Verwaltungsgericht Magdeburg Gerichtsbescheid, 29. Apr. 2013 - 9 A 185/12
Gericht
Tatbestand
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Der Kläger – im Folgenden Asylbewerber genannt - begehrt im Rahmen eines Folgeverfahrens die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG.
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Der Asylbewerber ist nach eigenen Angaben syrischer Staatsangehöriger mit letztem gewöhnlichem Aufenthalt in Syrien. Nach der Ablehnung des ersten Asylantrages lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 07.08.2012 den Asyl-Folgeantrag und den Antrag auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ab und stellte ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG fest.
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Mit der fristgerecht erhobenen Klage beantragt der Kläger,
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die Beklagte unter teilweiser Aufhebung ihres Bescheides vom 07.08.2012 zu verpflichten, die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festzustellen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung verweist sie auf den streitbefangenen Bescheid und trägt ergänzend vor.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten und die Erkenntnismittel der 9. Kammer zum Herkunftsland Syrien verwiesen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe
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I.) Die Klage hat Erfolg.
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Die Ablehnung der Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG i. V. m. § 3 Abs. 1 und 4 AsylVfG in dem streitbefangenen Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Asylbewerber in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Es besteht ein Anspruch auf Feststellung dieser Voraussetzungen. Denn die Voraussetzung für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG i. V. m. § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG liegen vor. Die Sachlage in Syrien hat sich in den letzten Monaten in erheblicher Weise geändert, die sich zugunsten des Asylbewerbers auswirken kann. Dabei ist auch unbedeutend, ob sich der Asylbewerber im Einzelnen auf die veränderte Lage in seinem Heimatland beruft. Denn soweit nach Auffassung des im Asyl-Folgeverfahren angerufenen Verwaltungsgerichts die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens erfüllt sind, muss es hierüber selbst entscheiden und „durchentscheiden“ (BVerwG, Urteil v. 10.02.1998, 9 C 28.97; juris). Danach steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass dem Asylbewerber wegen der Ausreise, des Aufenthalts in der Bundesrepublik und der Asylantragstellung bereits mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung in seinem Heimatland droht.
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1.) Nach § 3 Abs. 1 und 4 AsylVfG i. d. F. der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798) sowie § 60 Abs. 1 AufenthG i. d. F. der Bekanntmachung vom 25.02.2008 (BGBl. I S. 162), welche die Rechtsänderungen durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970) - Richtlinien Umsetzungsgesetz -, die am 28. August 2007 in Kraft getreten sind, berücksichtigt, ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) -, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG ausgesetzt ist. Er darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist.
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Für die Feststellung, ob eine Bedrohung bzw. Verfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG vorliegt, sind gemäß § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i. V. m. Art. 4 Abs. 4 sowie die Art. 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EG Nr. L 304 S. 12) - sog. Qualifikationsrichtlinie - ergänzend anzuwenden. Eine Verfolgung hat zur Voraussetzung, dass eine bestimmte Verfolgungshandlung durch einen bestimmten Verfolger aufgrund eines bestimmten Verfolgungsgrundes mit dem erforderlichen Grad der Verfolgungswahrscheinlichkeit bei Rückkehr zu befürchten ist. Dabei benennt Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie den notwendigen Grad derVerfolgungswahrscheinlichkeit, Art. 9 beschreibtVerfolgungshandlungen und Art. 10Verfolgungsgründe, § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG beschreibt den möglichenVerfolger.
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Als Verfolgungshandlungen gelten nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie Handlungen, die a) entweder aufgrund ihrer Art und Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, oder b) wegen der Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher Weise wie in der unter Buchstabe a) beschriebenen Weise betroffen ist. Eine Verfolgungshandlung liegt nach Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie in der Anwendung physischer oder psychischer einschließlich sexueller Gewalt, sowie bei diskriminierenden staatlichen, d.h. gesetzlichen, administrativen, polizeilichen und/oder justiziellen Maßnahmen vor. Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie bestimmt, dass eine Verknüpfung zwischen den in Art. 10 genannten Verfolgungsgründen und denen in Absatz 1 als Verfolgung eingestuften Handlungen bestehen muss.
