vorläufige Rechtsschutzgesuch die einwöchige Antragsfrist des § 34 a Abs. 2 S. 1 AsylVfG jedenfalls wahrt.
5Das danach zulässige Rechtsschutzgesuch ist auch begründet.
6Gemäß § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache als Ergebnis einer Interessenabwägung, die in den Fällen des § 34 a Abs. 2 S. 1 AsylVfG nach der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte nicht den Einschränkungen des § 36 Abs. 4 S. 1 AsylVfG unterliegt,
7vgl. hierzu nur mit ausführlicher Darstellung des Gesetzgebungsverfahrens Verwaltungsgericht (VG) Trier, Beschluss vom 18. September 2013, 5 L 1234/13.TR, juris Rdnr. 5 ff. m. w. N.,
8die aufschiebende Wirkung einer Klage ganz oder teilweise anordnen, soweit ihr ‑ wie hier ‑ kein Suspensiveffekt zukommt. Dabei überwiegt das Aussetzungsinteresse des Betroffenen das Interesse der Allgemeinheit an der sofortigen Vollziehung einer Verfügung, wenn entweder der angegriffene Verwaltungsakt rechtswidrig ist, weil an der sofortigen Vollziehung einer solchen Regelung kein öffentliches Interesse besteht, oder aber wenn die angegriffene Regelung bei summarischer Prüfung zwar einer Rechtskontrolle Stand hält, gleichwohl aber das Aufschubinteresse des Betroffenen dem Allgemeininteresse an ihrer sofortigen Vollziehung vorgeht. Die danach gebotene Interessenabwägung fällt hier zu Gunsten des Antragstellers aus. Die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes begegnet bei summarischer Prüfung im hier maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) rechtlich durchgreifenden Bedenken mit der Folge, dass unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Belange des Antragstellers an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung kein öffentliches Interesse besteht.
9Die Abschiebungsanordnung ist wohl nicht rechtsfehlerfrei auf § 34 a Abs. 1 S. 1 AsylVfG gestützt. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 27 a AsylVfG zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind zumindest im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) nicht (länger) erfüllt.
10Ist ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, ist gemäß § 27 a AsylVfG ein Asylantrag unzulässig. Zu Recht hat das Bundesamt hier zur Bestimmung des Staates im Sinne des § 27 a AsylVfG die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III‑VO), herangezogen.
11Gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) Dublin III‑VO ist Ungarn für die Prüfung des Asylantrages des Antragstellers zuständig, nachdem der Antragsteller nach eigenen Angaben Syrien im März 2012 verlassen hat und über die Türkei, Griechenland, Mazedonien und ‑ insoweit durch einen EURODAC-Treffer (HU2 …) bestätigt ‑ Ungarn sowie Österreich am 29. März 2015 in das Bundesgebiet eingereist ist und seit der Ankunft in Ungarn das Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten des Dublin III‑Abkommens nicht wieder verlassen hat. Auch hat Ungarn dem Bundesamt gegenüber auf dessen Anfrage vom 7. Mai 2015 unter dem 12. Juni 2015 schriftlich seine Bereitschaft erklärt, den Antragsteller aufzunehmen.
12Auch ist die Antragsgegnerin nicht verpflichtet, von ihrem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III‑VO Gebrauch zu machen und das Asylgesuch des Antragstellers selbst zu prüfen. Ein subjektives Recht des Asylbewerbers auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts vermittelt diese Vorschrift als Teil der Regelungen der Dublin III‑VO, die ausgerichtet an objektiven Kriterien der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten dienen, für sich genommen nicht.
13Vgl. Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteile vom 10. Dezember 2013, C 394/12, juris Rdnr. 60, 62, und vom 14. November 2013, C 4/11, juris Rdnr. 7; Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 19. März 2014, 10 B 6.14, juris Rdnr. 7.
14Gleichwohl begegnet die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung, die nur dann rechtsfehlerfrei ist, wenn ausgeschlossen werden kann, dass ein Abschiebungshindernis vorliegt,
15vgl. Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 28. April 2015, 22 L 1095/15.A; zum tatsächlichen Abschiebungshindernis der fehlenden Übernahmebereitschaft des Zielstaates: OVG NRW, Beschlüsse vom 3. März 2015, 14 B 101/15.A und 14 B 102/15.A, sowie Beschluss vom 10. März 2015, 14 B 162/15.A.,
16hier rechtserheblichen Bedenken, die der Überprüfung im Hauptsacheverfahren bedürfen.
17Entgegen den Vorgaben des § 34 a Abs. 1 S. 1 AsylVfG steht derzeit nicht fest, dass der Antragsteller nach Ungarn abgeschoben werden kann, weil gewichtige Gründe für die Annahme sprechen, dass die Abschiebung Ungarn im Sinne des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO unmöglich ist, weil der Antragsteller im hier maßgeblichen Prognosezeitraum mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Ungarn wegen systemischer Mängel des dortigen Verfahrens zur Schutzgewährung der ernsthaften Gefahr ausgesetzt sein wird, eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GR-Charta) bzw. Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) zu erfahren.
18Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III‑VO wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der für die Prüfung des Schutzgesuchs zuständige Mitgliedsstaat, wenn eine Überstellung des Schutzsuchenden in den nach Kapitel III der Dublin III‑VO bestimmten Mitgliedsstaat unmöglich ist, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder unwürdigeren Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtscharta mit sich bringen, und nach Kapitel III der Dublin III‑VO kein anderer Mitgliedsstaat als zuständig bestimmt werden kann.
19Die dem gemeinsamen europäischen Asylsystem zu Grunde liegende Vermutung, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat ist und die Grundrechte von Schutzsuchenden einschließlich des Refoulement-Verbots hinreichend beachtet, ist nicht unwiderleglich. Vielmehr hat eine Überstellung in einen Mitgliedstaat zu unterbleiben, wenn die aus Tatsachen abgeleitete Gefahr besteht, dass der Schutzsuchende in dem Mitgliedstaat, in den er überstellt werden soll, entgegen den Vorgaben des Art. 4 EU-Grundrechtscharta bzw. Art. 3 der Konvention unmenschlich oder erniedrigend behandelt werden wird, weil das Verfahren zur Schutzgewährung und die Aufnahmebedingungen für Schutzsuchende im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen. Solche Mängel können allerdings erst dann angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen von einer Art. 4 EU-Grundrechtscharta bzw. Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten entsprechenden Schwere nicht nur in Einzelfällen zu verzeichnen sind, sondern strukturell bedingt sind und dem überstellenden Staates nicht unbekannt sein können.
20Vgl. zum Ganzen: EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2011, C 411/10 u. a., juris Rdnr. 83 ff; Europäischer Gerichtshof für Menschenrecht (EGMR), Urteil vom 21. Januar 2011, 30696/09, juris.
21Insoweit ist damit ist eine Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat rechtlich unzulässig, sofern mit beachtlicher, das heißt überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass der Schutzsuchende dort wegen systemischer Mängel des Verfahrens zur Schutzgewährung oder der Aufnahmebedingungen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird,
22vgl. BVerwG, Urteil vom 19. März 2014, 10 B 6.14, juris Rdnr. 6,
23nicht aber schon dann, wenn der Zielstaat der Überstellung trotz möglicher Mängel in der Durchführung des Schutzverfahrens seine rechtlichen Verpflichtungen jedenfalls soweit erfüllt, dass eine Überstellung des Schutzsuchenden dorthin zumutbar erscheint.
24Vgl. etwa VG Düsseldorf, Beschluss vom 30. Januar 2015, 13 L 58.15.A, VG Berlin, Beschlüsse vom 15. Januar 2015, 23 L 899.14 A, und vom 4. August 2014, 34 L 78.14 A, jeweils juris.
25Gemessen daran liegen zumindest gewichtige Anhaltspunkte tatsächlicher Art vor, die geeignet sein können, eine Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn rechtlich auszuschließen und deshalb einer näheren Überprüfung im Hauptsacheverfahren bedürfen. Namentlich spricht derzeit Vieles dafür, dass der Antragsteller im Fall seiner Überstellung nach Ungarn in dem hier maßgeblichen Prognosezeitraum mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen systembedingter Mängel des Verfahrens zur Schutzgewährung eine Behandlung erfahren wird, die die hier rechtlich allein maßgeblichen Grenzen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bzw. der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verletzt.
26Belastbare Anhaltspunkte für diese Annahme ergeben sich aus den öffentlich zugänglichen Informationen über das in Ungarn am 6. Juli 2015 beschlossene und zum 1. August 2015 in Kraft getretene Gesetz zur Änderung des dortigen Asylrechts.
27Vgl. Hungarian Helsinki Committee, Building A Legal Fence, Changes to Hungarian asylum law jeopardise access to protection in Hungary, Information note, 7 August 2015, abrufbar unter http://helsinki.hu/en/new-asylum-rules-endanger-access-to-protection (Stand: 20 August 2015); Information im englischsprachigen Internetangebot der ungarischen Regierung, http://www.kormany.hu/en/news/government-has-identified-list-of-safe-countries; UNHCR vom 2. Juli 2015, „UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste”, http://www.unhcr.org/559641846.html; aida: „Hungary adopts list of safe countries of origin and safe third countries”, http://www.asylumineurope.org/news/23-07-2015/hungary-adopts-list-safe-countries-origin-and-safe-third-countries; amnesty international: „Hungary: Change to Asylum Law puts tens of thousands at risk”, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2015/07/hungary-change-to-asylum-law-puts-tens-of-thousands-at-risk/; alle abgerufen am 6. August 2015.
28Danach sind nicht nur die Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeiten nach dem Dublin III‑Abkommen und zur Prüfung eines Asylgesuchs in Zuständigkeit des ungarischen Staates sowohl vor den ungarischen Behörden wie vor den ungarischen Gerichten etwa durch die Verkürzung von Fristen und die an Fristversäumnisse angeknüpften Sanktionen sowie neu gefasste Beweislastregeln formell wie materiell in einer Weise verändert worden, die ernsthaft befürchten lässt, dass das ungarische Asylrecht seit dem 1. August 2015 nicht nur etwa hinter den Verfahrensgarantien gemäß den Artikeln 26 ff. Dublin III‑VO und den Vorgaben der Richtlinie 2011/95/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337 vom 20. Dezember 2011, S. 9 ff.) zurückbleibt, sondern die in Ungarn Schutzsuchenden auch in Rechten verletzt, die ihnen auf europäischer Ebene grundrechtlich verbürgt sind. Ferner rechtfertigt die durch die Asylrechtrechtsnovelle bewirkte Aufnahme (insbesondere) Serbiens in den Kreis der aus Sicht des ungarischen Staates sicheren Drittstaaten die ernsthafte Besorgnis, dass Schutzsuchende in Ungarn ohne inhaltliche Prüfung ihrer Fluchtgründe in Staaten abgeschoben werden, für die ‑ wie etwa Serbien ‑,
29vgl. Commissioner for Human Rights, Council of Europe, Schreiben an den serbischen Premierminister und Innenminister vom 27. November 2013, https://wcd.coe.int/com.instranet.InstraServlet?comand=com.instranet.CmdBlobGet&InstranetImage=2444713&SecMode=1&DocId=2108062&Usage=2, abgerufen am 6. August 2015,
30zumindest zweifelhaft ist, dass die dortigen Asylverfahren den europäischen Mindestmindestanforderungen entsprechen und sicherstellen, dass Abschiebungen in andere nicht sichere Drittstaaten oder Rückführungen in das Herkunftsland des Schutzsuchenden unter Verstoß gegen das Refoulement-Verbot ausgeschlossen sind.
31Vgl. zu Letzterem schon Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 6. August 2015, 22 L 2205/15.A, n. v. sowie Beschluss vom 7. August 2015, 22 L 616/15.A, zur Veröffentlichung vorgesehen: www.nrwe.de und juris.
32Dass die zum 1. August 2015 in Ungarn geänderten asylrechtlichen Bestimmungen auf Dublin-Rückkehrer keine Anwendung finden, lässt sich dabei derzeit verlässlich nicht feststellen.
33Die Kostenentscheidung folgt aus den §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG.
34Der Wert des Verfahrensgegenstandes ergibt sich aus § 30 RVG.
35Der Beschluss ist unanfechtbar; § 80 AsylVfG.
Tenor
Der Antrag wird - einschließlich des Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe - abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe:
2Der Einzelrichter ist im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes für die Entscheidung zuständig (§ 76 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG).
3Der am 26. Mai 2015 sinngemäß gestellte Antrag,
4die aufschiebende Wirkung der Klage 8 K 3925/15.A gegen Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. Mai 2015 anzuordnen,
5hat keinen Erfolg.
6Er ist zulässig, insbesondere nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft.
7Der Antragsteller hat auch die Wochenfrist zur Stellung des Antrages gemäß § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG eingehalten. Der Bescheid vom 18. Mai 2015 wurde ihm am 21. Mai 2015 persönlich zugestellt. Der Antragsteller hat am 26. Mai 2015 fristgerecht den Eilantrag bei Gericht gestellt.
8Der Antrag hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
9Die vorzunehmende Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin mit dem privaten Aussetzungsinteresse des Antragstellers hat sich maßgeblich - nicht ausschließlich - an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu orientieren, wie diese sich bei summarischer Prüfung im vorliegenden Verfahren abschätzen lassen.
10Vgl. zum Maßstab Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 1. August 2014 – 8 L 1195/14.A – m.w.N.
11Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zu Lasten des Antragstellers aus, denn der angefochtene Bescheid des Bundesamtes begegnet nach diesem Maßstab keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
12Das Bundesamt hat den Asylantrag des Antragstellers zu Recht gemäß § 27a AsylVfG als unzulässig abgelehnt und geht von der Zuständigkeit Ungarns für dessen Prüfung aus.
13Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In einem solchen Fall prüft die Beklagte den Asylantrag nicht, sondern ordnet die Abschiebung in den zuständigen Staat an (§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG).
14Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin III-Verordnung).
15Gemäß Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-Verordnung wird der Antrag von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständiger Staat bestimmt wird. Lässt sich anhand der Kriterien der Dublin III-Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1 Dublin III-Verordnung der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.
16Nach diesen Maßgaben ist Ungarn als der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig. Eine vorrangige Zuständigkeit nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-Verordnung liegt nicht vor. Die Asylantragstellung in Ungarn ergibt sich aus einem entsprechenden Eurodac-Treffer. Der Antragsteller hat das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten seither nicht verlassen. In diesem Fall ist Ungarn für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig. Nach Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-Verordnung ist Ungarn verpflichtet, den Antragsteller nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 Dublin III-Verordnung wieder aufzunehmen. Ungarn hat der Wiederaufnahme des Antragstellers mit Schreiben vom 22. April 2015 zugestimmt.
17Der Antragsteller hat keinen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-Verordnung.
18Ausgehend von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist ein Mitglied- oder Vertragsstaat unter bestimmten Umständen dazu verpflichtet, von der Rückführung in den an sich zuständigen Mitgliedstaat abzusehen. Das ihm insofern eingeräumte Ermessen ist Teil des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats und stellt ein Element des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems dar. Bei der Ermessensausübung führt der Mitgliedstaat daher Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Europäischen Grundrechtecharta (GRCh) aus. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem stützt sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Europäischen Grundrechtecharta, aber auch der Genfer Flüchtlingskonvention (vgl. Art. 18 GRCh und Art. 78 AEUV). Die Mitgliedstaaten müssen bei ihrer Entscheidung, ob sie von dem Selbsteintrittsrecht Gebrauch machen, diese Grundsätze beachten.
19Vgl. ausführlich EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 u.a., N.S. u.a. -, NVwZ 2012, 417 Rn. 96; Urteil vom 14. November 2013 - C-4/11, Puid -, NVwZ 2014, 170 Rn. 33; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16. April 2014 – A 11 S 1721/13 -, juris Rn. 18; OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 – 1 A 21/12.A -, juris Rn. 28 ff.
20Nach diesem Maßstab liegen keine Voraussetzungen vor, unter denen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Durchbrechung des den Bestimmungen der Dublin III-Verordnung zugrunde liegenden Systems des gegenseitigen Vertrauens gerechtfertigt wäre. Dies setzte voraus, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen in Ungarn aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär wären, dass anzunehmen wäre, dass dem Antragsteller im konkreten Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohte.
21Vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 – 10 B 6/14 –, juris.
22Nach diesem Maßstab liegen systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Ungarn nicht vor.
23Die 13. Kammer des beschließenden Gerichts hat nach Auswertung aktueller Erkenntnisse hierzu im Kammerurteil vom 20. März 2015 (13 K 501/14.A) wie folgt ausgeführt:
24„Systemische Mängel in diesem Sinne können erst angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen einer Artikel 4 EU-GR-Charta bzw. Artikel 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) entsprechenden Gravität nicht nur in Einzelfällen, sondern strukturell bedingt, eben systemisch vorliegen. Diese müssen dabei aus Sicht des überstellenden Staates offensichtlich sein. In der Diktion des Europäischen Gerichtshofs dürfen diese systemischen Mängel dem überstellenden Mitgliedstaat nicht unbekannt sein können,
25EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 et al. –, juris, Rn. 94.
26Die im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem grundsätzlich bestehende Vermutung, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat ist und die Grundrechte von Asylbewerbern einschließlich des Refoulement-Verbots hinreichend achtet, ist nicht unwiderleglich. Vielmehr hat eine Überstellung in einen Mitgliedstaat zu unterbleiben, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Artikel 4 EU-GR-Charta implizieren,
27EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 et al. –, juris, Rn. 86.
28Eine Widerlegung der Vermutung ist aber wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft: Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder geringste Verstöße gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Das Gericht muss sich vielmehr die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Absatz 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird.
29Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. März 2014 – 10 B 6.14 –, juris, Rn. 6 m.w.N.
30Bei der Bewertung der in Ungarn anzutreffenden Umstände der Durchführung des Asylverfahrens und der Aufnahme von Flüchtlingen sind dabei vorliegend diejenigen Umstände heranzuziehen, die auf die Situation des Klägers zutreffen. Abzustellen ist demnach auf die Situation von Flüchtlingen in einer vergleichbaren rechtlichen oder tatsächlichen Lage, wohingegen die Situation von Flüchtlingen in anderen rechtlichen oder tatsächlichen Umständen keine unmittelbare Rolle spielt. Sie kann allenfalls ergänzend herangezogen werden, sofern sich diese Umstände auch auf die Situation des Klägers auswirken (können),
31vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 – 1 A 21/12 –, juris, Rn. 130.
32Damit ist vorliegend in erster Linie die Situation von Dublin-Rückkehren zu betrachten, die wie der Kläger vor der Ausreise aus Ungarn dort bereits einen ersten Asylantrag gestellt haben, über den materiell noch nicht entschieden worden ist.
33Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage in dem zuständigen Mitgliedstaat sind nach der Rechtsprechung des EuGH im Übrigen die regelmäßigen und übereinstimmenden Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen, Berichte der Kommission zur Bewertung des Dublin-Systems und Berichte des UNHCR zur Lage von Flüchtlingen und Migranten vor Ort,
34vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C 411/10 et. al. –, juris, Rn. 90 ff.