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Verfolgungsgründe sind gemäß Art. 10 der Richtlinie die Anknüpfung der Verfolgung an Rasse, Religion, Nationalität, die politische Überzeugung oder die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, wobei unerheblich ist, ob die Merkmale beim Betroffenen tatsächlich vorliegen, sofern sie ihm von seinen Verfolgern zugeschrieben werden (Art. 10 Abs. 1 und 2 der Richtlinie).
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Verfolgung kann zum einen von staatlicher Seite, aber auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat im Wesentlichen beherrschen, sowie von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, d.h. diese können Verfolger sein. Etwas anderes gilt, wenn Schutz vor Letzteren im Heimatland durch Erstgenannte oder internationale Organisationen erlangt werden kann, oder eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht (§ 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG).
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Zur Verfolgungswahrscheinlichkeit regelt § 60 Abs. 1 Satz 5 AufenthG i. V. m. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie: Die Tatsache, dass ein Betroffener bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden bereits erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass eine erneute Verfolgung oder Bedrohung der genannten Art einsetzen kann. Dieser hier statuierten Beweiserleichterung wird in Form einer widerlegbaren Vermutung bei Zugrundelegung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes und der Feststellung einer hinreichenden Sicherheit vor Verfolgung regelmäßig Genüge getan (vgl. BVerwG, B. v. 30.06.2009, 10 B 45/08, juris). Dieser bereits vor dem Inkrafttreten der Qualifikationsrichtlinie angewendete sog. herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab der hinreichenden Verfolgungssicherheit für vorverfolgt ausgereiste Antragsteller bejaht eine drohende Verfolgung bei Rückkehr, wenn ein innerer Zusammenhang zwischen einer erlittenen Verfolgung und der mit dem Asylbegehren geltend gemachten Gefahr erneuter Verfolgung dergestalt besteht, dass bei Rückkehr mit einem Wiederaufleben der ursprünglichen Verfolgung zu rechnen ist oder das erhöhte Risiko einer gleichartigen Verfolgung besteht. In diesem Fall sind an die Wahrscheinlichkeit des Ausschlusses erneuter Verfolgung wegen der meist schweren und bleibenden - auch seelischen - Folgen der schon einmal erlittenen Verfolgung hohe Anforderungen zu stellen. Es muss mehr als nur überwiegend wahrscheinlich sein, dass der Asylsuchende im Heimatstaat vor Verfolgungsmaßnahmen sicher ist. Andererseits muss die Verfolgungsgefahr nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, so dass jeder auch nur geringe Zweifel an der Sicherheit des Asylsuchenden vor Verfolgung seinem Begehren zum Erfolg verhelfen müsste. Lassen sich aber ernsthafte Bedenken nicht ausräumen, so wirken sie sich nach diesem Maßstab zugunsten des Asylbewerbers aus und führen zu seiner Anerkennung (vgl. BVerwG, B. v. 07.02.2008, 10 C 33.07, juris).
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Hat hingegen eine Vorverfolgung wie in Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie beschrieben nicht stattgefunden, so kann Schutz nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG weiterhin nur derjenige beanspruchen, der politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten hat. Dabei gilt unter Berücksichtigung der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass eine Verfolgungsgefahr des unverfolgt Ausgereisten und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung nur dann vorliegt, wenn ihm bei verständiger, nämlich objektiver Würdigung der gesamten Umstände seines Falls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt mithin darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Antragstellers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist damit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Die Zumutbarkeit bildet das vorrangige qualitative Kriterium, das bei der Beurteilung anzulegen ist, ob die Wahrscheinlichkeit einer Gefahr „beachtlich“ ist. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn nur ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falles die reale Möglichkeit einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es aus der Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber die Todesstrafe riskiert (vgl. zum Vorstehenden: BVerwG, Urteil v. 01.06.2011, 10 C 25.10; B. v. 07.02.2008, 10 C 33.07; juris).
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2.) Es kann hier offenbleiben, ob der Asylbewerber vorverfolgt ausgereist ist. Denn das Gericht ist davon überzeugt, dass dem Asylbewerber bei Rückkehr nach Syrien unter Beachtung der vorstehend aufgeführten Kriterien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht. Die Kammer ist unter Zugrundelegung der ihr zur Verfügung stehenden Auskünfte zum Herkunftsland Syrien nach wie vor davon überzeugt, dass der Asylbewerber aufgrund der illegalen Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung in der Bundesrepublik Deutschland und des längeren hiesigen Aufenthalts bei Rückkehr in sein Heimatland von Folter bedroht ist. Insoweit bleibt die Kammer bei ihrer seit August 2011 in ständiger Rechtsprechung (vgl. nur: VG Magdeburg, GB v. 24.08.2011, 9 A 152/10; v. 25.01.2012, 9 A 46/11, v. 26.01.2012, 9 A 33/11; alle juris) vorgenommenen Einschätzung der Verfolgungslage, welche vom VG Köln (U. v. 11.04.2011, 20 K 2727/10.A), VG Stuttgart (U. v. 06.05.2011, A 7 K 510/09) und VG Aachen, Urteile v. 15.09.2011 (9 K 1408/09.A) und vom 21.10.2009 (9 K 515/09.A; alle juris) geteilt wurde. Dabei handelt es sich um politische Verfolgung (vgl. auch VG Würzburg, U. v. 08.06.2011, W 2 K 10.30159, für den Fall eines exilpolitisch tätigen Syrer). Denn nach der sich aus der Berichterstattung in den Medien ergebenden Auskunftslage ist davon auszugehen, dass der syrische Staat das Stellen eines Asylantrages im Zusammenhang mit einer illegalen Ausreise generell - mithin in stigmatisierender Weise - als Anknüpfung und Ausdruck einer politischen missliebigen Gesinnung, also als Kritik am herrschenden System ansieht, die das Gebot der Loyalität gegenüber dem eigenen Staat verletzt.
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Die vom erkennenden Gericht insoweit vertretene Auffassung wird auch vom Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt geteilt. Nachdem es die Berufungen gegen die Gerichtsbescheide der Kammer wegen Abweichens von der Senatsrechtsprechung (vgl. U. v. 25.05.2011, 3 L 374/09) zuließ und die Beklagte auf die fehlende Erkenntnislage hinsichtlich einer erhöhten Gefahr politischer Verfolgung hinwies, gleichwohl Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 AufenthG feststellte, schloss sich der Senat der Rechtsprechung der Kammer auch unter Zuhilfenahme der von der Kammer in die Verfahren eingeführten Erkenntnisse an (Urteil v. 18.07.2012, 3 L 147/12; juris und Urteil v. 17.07.2012, 3 L 403/11 n. v.).
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Das Oberverwaltungsgericht stellt ebenso fest, dass, unabhängig von einer Vorverfolgung aufgrund der aktuellen Situation in Syrien von beachtlichen Nachfluchtgründen auszugehen ist. Wegen der illegalen Ausreise, der Asylantragstellung und dem mehrjährigen Aufenthalt im Ausland sei von einer Verfolgung auszugehen, wobei von einer drohenden „Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit“ auszugehen ist. Der Senat führt aus, dass diese Handlungen ungeachtet einer oppositionellen Haltung des Einzelnen vom syrischen Staat generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung aufgefasst werden und Rückkehrer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an ihre tatsächliche oder jedenfalls vermutete politische Überzeugung mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen haben (OVG LSA, Urteil v. 18.07.2012, 3 L 147/12; juris und Urteil v. 17.07.2012, 3 L 403/11 n. v.).
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Wegen der vom syrischen Regime ausgehenden Willkürhandlungen verschließt sich eine inhaltliche Bewertung oder Qualifizierung in Bezug auf die Nachfluchtgründe der Ausreise, des Aufenthaltes und der Asylantragstellung im Ausland. Es ist nicht erkennbar, ob die syrischen Sicherheitsbehörden innerhalb dieser Anknüpfungspunkte etwa nach Art und Dauer des Aufenthalts im Ausland differenzieren und gewichten. Allein die Ausreise und damit die fehlende Einflussnahme auf das Staatsvolk werden vom syrischen Regime als oppositionelle Haltung angesehen.