35Letzteren Informationen kommt bei der Beurteilung der Funktionsfähigkeit des Asylsystems in dem nach der Dublin II-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat besondere Relevanz zu. Dies entspricht der Rolle, die dem Amt des UNHCR durch die Genfer Flüchtlingskonvention übertragen worden ist, wobei letztere bei der Auslegung der unionsrechtlichen Asylvorschriften zu beachten ist,
36vgl. EuGH, Urteil vom 30. Mai 2013 – C 528/11 –, juris, Rn. 44.
37Für die Frage, ob in Ungarn „systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber“ im Sinne der zitierten Rechtsprechung vorliegen, kommen dabei allerdings vorliegend von vorne herein nur solche Auskünfte und Berichte der genannten Organisationen in Betracht, die sich mit der Sach- und Rechtslage in Ungarn seit dem 1. Juli 2013 befassen. Für den Zeitraum bis zum 30. Juni 2013, insbesondere ab dem 1. Januar 2013, ist in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte davon auszugehen, dass die in den Jahren bis 2012 festgestellten Mängel des ungarischen Asylsystems und der Aufnahmebedingungen durch zwischenzeitliche weitreichende tatsächliche und rechtliche Verbesserungen, insbesondere die vorübergehende Abschaffung der Inhaftierungsmöglichkeiten für Asylbewerber mit Wirkung zum 1. Januar 2013, entfallen sind,
38vgl. EGMR, Urteil vom 6. Juni 2013 – 2283/12 –, juris, Rn. 105, Mohammed gegen Österreich, in Auszügen veröffentlicht unter asyl.net.
39Zum 1. Juli 2013 wurde das Asylsystem Ungarns allerdings erneut verändert. Insbesondere wurden erneut umfassende Gründe für die Inhaftierung von Asylbewerbern, sog. asylum detention – eine durch die für das Asylverfahren zuständige Behörde angeordnete Verwaltungshaft – in das Asylrecht aufgenommen.
40Der EGMR, dessen Rechtsprechung auf der Ebene des (nationalen) Verfassungsrechts als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes dienen kann,
41vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04 –, juris, Rn. 32,
42und dessen Rechtsprechung maßgeblich für die Auslegung der Menschenrechte der EMRK ist, hat mit Urteil vom 3. Juli 2014 das Vorliegen systemischer Mängel in Ungarn unter Berücksichtigung der veränderten Rechtslage verneint. Zur Begründung führte er aus:
43„The country reports showed that there is still a practice of detaining asylum-seekers, and that so-called asylum detention is also applicable to Dublin returnees. The grounds for detention are vaguely formulated, and there is no legal remedy against asylum detention. However, the reports also showed that there is no systematic detention of asylum-seekers anymore, and that alternatives to detention are now provided for by law. The maximum period of detention has been limited to six months. Turning to the conditions of detention, it is noted that while there are still reports of shortcomings in the detention system, from an overall view there seem to have been improvements.
44Moreover, the Court notes that the UNHCR never issued a position paper requesting EU member States to refrain from transferring asylum‑seekers to Hungary under the Dublin II or Dublin III Regulation (compare the situation relating to Greece discussed in M.S.S. v. Belgium and Greece, cited above, § 195, and the UNHCR recommendation of 2 January 2013 to halt transfers to Bulgaria).
45Under those circumstances and as regards the possible detention of the applicant and the related complaints, the Court concludes that in view of the recent reports cited above, the applicant would currently not be at a real and individual risk of being subjected to treatment in violation of Article 3 of the Convention upon a transfer to Hungary under the Dublin Regulation.”
46EGMR, Urteil vom 3. Juli 2014 – 71932/12 –, Mohammadi gegen Österreich, Rn. 68 bis 70.
47Auch das erkennende Gericht vermag nach Auswertung der im vorliegenden Verfahren eingeholten aktuellen Auskünfte des UNHCR, des Auswärtigen Amtes und von Pro Asyl – welche dem EGMR bei seiner Entscheidung nicht vorlagen – nicht festzustellen, dass der Kläger Gefahr liefe, nach seiner Rücküberstellung nach Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Artikel 4 EU-GR-Charta bzw. im Sinne von Artikel 3 EMRK zu unterfallen. Dies ergibt sich aus folgenden rechtlichen und tatsächlichen Erwägungen:
48Artikel 4 EU-GR-Charta bzw. Artikel 3 EMRK normieren das Verbot der Folter und unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung. Eine Behandlung ist „unmenschlich”, wenn sie vorsätzlich und ohne Unterbrechung über Stunden zugefügt wurde und entweder körperliche Verletzungen oder intensives physisches oder psychisches Leid verursacht hat. „Erniedrigend” ist eine Behandlung, wenn sie eine Person demütigt oder erniedrigt, es an Achtung für ihre Menschenwürde fehlen lässt oder sie herabsetzt oder in ihr Gefühle der Angst, Beklemmung oder Unterlegenheit erweckt, geeignet, den moralischen oder körperlichen Widerstand zu brechen. Es kann ausreichen, dass ein Opfer in seinen Augen erniedrigt ist, auch wenn andere das nicht so sehen. Ob Zweck der Behandlung war, das Opfer zu erniedrigen oder zu demütigen, ist zu berücksichtigen, aber auch wenn das nicht gewollt war, schließt das die Feststellung einer Verletzung von Artikel 3 EMRK nicht zwingend aus.
49EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 –, NVwZ 2011, 413, Rn. 220 m.w.N.
50Eine Behandlung in diesem Sinne kann nach den Ergebnissen der Beweisaufnahme zumindest nicht positiv festgestellt werden.
51Zwar hat sich nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen bestätigt, dass Dublin-Rückkehrer flächendeckend – so der UNHCR – bzw. regelmäßig – so Pro Asyl – inhaftiert werden.
52Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014 zu Frage 3, Seite 2; Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 3 b), Seite.
53Indes begründet die Tatsache, dass das ungarische Asylrecht seit der erneuten Rechtsänderung zum 1. Juli 2013 – wieder – Inhaftierungsgründe für Asylbewerber enthält und Ungarn auf dieser Grundlage praktisch alle Dublin-Rückkehr – so der UNHCR – bzw. regelmäßig, allerdings nicht sämtliche Dublin-Rückkehrer – so Pro Asyl – inhaftiert, für sich genommen noch keinen begründeten Anhaltspunkt für das Vorliegen systemischer Mängel des Asylsystems. Vielmehr verpflichtet Artikel 3 EMRK die Mitgliedstaaten, sich zu vergewissern, dass die Bedingungen der Haft mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar sind und dass Art und Methode des Vollzugs der Maßnahme den Gefangenen nicht Leid oder Härten unterwirft, die das mit einer Haft unvermeidbar verbundene Maß an Leiden übersteigt, und dass seine Gesundheit und sein Wohlbefinden unter Berücksichtigung der praktischen Bedürfnisse der Haft angemessen sichergestellt sind.
54Vgl. EGMR, Urteile vom 21. Januar 2011 – 30696/09 –, juris, Rn. 221, und 15. Juli 2002 – 47095/99 –, Rn. 95.
55Die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (AufnahmeRL), enthält für die Inhaftierung von Asylbewerbern Mindeststandards, zu denen auch die Benennung von Haftgründen gehört. Anhaltspunkte dafür, dass diese Mindeststandards ihrerseits nicht genügen, um die Asylbewerber vor einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung zu schützen, liegen dem Gericht nicht vor. Danach darf Haft nicht allein deswegen angeordnet werden, weil der Betroffene einen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes gestellt hat, sondern nur in Ausnahmefällen, insbesondere zur Überprüfung seiner Identität oder Staatsangehörigkeit, im Falle notwendiger Beweissicherung, insbesondere bei Fluchtgefahr, zur Prüfung des Einreiserechts, zur Durch- oder Fortführung eines Abschiebeverfahrens, wenn die Gefahr der Verzögerung oder der Vereitelung durch den Betroffenen besteht und bei Gefahr für die nationale Sicherheit und Ordnung (Artikel 8 Absatz 1 und 3 AufnahmeRL). Die Inhaftierung darf nur für den kürzest möglichen Zeitraum und nur so lange, wie die Gründe gemäß Artikel 8 Absatz 3 bestehen, angeordnet werden (Artikel 9 Absatz 1 Satz 1 AufnahmeRL). Die Haftanordnung ist zu begründen (Artikel 9 Absatz 2 AufnahmeRL); bei einer Anordnung durch eine Verwaltungsbehörde ist eine zügige Überprüfung durch ein Gericht herbeizuführen (Artikel 9 Absatz 3 AufnahmeRL). In diesem Fall soll dem Betroffenen unentgeltlicher Rechtsbeistand zur Verfügung stehen (Artikel 9 Absatz 6 AufnahmeRL). Auch im Übrigen ist eine turnusmäßige Haftüberprüfung von Amts wegen vorzusehen (Artikel 9 Absatz 5 AufnahmeRL). Die Schutzsuchenden sind in speziellen Hafteinrichtungen unterzubringen, auf jeden Fall aber getrennt von gewöhnlichen Strafgefangenen (Artikel 10 Absatz 1 AufnahmeRL). Die Inhaftierung von besonders schutzbedürftigen Personen ist nur im Ausnahmefall und unter weiteren sehr eingeschränkten Bedingungen zulässig (Artikel 11 AufnahmeRL).