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An der aus den nachfolgend darzustellenden Erkenntnissen getroffenen Bewertung ist auch in Ansehung der Entwicklung in Syrien seit dem Ergehen der vorstehend zitierten Entscheidungen festzuhalten (so auch: VG Stade, Urteil v. 15.04.2013, 6 A 1811/12). Mit der - in ständiger Entscheidungspraxis Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 AufenthG bewilligenden - Beklagten, geht auch das Gericht davon aus, dass die innerstaatlichen Auseinandersetzungen in Syrien derzeit weder zu einer anderen rechtlichen Bewertung von § 60 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 4, 5 Abs. 1 und 2 und Art. 6 bis 8 der Richtlinie der Bestimmungen über den Vorverfolgungsmaßstab, Nachfluchtgründe, Verfolgungs- und Schutzakteure und internen Schutz noch in Bezug auf die nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit Art. 2 der Richtlinie geschützten Rechtsgüter führen. Rechtliche belastbare Anhaltspunkte dafür, dass der syrische Staat ganz oder teilweise seine Fähigkeit zu politischer Verfolgung vorläufig und für ungewisse Zeit verloren hätte (vgl. zu diesen Voraussetzungen: BVerwG, Urt. v. 08.12.1998, 9 C 17.98, juris), sind nicht ersichtlich (vgl. jüngst: VG Stuttgart, Urt. v. 15.03.2013, A 7 K 2987/12, juris).
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Erkenntnisse über Einzelfälle bei Rückkehr kann es naturgemäß nicht geben, da Abschiebungen derzeit nicht vorgenommen werden (vgl. BT-Drs., a. a. O., S. 11). Dies führt jedoch nicht dazu, dass eine rechtliche Bewertung hinsichtlich der für § 60 Abs. 1 AufenthG maßgeblichen Aspekte nicht erfolgen könne. Vielmehr lässt das Verhalten des Regimes vor den Unruhen und das derzeitige Verhalten des Regimes in Syrien seit Beginn der Unruhen im April 2011eine solche zu. Denn das erkennende Verwaltungsgericht wie das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt haben keine Zweifel daran, dass, wenn Asylsuchende abgeschoben werden würden, die Referenzfälle gegeben wären. Die Beklagte selbst hat jedoch in Reaktion auf die eskalierende Lage in Syrien die Möglichkeit der Feststellung solcher Referenzfälle verhindert (OVG LSA Urteil v. 18.07.2012, 3 L 147/12; juris und Urteil v. 17.07.2012, 3 L 403/11 n. v.).
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3.) Insoweit geht das Gericht nach wie vor in Fortsetzung der bisherigen Rechtsprechung (vgl. nur: VG Magdeburg, GB v. 24.08.2011, 9 A 152/10; v. 25.01.2012, 9 A 46/11, v. 26.01.2012, 9 A 33/11; alle juris) von Folgendem aus:
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Die Unruhen begannen im März 2011, wobei Auslöser der zu Beginn größten Demonstrationen die Verhaftung mehrerer Kinder war (vgl. Süddeutsche Zeitung, 21.03.11: „Der Zorn der Syrer“). Diesen Demonstrationen wurde seitens des Regimes sofort mit äußerster Härte begegnet. Es wurden mindestens vier Menschen erschossen, zahlreiche Menschen wurden verhaftet (Süddeutsche Zeitung, a. a. O.; Focus-Magazin 23.03.2011). In der Folge reagierte der syrische Staat sowohl mit äußerster Brutalität als auch mit beschwichtigenden Maßnahmen (vgl. www.stern.de, 04.04.2011 „Gewalt und Reformversprechen in Syrien“; NZZOnline, 04.04.2011 „Doppelstrategie Assads in Syrien“) wie Freilassungen politischer Gefangener und mit Ankündigungen, wie dem Aufheben der Notstandsgesetze (vgl. Süddeutsche Zeitung, 26./27.3.11 „Schüsse und Festnahmen in Syrien“, www.stern.de vom 27.03.2011 „Führung beschließt Aufhebung des Notstandsgesetzes“), der Wiedereinbürgerung der staatenlosen Kurden (vgl. RIA Novosti, 07.04.2011 „Syrien: Kurden erhalten Staatsbürgerschaft“), dem Austauschen der Regierung (vgl. Focus.Online, 29.03.2011 „Regierung zurückgetreten“) und der Ankündigung von Treffen mit der Opposition (vgl. Focus-Magazin, 05.04.2011 „Syrische Führung nimmt Kontakt zur Opposition auf“). In seiner Verzweiflung begann das Regime sogar Gespräche mit Islamisten (vgl. spiegel.online, 06.04.2011 „Assad buhlt um Islamisten“).
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Die Aufhebung des Ausnahmezustands erfolgte zunächst nicht (vgl. spiegel.online, 01.04.2011 „Sicherheitskräfte töteten mehrere Demonstranten“). Vielmehr zeigte sich, dass der Präsident viel ankündigte und tatsächlich wenig umgesetzt wurde (vgl. Volksstimme Magdeburg, 21.06.2011 „Assad unterbietet selbst die niedrigsten Erwartungen“). In der Folgezeit sind dann zwar einige Ankündigungen in die Tat umgesetzt worden. So sind am 18.05.2011 vom Präsidenten mehrere Dekrete erlassen worden (vgl. KurdWatch, 30.06.2011 unter Dokumente „Dekrete zu Ausnahmezustand, Hohem Staatssicherheitsgericht, Strafprozessordnung und Demonstrationsrecht“). Es wurde mit Dekret 53 das Staatssicherheitsgericht abgeschafft und die noch anhängigen Verfahren an die jeweils zuständige Gerichtsbarkeit verwiesen. Mit Dekret 54 wurde das Recht auf friedliche Demonstrationen geregelt. Dekret 55 traf neue Regelungen für die Strafverfolgungsbehörden bei politischen Straftaten (Verwahrung nicht länger als 60 Tage) und mit Dekret 161 wurde tatsächlich der seit 08.03.1963 geltende Ausnahmezustand aufgehoben. Indes ist dadurch keine Änderung in Bezug auf das Verhalten der Sicherheitskräfte bei Demonstrationen eingetreten. Vielmehr schätzt Kurdwatch (a. a. O.) die Lage dahingehend ein, dass sich die Menschenrechtslage ebenso wenig verbessert hat wie die Bürgerrechte gestärkt wurden. Denn die Handlungsbefugnisse des Geheimdienstes seien in der Praxis nicht beschnitten worden.
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Verbessert hat sich indessen wohl die Situation der konservativen Muslime, die nach Presseberichten profitiert haben sollen (vgl. DiePresse.com, 18.06.2011 „Lokalaugenschein: “Das Töten in Syrien muss aufhören“). Viele ihrer zum Teil schon seit 20 Jahren inhaftierten Anhänger sind freigelassen worden (vgl. junge Welt unter ag-friedensforschung.de, 23.06.2011 „Die Waffen nieder“).
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Die vorgenannte Amnestie, die auf den Erlass Nr. 61 des syrischen Präsidenten vom 31.05.2011 zurückgeht, betraf jedenfalls dem Wortlaut nach auch andere politische Gefangene (vgl. KurdWatch, 04.06.2011 „Damaskus: Politische Gefangene amnestiert“). Es existieren indes wenige Berichte von Freilassungen aufgrund der Amnestie (vgl. KurdWatch, 12.07.2011 „Damaskus: Politischer Aktivist nach schwerer Folter aus der Haft entlassen“; KurdWatch, 05.06.2011 „Aleppo: Mustafa Ismaìl aufgrund von Amnestieerlass frei“), wesentlich mehr Personen wurden danach festgenommen (vgl. unten).
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Auch zum Teil groß in Szene gesetzte Truppenabzüge werden kurz danach wieder rückgängig gemacht, wie etwa in der Protesthochburg Hama (vgl. spiegel.online, 11.08.2011), bzw. angekündigte Abzüge werden nicht vorgenommen (vgl. www.dw-world.de, 11.08.2011). Inzwischen wird die Lage derart eingeschätzt, dass seit der Aufhebung des Ausnahmezustands die Staatssicherheit schlimmer wütete als zuvor (vgl. Tagesspiegel, 03.08.2011 „Der unerklärte Krieg“).