56Dahingestellt bleiben kann, wann ein Verstoß gegen diese Mindeststandards die Annahme systemischer Mängel indiziert, da die gesetzlichen Regelungen Ungarns zur Inhaftierung von Asylbewerbern (Act LXXX of 2007 on Asylum, im Folgenden: Asylum Act Hungary) den vorstehend genannten Vorgaben im Wesentlichen gerecht werden:
57Gemäß § 31/B Absatz 1 Asylum Act Hungary darf eine Inhaftierung nicht alleine deswegen erfolgen, weil die Antragsteller einen Asylantrag gestellt haben. Die in § 31/A Absatz 1 Asylum Act Hungary genannten Haftgründe entsprechen ganz überwiegend denen des Artikel 8 Absatz 3 der AufnahmeRL; insbesondere wird auch die Fluchtgefahr als ein Haftgrund genannt (Buchstabe c). Dabei darf entsprechend den Vorgaben der AufnahmeRL nach § 31/A Absatz 3 des ungarischen Gesetzes eine Inhaftierung nur aufgrund einer individuellen Ermessensentscheidung erfolgen und nur, wenn nicht durch andere Maßnahmen sichergestellt werden kann, dass der Asylbewerber sich dem Asylverfahren nicht entzieht. Unbegleitete Minderjährige dürfen gemäß § 31/B Absatz 2 Asylum Act Hungary nicht inhaftiert werden; Familien mit Minderjährigen dürfen nur ultima ratio inhaftiert werden, wobei das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen ist. Gemäß § 31/A Absatz 10 Asylum Act Hungary soll Asylhaft nur in speziellen Einrichtungen vollzogen werden. Dabei soll die Inhaftierung von Männern und Frauen sowie Familien mit Minderjährigen jeweils getrennt erfolgen (§ 31/F Absatz 1 Asylum Act Hungary). Die zulässige Höchstdauer von Asylhaft regelt § 31/A Absatz 7 Asylum Act Hungary. Danach soll die Haft maximal sechs Monate dauern; bei Familien mit Kindern nicht länger als 30 Tage. Gemäß § 31/A Absatz 6 Asylum Act Hungary kann die Flüchtlingsbehörde innerhalb von 24 Stunden seit der Haftanordnung die Verlängerung der Inhaftierung auf mehr als 72 Stunden bei dem örtlich zuständigen Amtsgericht beantragen. Das Gericht kann die Haftdauer sodann auf höchstens 60 Tage verlängern. Eine Verlängerung auf weitere 60 Tage ist nach einem erneuten Antrag der Flüchtlingsbehörde durch das zuständige Amtsgericht möglich. Hieraus folgt, dass eine Überprüfung der Inhaftierung von Amts wegen nach 72 Stunden und anschließend nach 60 Tagen erfolgt. Darüber hinaus besteht gemäß § 31/C Absatz 3 Asylum Act Hungary die Möglichkeit gegen die Inhaftierung Einspruch einzulegen. Gemäß § 31/E Absatz 1 Asylum Act Hungary sollen inhaftierte Asylbewerber über ihre Rechte und Pflichten in ihrer Muttersprache oder einer anderen Sprache, die sie verstehen können, informiert werden. Gemäß § 31/D Absatz 4 Asylum Act Hungary soll das Gericht einen Vormund bestellen, wenn der Asylbewerber kein ungarisch spricht und nicht in der Lage ist seine Vertretung durch einen Bevollmächtigten sicherzustellen. § 31/A Absatz 8 Asylum Act Hungary zählt schließlich auf, in welchen Fällen die Inhaftierung unverzüglich zu beenden ist. Danach endet die Haft unter anderem, wenn der Haftgrund entfallen ist.
58Ausreichende Anhaltspunkte dafür, dass die ungarischen Behörden diese Vorgaben bei ihrer Entscheidung über die Inhaftierung von Asylbewerbern – speziell Dublin-Rückkehrern – nicht nur in Einzelfällen, sondern systemisch nicht beachten und sich hieraus eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im oben genannten Sinne ergibt, liegen nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht vor.
59Das Gericht hat im Rahmen der Beweisaufnahme unter anderem danach gefragt, auf welche konkreten Haftgründe die Inhaftierungen seit dem 1. Juli 2013 gestützt werden (Frage 4).
60Pro Asyl gab an, dass laut dem Hungarian Helsinki Committee (HHC) in der Praxis vor allem der Haftgrund „risk of absconding“ (c) bzw. der Haftgrund „risk of absconding“ in Verbindung mit „establishment of identiy“ (a) Anwendung finde. Weiterhin würden Inhaftierungen auf dem Haftgrund „previous absconding“ (b) basieren.
61Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 4, Seite 3.
62Bei diesen Haftgründen, welche dazu dienen, einer bestehende Fluchtgefahr zu begegnen oder die Identität des Asylbewerbers festzustellen, handelt es sich um Haftgründe, die den in Artikel 8 Absatz 3 AufnahmeRL genannten entsprechen. Allerdings hat Pro Asyl im Rahmen der Beantwortung von Frage 9 unter Bezugnahme auf die Ausführungen des HHC angegeben, dass in der Mehrheit der Haftanordnungen weiterhin auf Gründe verwiesen werde, die nicht unter die im „Asylum Act“ definierten Haftgründe fallen würden. Das HHC führt diesbezüglich auf Seite 6 der „INFORMATION NOTE ON ASYLUM-SEEKERS IN DETENTION AND IN DUBLIN PROCEDURES IN HUNGARY“ von Mai 2014 aus, dass viele Entscheidungen verschiedene Umstände und Gründe benennen würden, die oftmals über die zulässigen Haftgründe nach dem Asylum Act Hungary hinausgingen. Beispielsweise genannt werden der unrechtmäßige Aufenthalt, die Einreise auf irreguläre Weise, das Fehlen ausreichender finanzieller Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts und das Fehlen von Verbindungen nach Ungarn. Dahingestellt bleiben kann, inwieweit die vorstehend genannten Beispiele unter einen der in Artikel 8 Absatz 3 AufnahmeRL bzw. § 31/A Absatz 1 Asylum Act Hungary genannten Haftgründe subsumiert werden können. Zunächst liegen dem Gericht keine Erkenntnisse vor, wonach diese Haftgründe auch bei Dublin-Rückkehrern angewandt werden. Sodann bestehen nach dem oben Ausgeführten tragfähige Anhaltspunkte, die die häufige Heranziehung des auch in der AufnahmeRL aufgeführten Haftgrundes der Fluchtgefahr belegen. Schließlich lässt sich jedenfalls nicht allein aus einer etwaigen europarechtswidrigen Annahme eines Haftgrundes ohne weiteres auf das Vorliegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Artikel 3 EMRK bzw. Artikel 4 EU-GR-Charta schließen. Entscheidend ist vielmehr, dass das ungarische Recht den Asylbewerbern in solchen Fällen ermöglicht, sich gegen eine unrechtmäßige Inhaftierung zu wehren.
63Zwar gibt es gemäß § 31/C Absatz 2 Asylum Act Hungary keine individuellen Rechtsmittel, sondern gemäß Absatz 3 nur die Möglichkeit eines Einspruchs („objection“), gegen die Haftanordnung.
64Vgl auch Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 11, Seite 9 und Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014 zu Frage 11, Seite 7.
65Dahingestellt bleiben kann, inwieweit dieser Rechtsbehelf hinreichenden Rechtschutz zu gewähren vermag. Denn die Asylbewerber haben jedenfalls die Möglichkeit, die Rechtswidrigkeit ihrer Inhaftierung im Rahmen der von Amts wegen erfolgenden Überprüfung nach 72 Stunden bzw. 60 Tagen vor dem Amtsgericht geltend zu machen. Anhaltspunkte dafür, dass diese Fristregelungen gegen Artikel 9 Absatz 3 AufnahmeRL – der seinerseits keine konkreten Fristvorgaben enthält – verstoßen und/oder diese Vorgaben in der Praxis nicht umgesetzt werden, sind nicht ersichtlich. Ebenso wenig steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die vorgeschriebenen gerichtlichen Haftüberprüfungen nicht geeignet sind, den Asylbewerbern effektiven Rechtschutz zu gewähren. Zwar kritisieren Pro Asyl und der UNHCR, dass es in der Praxis so gut wie nie zu einer Entlassung komme.
66Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 11, Seite 10 und Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014 zu Frage 11, Seite 7.
67Zum einen konnte keine der drei befragten Organisationen verlässliche Auskünfte zu der Frage, wie viele der nach dem 1. Juli 2013 erlassenen Anordnungen von Asylhaft aufgrund der bestehenden Rechtschutzmöglichkeiten tatsächlich aufgehoben worden sind, geben.
68Vgl. die Antworten des Auswärtigen Amtes, UNHCR und von Pro Asyl zu Frage 12 des Beweisbeschlusses.
69Zum anderen ließe sich allein aus einer geringen Erfolgsquote der Rechtsbehelfe auch nicht ohne weiteres darauf schließen, dass die ungarischen Gerichte keinen effektiven Rechtschutz gewährleisten. Dass derartige Haftprüfungsanträge durch die Gerichte angeblich mit schematisierten Entscheidungen abgelehnt werden und die Verhandlungen nur wenige Minuten dauern, muss nicht bedeuten, dass diese Rechtsbehelfe nicht individuell geprüft würden. Vielmehr kann in Haftsachen, die Massenverfahren darstellen, aus Gründen der Vereinfachung auch eine individuelle richterliche Überprüfung zu einer schematisierten Begründung führen, wenn das Gericht keine besonders begründungsbedürftigen Umstände des Einzelfalles angenommen hat, ohne dass grundlegende rechtsstaatliche Garantien verletzt wären; die Annahme von (fortbestehender) Fluchtgefahr bei Personen, die sich dem Asylverfahren bereits in der Vergangenheit entzogen haben, erscheint dem erkennenden Gericht zumindest nicht unvertretbar.
70Vgl. Verwaltungsgericht Würzburg, Urteil vom 23. September 2014 – W 1 K 14.50050 –, juris, Rn. 37.