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Jedenfalls auf dem Papier verbessert hat sich ferner die Lage der staatenlosen Kurden mit rotem Ausweis, der sog. Adjnabi. Der Ankündigung zur Einbürgerung derselben folgten Taten. Es sollen nunmehr 6700 Personen tatsächlich eingebürgert worden sein (Kurdwatch, 21.06.2011 „Damaskus: Zahl der eingebürgerten adschanib steigt auf 6700“; KurdWatch, 31.05.2011 „Al-Malikiyah: Erste adschanib eingebürgert“; KurdWatch, 30.05.2011 „Damaskus: 32 000 Anträge auf Einbürgerung eingereicht“). Den Kurden kam das Regime auch durch Modifizierung des Dekrets Nr. 49 vom 10.09.2008 entgegen, wodurch die Übertragung von Grundeigentum unter Kurden in der Grenzregion im Nordosten Syriens verboten worden war. Mit Dekret Nr. 43 vom 26.03.2011 bedarf es jedenfalls für bestimmte Fälle keine Genehmigung mehr (vgl. KurdWatch, 02.05.2011 „Damaskus: Dekret 43 erleichtert Übertragung von Grundbesitz in Grenzregionen“). Hieraus kann indes nicht der Schluss gezogen werden, Kurden seien bei einer Rückkehr ungefährdet. Denn es ist zu erwähnen, dass es dem Anschein nach zunächst das Ziel des Regimes war, die Kurden auf seine Seite zu ziehen (vgl. KurdWatch, 18.06.2011 „Al-Qamischli: Regime droht Kurden mit Repressionen“) und dementsprechend tatsächlich große Demonstrationen in den von Kurden besiedelten Orten, die friedlich waren bzw. sind, toleriert wurden (vgl. KurdWatch, 18.07.2011 „Damaskus: Erstmals Kurden bei regimekritischen Demonstrationen getötet“; KurdWatch, 06.06.2011 „Al-Qamischli: Drei kurdische Parteien rufen Anhänger zur Teilnahme an regimekritischen Demonstrationen auf“), Schüsse fielen zunächst nur in den Städten, in welchen Araber demonstrierten (vgl. KurdWatch, 18.07.2011, a. a. O.). Taktik des Regimes in den Kurdengegenden war es wohl, die Demonstrationen laufen zu lassen. Nach den Demonstrationen kam es indessen immer wieder zu Festnahmen und Folter (vgl. KurdWatch, 12.07.2011 „Damaskus: Politischer Aktivist nach schwerer Folter aus der Haft entlassen“; KurdWatch, 04.07.2011 „Al-Qamischli: Regimekritische Demonstrationen in den kurdischen Gebieten weiten sich aus“; KurdWatch, 12.06.2011 „Afrin: Neun Demonstrationsteilnehmer nach Folter angeklagt“; KurdWatch, 26.05.2011 „Al-Qamischli: wieder regimekritische Demonstrationen – assyrische Aktivisten festgenommen“; KurdWatch „Amuda: Wieder Festnahmen nach regimekritischer Demonstration“), wobei diese Festnahmen nicht nur exponiert tätige Aktivisten betrafen. Es reichte den Berichten zufolge, wie auch in den arabischen Gebieten, die bloße Teilnahme an der Demonstration (vgl. KurdWatch, 10.08.2011 „Al-Qamischli: Demonstrationsteilnehmer schwer gefoltert“; KurdWatch, 04.07.2011 „Al-Qamischli: Regimekritische Demonstrationen in den kurdischen Gebieten weiten sich aus“; KurdWatch, 12.06.2011 „Afrin: Neun Demonstrationsteilnehmer nach Folter angeklagt“).
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Von Beginn an brachte jede Demonstration in den arabischen Gebieten Tote mit sich (spiegel.online, 01.04.2011 „Sicherheitskräfte töten mehrere Demonstranten“; NZZOnline, 18.04.2011, „Zwölf Tote bei Zusammenstössen in Syrien“). Im Juni 2011 soll sich die Zahl der Getöteten auf 1500 belaufen haben (DiePresse.com, 19.06.2011 „Syrien: Flucht vor brutalem Regime“; Volksstimme Magdeburg, 21.06.2011 „Assad unterbietet selbst die niedrigsten Erwartungen“), im August sprechen die Quellen bereits von über zu 2000 Toten (vgl. www.dw-world.de, 11.08.2011; Tagesspiegel, 16.08.2011 „Assad lässt weiter schießen“; Tagesspiegel, 23.08.2011 „UN erhöht den Druck auf das Assad-Regime“; Die Presse, 15.08.2011 „Syrien: Mit Panzern und Schiffen gegen das eigene Volk“) und die Zahl der Verhafteten wird zwischenzeitlich mit bis zu 15.000 angegeben. Bereits im Mai belief sich die Zahl der Verhafteten mehreren Berichten zufolge auf über 1000 (vgl. Die Welt, 02.05.2011 „Das Leben hier ist die Hölle“). Ende Mai 2011 gab der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung an, nach Angaben von Menschenrechtsgruppen seien seit Beginn der Proteste in Syrien 9000 Menschen verhaftet und 1000 Menschen getötet (vgl. www.damaskus.diplo.de; profil.online.at, 18.06.2011 „Nachrichten aus der Hölle“ unter Berufung auf ein Vorstandsmitglied der syrischen Menschenrechtsorganisation MAF, der von 10.000 Vermissten spricht und davon ausgeht, diese befänden sich wohl zum Großteil in Gefängnissen). Im August 2011 berichten Quellen von 13.000 von der Geheimpolizei festgenommenen Personen und 3000 verschwundenen Personen (www.dw-world.de, 11.08.2011 „Westen fordert erneut Sanktionen gegen Syrien“). Im Juni belief sich die Zahl der Verhafteten nach Zeitungsberichten bereits auf 10.000 (vgl. Der Tagesspiegel, 08.06.2011 „Helikopter gegen Demonstranten“). Die Verhaftungen machten auch vor alten Menschen nicht halt, so wurden zwei über 80-jährige Menschenrechtler festgenommen (vgl. Tagesspiegel, 02.05.2011 „Wir gehen nur vor Gott auf die Knie“); Frauen wurden nach friedlichen Protesten abgeführt und ihnen wurde vorgeworfen „Sprachrohre von Israel und Amerika zu sein“ (vgl. Tagesspiegel, a. a. O.). Sogar vor Kindern soll die Gewalt nicht Halt gemacht haben (vgl. KurdWatch, 30.03.2011 „Minderjährige nach Folter durch Staatssicherheit entlassen“; spiegel.online, 17.06.2011 „Hinter der Grenze lauert das Grauen“), wonach Flüchtlinge berichten, dass auch auf Kinder geschossen worden sei. In einem Bericht der Deutschen Botschaft (vgl. www.damaskus.diplo.de), erklärte der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung nach der Ausstrahlung eines Videos auf Al Jazeera und al Arabiya, welches „Spuren von brutaler Folter“ am Leichnam eines Dreizehnjährigen zeigte, dass offensichtlich die „Brutalität und das Ausmaß der repressiven Maßnahmen der syrischen Regierung auch vor der Misshandlung Minderjähriger nicht halt“ mache. Es wird berichtet, dass wahllos auf demonstrierende Menschen geschossen worden sei (vgl. Focus.Online, 16.06.2011 „Assad-Truppen weiten Offensive aus“). Auch das Auswärtige Amt bestätigt in der Reisewarnung vom 16.08.2011, dass seit dem 31.07.2011 größere Militäraktionen in der Euphratregion um die Städte Deir Ez Zoor und Abu Kamal stattfinden und rät von Reisen in diese Regionen ab, auch könnten „gelegentliche Spannungen“ in der überwiegend kurdisch bevölkerten Nord-Ost-Provinz und an der syrisch-irakische Grenze nicht ausgeschlossen werden.