71Gleichfalls steht nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Inhaftierung von Dublin-Rückkehrern in der Praxis entgegen den Vorgaben des Artikel 8 Absatz 2 AufnahmeRL und § 31/A Absatz 2 Asylum Act Hungary erfolgt. Danach dürfen die Mitgliedstaaten in Fällen, in denen es erforderlich ist, auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung den Antragsteller in Haft nehmen, wenn sich weniger einschneidende Maßnahmen nicht wirksam anwenden lassen.
72Zwar spricht vieles dafür, dass die Haftanordnung regelmäßig schematisch erfolgt und eine auf den konkreten Einzelfall bezogene Argumentation unter Abwägung der Rechts- bzw. Verhältnismäßigkeit in der Regel nicht stattfindet.
73Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 9, Seite 8.
74Indes lässt sich daraus bereits nicht ableiten, dass eine Einzelfallprüfung auch tatsächlich nicht stattgefunden hat. Vielmehr erscheint es dem Gericht nachvollziehbar, dass die Haftanordnungen größtenteils inhaltlich identisch aussehen und von einer individuellen Begründung absehen, da die Haftanordnung bei Dublin Rückkehrern regelmäßig auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt wird. Vor dem Hintergrund, dass die Dublin-Rückkehr bereits einmal aus Ungarn geflohen sind, erscheint diese Annahme auch nicht willkürlich (s.o.).
75Ungeachtet dessen widerlegt die Tatsache, dass es auch Fälle gibt, in denen die Haftanordnung auch individuelle Einzelheiten berücksichtigt,
76vgl. HHC “INFORMATION NOTE ON ASYLUM-SEEKERS IN DETENTION AND IN DUBLIN PROCEDURES IN HUNGARY“, Seite 6,
77die Annahme der fehlenden individuellen Einzelfallprüfung. Auch spricht für die Durchführung einer Einzelfallprüfung, dass Familien und besonders schutzbedürftige Personen in der Regel nicht inhaftiert werden, obwohl die Inhaftierung dieser Personengruppen ebenfalls rechtlich möglich wäre.
78Vgl. Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014 zu Frage 6, Seite 6.
79Zudem wird zumindest auch in vereinzelten Fällen von den im ungarischen Recht vorgesehenen Haftalternativen Gebrauch gemacht. Laut dem HHC sei in 13 der 107 untersuchten Haftentscheidungen begründet worden, warum nicht auf Haftalternativen zurückgegriffen worden sei. Im Zeitraum vom 1. Juli 2013 bis zum 17. April 2014 sei in 32 Fällen eine Kaution angeordnet worden. Die Betroffenen seien vorab gefragt worden, ob sie Geld besäßen bzw. jemand Geld schicken könne.
80Vgl. Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014 zu Frage 10, Seite 9; dem UNHCR liegen hierzu keine Informationen vor.
81Daraus geht hervor, dass die gesetzlich vorgesehenen Haftalternativen in der Praxis –wenn auch nur in Ausnahmefällen – tatsächlich angewendet werden. Dass die Anzahl von Fällen, in denen eine Kaution angeordnet wurde, gering ausfällt überrascht das Gericht nicht, da Flüchtlinge in der Regel nicht über entsprechende finanzielle Mittel verfügen werden, um eine Kaution in Höhe von 962,00 und 2.000,00 Euro bezahlen zu können.
82Vgl. Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014 zu Frage 10, Seite 9.
83Unter Berücksichtigung der Funktion einer Kaution als eine Sicherheitsleistung, welche nur bei einer gewissen – für den Betroffenen spürbaren – Höhe erfüllt werden kann, bestehen keine Bedenken gegen die geforderte Höhe. Auch spricht der Umstand, dass die Höhe der geforderten Kaution variiert, dafür, dass die Höhe der Kaution im jeweiligen Einzelfall entsprechend der wirtschaftlichen Verhältnisse des Inhaftierten festgesetzt wird.
84Aus den vorstehenden Ausführungen folgt überdies, dass die Haftanordnung in Übereinstimmung mit Artikel 9 Absatz 2 AufnahmeRL schriftlich unter Angabe der sachlichen und rechtlichen Gründe für die Haft, die letztlich eine Überprüfbarkeit gewährleisten, ergeht. Diese werden den Asylsuchenden auch verbal übersetzt.
85Vgl. Auskunft Pro Asyl an das Verwaltungsgericht München vom 30. Oktober 2014 zu Frage 1.
86Damit wird dem durch Artikel 5 Absatz 2 EMRK gewährleisteten Recht eines jeden Festgenommenen auf Unterrichtung hinreichend entsprochen. Eine mündliche Unterrichtung genügt insoweit.
87Vgl. Dörr, in: Grote/Marahun, EMRK/GG, S. 574, Rn. 36.
88Auch aus den Erkenntnissen des Gerichts zur Haftdauer lässt sich keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung von Dublin-Rückkehrern ableiten. Vielmehr steht die Rechtslage und tatsächlich gelebte Praxis in Ungarn auch insoweit in Einklang mit den europarechtlichen Vorgaben. Laut Auskunft von Pro Asyl beobachtete das HHC in der Vergangenheit, dass die maximale Haftdauer von sechs Monaten in vielen Fällen ausgeschöpft worden sei. Seit Kurzem würden inhaftierte Asylsuchende aus der Asylhaft entlassen, sobald das OIN im „in-merit procedure“ über das Asylgesuch entschieden hat und zwar auch dann, wenn diese Entscheidung negativ ausgefallen sei und der Betroffene Rechtmitte eingelegt habe. Demgegenüber ist nicht ersichtlich, dass die Höchstgrenze der zulässigen Haftdauer überschritten wird.
89vgl. Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 2 Buchstabe, Seite 2.
90Es erscheint zumindest nicht unvertretbar, bei Dublin-Rückkehrern anzunehmen, dass der Haftgrund der Fluchtgefahr – bis zu einer Entscheidung über das Asylbegehren bzw. unter Umständen auch nach einer ablehnenden Entscheidung – fortlaufend gegeben ist.
91Vgl. Verwaltungsgericht Stade, Beschluss vom 14. Juli 2014 – 1 B 862/14 –, juris, Rn. 15.
92Hinzu kommt, dass die Inhaftierung von Amts wegen alle 60 Tage überprüft wird (s.o.), die Asylbewerber mithin die Möglichkeit haben, ihre Inhaftierung auf die fortbestehende Rechtmäßigkeit hin überprüfen zu lassen.
93Schließlich kann das Gericht den aktuellen Auskünften nicht entnehmen, dass die konkreten Haftbedingungen in Ungarn systemisch eine unmenschliche, erniedrigende Behandlung der Dublin-Rückkehrer darstellen.
94Hinsichtlich der Haftbedingungen in den Asylhaftanstalten liegen dem Gericht im Wesentlichen die folgenden Erkenntnisse vor:
95Die Asylhafteinrichtungen seien nicht überbelegt. Die gesetzliche Mindestvorgabe von 5 m² pro Person werde in allen Einrichtungen gewahrt. Asylbewerber könnten sich innerhalb der Hafteinrichtungen zwischen 6 und 23 Uhr frei bewegen. Außerhalb der Einrichtungen, auf dem Weg zum Krankenhaus oder zum Gericht, würden die Asylbewerber hingegen an einer Leine geführt. Zur Freizeitgestaltung gebe es in den Hafteinrichtungen Computerräume mit Internetzugang, Fitnessräume und Gemeinschaftsräume, in denen ein Fernseher stehe. Bezüglich der hygienischen Verhältnisse in den Asylhafteinrichtungen lägen Mängel vor. In Békéscaba hätten einige der Toiletten keine Türen gehabt und einige Wasserhähne würden nicht funktionieren, weshalb der Zugang zu warmen Wasser nicht immer gewährleistet sei. In Nyírbátor habe eine unzureichende Versorgung mit Putzutensilien und Reinigungsmitteln zur Reinigung der Toiletten und Duschen stattgefunden. Der Waschraum im ersten Stock sei permanent dreckig gewesen und würde stinken. Auch sei das Wasser von mangelhafter Qualität gewesen, was zu Hautausschlägen geführt habe. In Debrecen seien Duschen im zweiten Stock häufig verstopft und daher unbenutzbar gewesen. Eine Versorgung mit Lebensmitteln erfolge entsprechend einer Verordnung des Innenministeriums. Religiöse und medizinische Besonderheiten würden in der Regel berücksichtigt. Kritisiert werde aber die schlechte Qualität des Essens. Eine medizinische Grundversorgung werde gewährleistet, auch wenn diese oft als unzureichend empfunden werde. Sanitäter bzw. Krankenschwestern seien permanent anwesend; Allgemeinmediziner würden die Einrichtungen zweitweise besuchen. In schwerwiegenden Fällen könne eine Zuweisung zu den Allgemein- oder Spezialeinrichtungen des Gesundheitssystems erfolgen. Die Kosten der Behandlung trage der ungarische Staat bzw. seine Gesundheitseinrichtung. In der Aufnahmeeinrichtung Békéscaba werde zudem psychologische Betreuung durch Spezialisten und Psychologen der Cordelia Stiftung gewährt.
96Vgl. Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 31. Oktober 2014 zu Frage 5 b) bis f), Seite 3 ff.; Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 30. September 2014 zu Frage 5 b) bis f), Seite 3 f.; Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 19. November 2014 zu Frage 5 b) bis f), Seite 3 f.; HHC “INFORMATION NOTE ON ASYLUM-SEEKERS IN DETENTION AND IN DUBLIN PROCEDURES IN HUNGARY“, S. 15 ff.
97Obschon das Gericht nicht verkennt, das Defizite in den Haftbedingungen bestehen, erreichen diese jedenfalls nicht das erforderliche Mindestmaß an Schwere, um von systemischen Mängeln in dem geschilderten Sinne ausgehen zu können. Die Beurteilung dieses Mindestmaßes ist relativ und hängt von allen Umständen des Einzelfalls ab, wie die Dauer der Behandlung und ihre physischen und psychischen Wirkungen und manchmal das Geschlecht, das Alter und der Gesundheitszustand des Opfers.
98Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 – M.S. S./Belgien u. Griechenland, Rn. 219.
99Die vorstehend genannten hygienischen, medizinischen und sonstigen Mängel in den Asylhaftanstalten, insbesondere auch die Vorfälle, in denen Asylbewerber von „armed security guards“ misshandelt worden sind, sind zwar nicht zu vernachlässigen. Indes lässt sich daraus nicht ableiten, dass die inhaftierten Asylbewerber in Ungarn nicht nur vereinzelt, sondern gerade systematisch einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterliegen. Vielmehr zeigt ein Vergleich mit der früheren Lage in Ungarn, dass zwischenzeitlich weitreichende tatsächliche und rechtliche Verbesserungen eingetreten sind.
100So auch EGMR, Urteil vom 3. Juli 2014 – 71932/12 – Mohammadi gegen Österreich, Rn. 68.
101Soweit die Bedingungen in einzelnen Aufnahmeeinrichtungen noch verbesserungswürdig sind, ist darauf hinzuweisen, dass einzelne Missstände, die in bestimmten Aufnahmeeinrichtungen auftreten, das Asyl- und Aufnahmesystem nicht insgesamt tangieren. Auch der Umstand, dass sich die Situation in Ungarn deutlich schlechter darstellen mag als in der Bundesrepublik Deutschland, begründet für sich keinen systemischen Mangel.
102Vgl. EGMR, Urteil vom 3. Juli 2014 – 71932/12 – Mohammadi gegen Österreich, Rn. 69; Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 30. Januar 2015 – 13 L 58/15.A –, juris, Rn. 43 m.w.N.
103Lediglich ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass der UNHCR – auch nach einer intensiven Auseinandersetzung mit der Inhaftierungspraxis Ungarns infolge der durch das Gericht veranlassten Beweisaufnahme – keine systemischen Mängel des Asylverfahrens oder Aufnahmebedingungen in Ungarn explizit festgestellt und keine generelle Empfehlung ausgesprochen hat, im Rahmen des Dublin-Verfahrens Asylbewerber nicht nach Ungarn zu überstellen. Dem Fehlen einer solchen generellen Empfehlung des UNHCR kommt insoweit besondere Bedeutung zu. Denn die vom Amt des UNHCR herausgegebenen Dokumente sind im Rahmen der Beurteilung der Funktionsfähigkeit des Asylsystems in einem Mitgliedstaat angesichts der Rolle, die dem UNHCR durch die – bei der Auslegung des unionsrechtlichen Asylverfahrensrechts zu beachtende – Genfer Flüchtlingskonvention übertragen worden ist, besonders relevant.
104So auch Verwaltungsgericht Augsburg, Beschluss vom 26. Januar 2015 – Au 7 S 15.50015 –, juris, Rn. 31.
105Schließlich liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass Dublin-Rückkehrer entgegen des Refoulement-Verbots ohne eine Entscheidung über ihren Asyl(folge)antrag in ihr Herkunftsland abgeschoben werden, wenn – wie vorliegend – über den Asylantrag des Asylbewerbers noch nicht entschieden worden ist, weil dieser infolge des Verlassens Ungarns während des Asylverfahrens als zurückgenommen gilt.
106Vgl. Auskunft von Pro Asyl an das Verwaltungsgericht München vom 31. Oktober 2014 zu Frage 2, Seite 2 f.; HHC “INFORMATION NOTE ON ASYLUM-SEEKERS IN DETENTION AND IN DUBLIN PROCEDURES IN HUNGARY“, S. 20.
107Dass das Asylverfahren des Klägers in Ungarn eingestellt worden ist, ohne dass über seinen Asylantrag entschieden worden ist, steht zur Überzeugung des Gerichts aufgrund der auf Artikel 16 Absatz 1 Buchstabe c) Dublin II-VO gestützten Zustimmung Ungarns zur Übernahme des Klägers fest. Danach ist ein Mitgliedstaat verpflichtet einen Drittstaatangehörigen oder einen Staatenlosen, der seinen Antrag während der Antragsprüfung zurückgezogen und in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats befindet nach Maßgabe des Artikel 20 wieder aufzunehmen.
108Steht nach alldem nicht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass das ungarische Asylverfahren an systemischen Mängeln leidet, geht dieser Umstand – nach den Grundsätzen der materiellen Beweislast – zu Lasten des Klägers. Bereits aus dem eingangs dargestellten Erfordernis, dass sich das Gericht zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Absatz 1 Satz 1 VwGO) verschaffen muss, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird (S. 10),
109BVerwG, Beschluss vom 15. April 2014 – 10 B 16.14 –, juris, S. 5,
110folgt, dass es zu Lasten des Asylbewerbers geht, wenn das Gericht – wie vorliegend – nicht zu dieser Überzeugungsgewissheit gelangt. Gleiches ergibt sich auch aus der Diktion des EuGH, wonach ein Asylbewerber seiner Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat nur damit entgegentreten kann, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht (Hervorhebung durch das Gericht), die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Artikel 4 der Charta ausgesetzt zu werden.
111Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 –, juris, Rn. 62.“
112Dem hat sich die beschließende Kammer angeschlossen.
113Vgl. Verwaltungsgericht Düsseldorf, Urteile vom 9. Juli 2015 – 8 K 326/15.A -, vom 2. Juli 2015 – 8 K 513/15.A – und vom 25. Juni 2015 – 8 K 555/15.A -; Beschlüsse vom 8. Juli 2015 – 8 L 2139/15.A -, vom 6. Juli 2015 – 8 L 1148/15.A – und vom 13. April 2015 – 8 L 94/15.A –, juris.
114Die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylVfG ist ebenfalls rechtmäßig. Nach dieser Norm gilt: Soll der Ausländer – wie hier – in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a) abgeschoben werden, ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
115OVG NRW, Beschlüsse vom 8. Juni 2015 – 14 A 1233/15.A –, vom 28. April 2015 - 14 B 502/15.A – und vom 3. März 2015 - 14 B 102/15.A -, jeweils juris.
116Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Ungarn hat der Wiederaufnahme des Antragstellers mit Schreiben vom 22. April 2015 ausdrücklich zugestimmt. Es ist weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass Ungarn der Verpflichtung zur Wiederaufnahme des Antragstellers nicht nachkommen wird.
117Dies gilt auch unter Berücksichtigung aktueller Pressemeldungen, wonach Ungarn keine Flüchtlinge auf der Grundlage der Dublin III-Verordnung mehr zurücknehme, da sich diese Ankündigung nur auf Flüchtlinge bezieht, die – anders als der Antragsteller – über Griechenland in die Europäische Union eingereist sind und die andere EU-Staaten „irrtümlich“ nach Ungarn überstellen wollen.
118http://www.sueddeutsche.de/politik/2.220/nach-kritik-aus-bruessel-ungarn-rudert-bei-aufnahmestopp-fuer-asylsuchende-zurueck-1.2536039; http://www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/dublin-iii-abkommen-ungarn-nimmt-fluechtlinge-weiter-auf-13665801.html.
119Nichts anderes ergibt sich schließlich aus der Email der Hungarian Dublin Unit vom 29. Mai 2015, in der die anderen EU-Staaten gebeten werden, an bestimmten Tagen bis Anfang August 2015 wegen begrenzter Kapazitäten keine Überstellungen nach Ungarn zu planen, da zahlreiche Wochentage hiervon nicht erfasst sind.
120Verwaltungsgericht Düsseldorf, Urteile vom 2. Juli 2015 – 8 K 513/15.A – und vom 25. Juni 2015 – 8 K 555/15.A -.
121Es bestehen auch im übrigen keine Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung, insbesondere besteht kein innerstaatliches Abschiebungshindernis.
122Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe kommt nicht in Betracht, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den vorstehenden Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).
123Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG.
124Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 RVG.
125Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 2 K 1422/15.A des Antragstellers gegen die in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Mai 2015 enthaltene Abschiebungsanordnung nach Ungarn wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
G r ü n d e
2Der Antrag des Antragstellers,
3die aufschiebende Wirkung seiner Klage 2 K 1422/15.A gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 12. Mai 2015, zugestellt am 18. Juni 2015, anzuordnen,
4ist zulässig und begründet.
5Im Rahmen der in Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotenen Abwägung zwischen dem privaten Interesse des Antragstellers an einem Verbleib in Deutschland bis zum Abschluss des Klageverfahrens und dem öffentlichen Interesse an einem Vollzug der auf § 34a Abs. 1 AsylVfG gestützten Anordnung der Abschiebung nach Ungarn im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 12. Mai 2015 überwiegt unter Berücksichtigung aller derzeit erkennbaren Umstände das Aussetzungsinteresse. Denn es lässt sich nicht mehr mit der in Verfahren der vorliegenden Art hinreichenden Wahrscheinlichkeit annehmen, dass sich der auf §§ 27a, 34a AsylVfG gestützte Bundesamtsbescheid im Ergebnis als rechtmäßig erweisen wird. Deshalb wäre mit einem sofortigen Vollzug des umstrittenen Bundesamtsbescheides eine unbillige Härte für den Antragsteller verbunden (vgl. zum Prüfungsmaßstab § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO).
6Nach § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt in einem solchen Fall die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
7Zwar ist die Antragsgegnerin zutreffend davon ausgegangen, dass Ungarn grundsätzlich der für die Durchführung des Asylverfahrens zuständige Mitgliedsstaat ist. Die ungarischen Behörden haben auf das Wiederaufnahmegesuch der Bundesrepublik Deutschland mit Schreiben vom 10. April 2015 ihre Zuständigkeit gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin II-VO) für die Bearbeitung des Asylantrags des Antragstellers erklärt.
8Allerdings kann nach Einschätzung des Gerichts unter Berücksichtigung des vorliegenden neueren Erkenntnismaterials sowie der geänderten Positionierung des ungarischen Staates zur Aufnahmebereitschaft von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Übereinkommens aktuell nicht mehr mit der erforderlichen Gewissheit davon ausgegangen werden, dass in Ungarn systemische Mängel bzw. Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber nicht anzunehmen sind. Vielmehr gibt die jüngste Entwicklung in Ungarn Anlass zu der Annahme, dass gravierende Anhaltspunkte für das Bestehen systemischer Mängel vorhanden sind, aufgrund derer der Antragsteller im Falle der Rückführung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt zu sein.
9Ausgangspunkt für diese Bewertung ist das in Ungarn sich in jüngster Zeit massiv zuspitzende Kapazitätsproblem bei der Aufnahme von Asylbewerbern bedingt durch die stetig ansteigende Zahl von Asylbewerbern. Während in Ungarn im Jahre 2012 lediglich 2.157 Asylanträge gestellt wurden, stieg die Anzahl der Asylbewerber im Jahre 2013 auf 18.900 an und verdoppelte sich im Jahre 2014 auf 42.777. Vom 1. Januar 2015 bis zum 1. März 2015 registrierten die ungarischen Behörden bereits eine Anzahl von 28.535 Personen.
10Vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015 (abrufbar unter http://helsinki.hu/wp-content/uploads/Asylum-2015-Hungary-press-info-4March2015.pdf.
11Bis zu 72.000 Flüchtlinge sollen bereits in diesem Jahr nach Angaben der ungarischen Regierung in das Land gelangt sein.
12Vgl. spiegelonline: Überlastetes Asylsystem, Ungarn verschärft Gesetz zur Aufnahme von Flüchtlingen, Bericht vom 6. Juli 2015, abrufbar unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-verschaerft-gesetzzur-aufnahme-von-flüchtlingen.
13Ungarn gehört damit in der EU zum drittgrößten Zuwanderungsland für Asylbewerber.
14Vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015,aaO.
15Hinzu kommt noch, dass Ungarn nach der Dublin-VO verpflichtet ist, alle weitergereisten Personen, die erstmals in Ungarn einen Asylantrag gestellt haben, wiederaufzunehmen. Dieser großen Anzahl von Asylbewerbern steht demgegenüber nur eine geringe Zahl von Aufnahmeplätzen gegenüber. Wie dem jüngsten Bericht des European Asylum Support Office (EOS) vom 18. Mai 2015 zu entnehmen ist, der eine ausführliche aktuelle Berichterstattung über das ungarische Asylsystem enthält,
16http://easo.europa.eu/wp-content/uploads/Description-of-the-Hungarian-asylum-system-18-May-final.pdf;
17gibt es in ganz Ungarn weniger als 2.500 Aufnahmeplätze in staatlichen Unterbringungseinrichtungen. Die Plätze verteilen sich auf vier offene Aufnahmeeinrichtungen (Bicske 439, Debrecen 823, Vamaosszabadi 255, Nagyfa 300 sowie in Balassagyarmat 111) und drei geschlossene Lager (Debrecen 192, Bekescsabe 159, Nyirbator 105).
18Bereits diese Zahlen verdeutlichen das bestehende massive Unterbringungsproblem in Ungarn. Es kann angesichts dieser Größenordnung bei einer Zuwanderung von mehr als 60.000 Flüchtlingen innerhalb eines halben Jahres ersichtlich nicht davon ausgegangen werden, dass die erheblich zu geringe Zahl an staatlichen Unterbringungsplätzen für Asylbewerber auch nur ansatzweise durch von Kirchen und sonstigen nichtstaatlichen caritativen Einrichtungen aufgefangen werden könnte.
19Hinzu kommt, dass sich der ungarische Staat selbst weder willens noch in der Lage sieht, die Unterbringung und Versorgung der stetig ansteigenden Zahl von Asylbewerbern zu gewährleisten. Dass bereits seit einigen Monaten von den ungarischen Behörden die Situation der Flüchtlingsunterbringung als dramatisch eingestuft wird, zeigt der Umstand des bereits Ende Mai 2015 erklärten Aufnahmestopps von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Transfers wegen ausgeschöpfter Aufnahmekapazitäten bis zum 5. August 2015.
20S. E-Mail der Dublinet Hungary vom 29. Mai 2015 an die Europäischen Mitgliedsstaaten betr. INFO Transfer Stop.
21Als erschwerend ist die ablehnende Haltung der ungarischen Regierung gegenüber dem Dublin-Übereinkommen anzusehen, die das gesamte Dublin-Konzept als ein Systemfehler bezeichnet. Seitens der ungarischen Regierung wird unmissverständlich deutlich gemacht, dass man eine nennenswerte Zuwanderung sog. Wirtschaftsflüchtlinge nicht wünsche und Ungarn keine multikulturelle Gesellschaft werden wolle.
22Vgl. Hungarian Helsinki Committee (HHC), Bericht vom 4. März 2015, aaO; Die Welt, Bericht vom 24. Juni 2015, Flüchtlingskrise: Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat, abrufbar unter: http://www.welt.de/143027058; Süddeutsche Zeitung, Bericht vom 24. Juni 2015, Die ungarische Regierung will Flüchtlinge ab sofort aussperren.
23Die mangelnde Bereitschaft der ungarischen Regierung zur Aufnahme von Dublin-Rückkehrern gipfelte schließlich in der am 23. Juni 2015 erfolgten Ankündigung des Regierungschef Orban, das EU Abkommen zur Aufnahme von Flüchtlingen auszusetzen. Begründet wurde diese Entscheidung mit dem Hinweis, dass die Kapazitäten ausgeschöpft seien („Das Boot ist voll“) und die ungarische Interessen sowie die ungarische Bevölkerung geschützt werden müssten.
24Vgl. Die Welt, Bericht vom 24. Juni 2015, Flüchtlingskrise: Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat; aa0; Süddeutsche Zeitung, Bericht vom 24. Juni 2015, aa0.
25Wenn auch diese Ankündigung bereits einen Tag später zurückgenommen wurde, so macht sie doch auf der einen Seite die dramatische Unterbringungssituation für die Flüchtlinge in Ungarn deutlich wie auch auf der anderen Seite die fehlende Bereitschaft staatlicher Stellen, die Aufnahme von Flüchtlingen zu unterstützen und deren menschwürdige Unterbringung zu garantieren. Vielmehr ist zu konstatieren, dass die ungarische Regierung die Politik der Ausgrenzung weiter forciert. Ungeachtet internationaler Kritik hat Ungarn die Regeln für die Einwanderung verschärft. Am Montag, den 6. Juli 2015 verabschiedete das ungarische Parlament eine Verschärfung der gesetzlichen Rahmenbedingungen. Der Zeitrahmen für Asylverfahren wird gekürzt werden. Mit der neuen Rechtslage wird ermöglicht, Asylanträge von Flüchtlingen abzulehnen, die über sichere Transitländer nach Ungarn gereist sind - selbst wenn sie aus Bürgerkriegsländern wie Syrien, Afghanistan oder dem Irak stammen. Vorgesehen ist überdies, dass Asylbewerber zukünftig selbst für Kost und Unterbringung während der Antragsbearbeitung zahlen sollen.
26Vgl. spiegelonline. Überlastetes Asylsystem, aa0; Die Welt, Bericht vom 6. Juli 2015 Zuwanderung: Ungarn zieht Grenzzaun gegen Flüchtlinge hoch, abrufbar unter: http://www.welt.de/143651657.
27Angesichts dieser jüngeren Entwicklungen bestehen ernst zu nehmende Anhaltspunkte für die Annahme, dass das Asylsystem in Ungarn systemische Schwachstellen aufweist. Daher sieht sich das Gericht veranlasst, im vorläufigen Rechtsschutzverfahren – unter Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung - die Erfolgsaussichten der Klage gegen die Abschiebungsanordnung nach Ungarn nach summarischer Prüfung derzeit als offen zu betrachten. Die nähere Prüfung dieser in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht komplexen Fragestellung ist allerdings dem Hauptsacheverfahren vorbehalten. Im vorliegenden Verfahren überwiegt das Aussetzungsinteresse.
28Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVG.
29Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
30Hemmelgarn
Tenor
Die aufschiebende Wirkung der Klage 22 K 1489/15.A gegen Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Februar 2015 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
Gründe:
2Der am 25. Februar 2015 sinngemäß gestellte Antrag,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 22 K 1489/15.A gegen Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. Februar 2015 anzuordnen,
4hat Erfolg.
5Der Antrag ist zulässig und begründet.
6Der Antrag ist nach § 34a Abs. 2 S. 1 AsylVfG zulässig, insbesondere ist die dort bestimmte Antragsfrist von einer Woche nach Bekanntgabe gewahrt.
7Der Antrag ist auch begründet. Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht auf Antrag im Rahmen einer eigenen Ermessensentscheidung die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn das Interesse des Antragstellers an der beantragten Aussetzung der Vollziehung das bezüglich der Abschiebungsanordnung durch § 75 AsylVfG gesetzlich angeordnete öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzbarkeit des Verwaltungsaktes überwiegt. Die dabei vorzunehmende Interessenabwägung geht zu Gunsten des Antragstellers aus. Die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gestützte Abschiebungsanordnung in Ziffer 2 des angefochtenen Bescheides begegnet nach der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
8Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 27a AsylVfG zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Es bestehen erhebliche Zweifel, dass die hierfür erforderlichen Voraussetzungen im vorliegenden Fall derzeit erfüllt sind.
9Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III‑VO). Diese findet gemäß ihres Art. 49 Unterabsatz 2 Satz 1 auf Schutzgesuche Anwendung, die nach dem 31. Dezember 2013 gestellt werden, mithin auch auf den von dem Antragsteller im Dezember 2014 gestellten Asylantrag.
10Nach Art. 13 Abs. 1 der Dublin III‑VO ist die Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des Asylantrages des Antragstellers begründet worden. Nach dieser Norm ist der Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrages zuständig, in den der betreffende Ausländer ausweislich der in dieser Norm genannten Erkenntnismittel aus einem Drittstaat kommend illegal eingereist ist, wenn der Tag des illegalen Grenzübertritts zum maßgeblichen Zeitpunkt der erstmaligen Beantragung internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat (vgl. Art. 7 Abs. 2 Dublin III‑VO) noch nicht länger als zwölf Monate zurückliegt. Die Anfrage im EURODAC-Verzeichnis hat nach Angaben des Bundesamtes in dem an Ungarn gerichteten Übernahmeersuchen am 30. Dezember 2014 ergeben, dass sich der Antragsteller vor seiner Einreise in das Bundesgebiet in Ungarn aufgehalten und dort am 10. November 2014 einen Asylantrag gestellt hat. Es liegen damit hinreichende Indizien dafür vor, dass der Antragsteller aus einem Drittstaat kommend illegal nach Ungarn eingereist ist.
11Die damit anzunehmende Zuständigkeit ist auch nicht nachträglich entfallen. Insbesondere hat das Bundesamt innerhalb der in Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO genannten Frist am 29. Januar 2015 ein Wiederaufnahmegesuch an Ungarn gerichtet.
12Ungarn hat mit Schreiben vom 12. Februar 2015 dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben.
13Ferner ist die Zuständigkeit nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III‑VO wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf die Antragsgegnerin übergegangen. Die Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch Ungarn liegt weniger als sechs Monate zurück.
14Auch kann sich der Antragsteller nicht erfolgreich darauf berufen, die Antragsgegnerin sei verpflichtet, von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Dublin III-VO Gebrauch zu machen, weil ihrer Überstellung nach Ungarn rechtliche Hindernisse entgegenstünden. Die Unmöglichkeit der Überstellung eines Asylbewerbers an einen bestimmten Staat hindert nur die Überstellung dorthin, begründet aber kein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts gegenüber der Antragsgegnerin,
15vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 - C 394/12 -, juris, Rdn. 60, 62 und Urteil vom 14. November 2013 - C 4/11 -, juris, Rdn. 37; BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6/14 -, juris, Rdn. 7.
16Gegenwärtig steht indes nicht im Sinne von § 34a Abs. 1 S. 1 AsylVfG fest, dass die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn durchgeführt werden kann. Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift ist es Aufgabe allein des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse zu prüfen.
17Vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. September 2014 - 2 BvR 1795/14-, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 30. August 2011 -18 B 1060/11 -, juris Rn. 4 und vom 3. März 2015 und ‑ 14 B 102/15.A ‑, juris; OVG Niedersachsen, Urteil vom 4. Juli 2012- 2 LB 163/10 -, juris Rn. 41; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. Februar 2012 - OVG 2 S 6.12 -, juris Rn. 4 ff.; VGH Bayern, Beschluss vom 12. März 2014 - 10 CE 14.427 -, juris Rn. 4; OVG des Saarlandes, Beschluss vom 25. April 2014 - 2 B 215/14 -, juris Rn. 7; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 31. Mai 2011 ‑ A 11 S 1523/11 -, juris Rn. 4 ff.; OVG Hamburg, Beschluss vom 3. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, juris Rn. 9 ff.; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 29. November 2004- 2 M 299/04 -, juris Rn. 9 ff.
18Die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ist nicht etwa nur zu unterlassen, wenn ein Abschiebungshindernis vorliegt, sondern darf erst dann ergehen, wenn ein solches ausgeschlossen ist ("feststeht, dass sie durchgeführt werden kann").
19Vgl. zum tatsächlichen Abschiebungshindernis der fehlenden Übernahmebereitschaft des Zielstaates: OVG NRW, Beschlüsse vom 3. März 2015 ‑ 14 B 101/15.A ‑ und ‑ 14 B 102/15.A ‑ sowie vom 10. März 2015 ‑ 14 B 162/15.A ‑; Funke-Kaiser in: GK AsylVfG 1992, Loseblattsammlung (Stand: November 2014), § 34a Rn. 20.
20Daran fehlt es hier nach der im Eilverfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung. Denn es gibt wesentliche Gründe für die Annahme, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn gegenwärtig rechtlich unmöglich ist, weil ihm in diesem Falle wegen systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen,
21vgl. zur Definition „systemischer Mängel“ im Einzelnen: Lübbe: „Systemische Mängel“ in Dublin-Verfahren, in: ZAR 2014, 105 ff,; EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris, Rdn. 83 ff., 99; EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 -, NVwZ 2011, 413,
22die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GR-Charta) bzw. Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) droht.
23Systemische Mängel in diesem Sinne können angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen einer Art. 4 EU-GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK entsprechenden Schwere nicht nur in Einzelfällen, sondern strukturell bedingt, eben systemisch, vorliegen. Diese müssen dabei aus Sicht des überstellenden Staates offensichtlich sein. In der Diktion des Europäischen Gerichtshofs dürfen diese systemischen Mängel dem überstellenden Mitgliedstaat nicht unbekannt sein können.
24Vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris, Rdn. 94.
25Die im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem grundsätzlich bestehende Vermutung, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat ist und die Grundrechte von Asylbewerbern einschließlich des Refoulement-Verbots hinreichend achtet, ist nicht unwiderleglich. Vielmehr hat eine Überstellung in einen Mitgliedstaat zu unterbleiben, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Artikel 4 EU-GR-Charta implizieren,
26EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 et al. –, juris, Rdn. 86.
27Eine Widerlegung der Vermutung ist aber wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft: Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder geringste Verstöße gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Das Gericht muss sich vielmehr die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Absatz 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird.
28Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. März 2014 – 10 B 6.14 –, juris, Rdn. 6 ff. m.w.N.
29Vorliegend dürften nach Auffassung des Gerichts zwar auch weiterhin keine hinreichenden Anhaltspunkte für systemische Mängel im oben genannten Sinn hinsichtlich der Aufnahmebedingungen in Ungarn bestehen,
30vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 20. März 2015 – 13 K 501/14. A –, juris; a.A. VG Köln, Urteil vom 15. Juli 2015 – 3 K 2005/15.A -, www.nrwe.de.
31Demgegenüber ergeben sich jedoch hinsichtlich des Asylverfahrens in Ungarn solche hinreichenden Anhaltspunkte aus den am 6. Juli 2015 beschlossenen und zum 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderungen des ungarischen Asylrechts, soweit sie sich aus frei zugänglichen Veröffentlichungen ergeben,
32vgl. Information im englischsprachigen Internetangebot der ungarischen Regierung, http://www.kormany.hu/en/news/government-has-identified-list-of-safe-countries; UNHCR vom 2. Juli 2015, „UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste”, http://www.unhcr.org/559641846.html; aida: „Hungary adopts list of safe countries of origin and safe third countries”, http://www.asylumineurope.org/news/23-07-2015/hungary-adopts-list-safe-countries-origin-and-safe-third-countries; amnesty international: „Hungary: Change to Asylum Law puts tens of thousands at risk”, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2015/07/hungary-change-to-asylum-law-puts-tens-of-thousands-at-risk/; alle abgerufen am 6. August 2015.
33Insbesondere begründet die Aufnahme von Serbien – neben allen anderen an Ungarn angrenzenden Staaten – in die Liste der sicheren Drittstaaten die Gefahr, dass der betroffene Antragsteller keinen Zugang zu einem Asylverfahren erhält, in dem eine inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe vorgenommen würde. Es besteht die Gefahr, dass er bei einer Überstellung nach Ungarn durch die dortigen Behörden ohne inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe nach europäischen Mindeststandards beispielsweise nach Serbien abgeschoben wird. Nach den Feststellungen des Europäischen Kommissars für Menschenrechte ist jedoch jedenfalls hinsichtlich Serbien äußerst zweifelhaft, dass das dortige Asylverfahren und die dortigen Aufnahmebedingungen den europäischen Mindestanforderungen entsprechen,
34vgl. Schreiben an den serbischen Premierminister und Innenminister vom 27. November 2013, https://wcd.coe.int/com.instranet.InstraServlet?command=com.instranet.CmdBlobGet&InstranetImage=2444713&SecMode=1&DocId=2108062&Usage=2, abgerufen am 6. August 2015.
35Damit liegen hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass dem Antragsteller im Falle einer Abschiebung nach Ungarn eine weitere Abschiebung in ein nicht sicheres Drittland und damit letztlich in sein Herkunftsland droht, ohne ihm Zugang zu einem Verfahren auf Zuerkennung internationalen Schutzes zu gewähren, in dem seine Fluchtgründe inhaltlich geprüft werden. Darin läge zugleich ein Verstoß gegen das Refoulement-Verbot zu Lasten des Antragstellers,
36so im Ergebnis auch VG Kassel, Beschluss vom 24. Juli 2015 – 6 L 1147/15.KS.A -, n.v.
37Ob und gegebenenfalls mit welcher Wahrscheinlichkeit eine solche Gefahr für den Antragsteller in seiner persönlichen Situation als Dublin-Rückkehrer tatsächlich besteht, bedarf weiterer Aufklärung im Hauptsacheverfahren.
38Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs.1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 RVG.
39Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.