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Wie sich der zuvor zitierten zurückhaltend formulierten Reisewarnung entnehmen lässt, ist die Lage auch bei kurdischen Demonstrationen eskaliert, auch hier wird geschossen. So sollen zwei kurdische Demonstranten bei einer Demonstration in einem überwiegend von Kurden bewohnten Stadtteil Damaskus getötet worden sein (vgl. KurdWatch, 18.07.2011 „Damaskus: Erstmals Kurden bei regimekritischen Demonstrationen getötet“). Vor dem Hintergrund, dass das Regime den Kurden unter dem 14.06.2011 mit Repressionen drohte, wenn sie nicht auf regimekritische Demonstrationen in der Dschazira, also im Nordosten Syriens verzichteten (vgl. KurdWatch, 18.06.2011 „Al-Qamischli: Regime droht Kurden mit Repressionen“), ist hier eine weitere Verschärfung der Lage wahrscheinlich.
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Es ist auch zu berücksichtigen, dass teilweise ganze Städte abgeriegelt wurden (vgl. Focus.Online, 11.04.2011 „Hafenstadt Banias komplett abgeriegelt“; spiegel.online, 17.04.2011 „Sicherheitskräfte stürmen Sunniten-Ort Baida“; Die Welt, 26.04.2011 „In Syrien steigt die Wut mit jedem Toten“). Es kam den Berichten zufolge zu Folter (vgl. spiegel.online, 05.04.2011 „US-Student berichtet von Folter in syrischem Gefängnis“). Die Organisation Human Rights Watch erhob Berichten zufolge schwere Vorwürfe gegen die syrische Armee (vgl. Der Tagesspiegel, 11.07.2011 „Überläufer berichten von Schießbefehl“), wonach Soldaten und Sicherheitskräfte zum Schießen auf Demonstranten gezwungen worden seien, andernfalls sie selbst getötet würden. KurdWatch berichtet unter Berufung auf Mitarbeiter der Einberufungsbehörde, seit etwa zwei Monaten würden in ganz Syrien Rekruten, die ihren Wehrdienst abgeleistet haben, nicht mehr aus der Armee entlassen (vgl. KurdWatch „Damaskus: Rekruten werden nicht mehr aus Armee entlassen“).
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Im August 2011 eskalierte die Lage nun derart, dass wohl vom Meer aus die Hafenstadt Latakia angegriffen wurde (DiePresse.com, 15.08.2011 „Syrien: Mit Panzern und Schiffen gegen das eigene Volk“). Für die Richtigkeit dieser Information spricht, dass das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge mitgeteilt hat, dass aus einem Lager in der Stadt viele Flüchtlinge geflohen sind, um sich vor den Angriffen zu retten (vgl. Reuters, 16.08.2011 „Tausende Palästinenser fliehen aus syrischem Flüchtlingslager“). Hierbei wird von gezielten Angriffen auf sunnitische Viertel, der zu erheblichen Teilen von Alawiten bewohnten Stadt, berichtet. Die Angriffe sind somit nicht willkürlich gegen das gesamte Volk, sondern gezielt gegen solche Volksgruppen gerichtet, bei denen der Staat oppositionelle Meinungen vermutet (vgl. sueddeutsche.de, 15.08.2011 „Gnadenloses Dauerfeuer auf „Latakia“).
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Der britische Botschafter in Damaskus Simon Collis wird im Tagespiegel vom 01.10.2011 dahingehend zitiert, dass dem Regime jedes Mittel recht sei, um sich an der Macht zu halten. Weiter heißt es dort, dass nach Angaben des Bürgernetzwerkes Avaaz die Bewohner von Rastam aus der Luft mit Pestiziden besprüht worden seien.
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Auch im türkischen Grenzgebiet sowie an der Grenze zum Libanon stürmen die Truppen Assads Orte, und es wird von „massiver Gewalt“ gegen Oppositionelle berichtet. Es gebe Tote und Verletzte, Massenverhaftungen werden gemeldet (vgl. spiegel.online, 11.08.2011 “Assads Truppen stürmen Orte im türkischen Grenzgebiet“). Auch hier war im Übrigen kurz vorher angekündigt, man ziehe sich zurück (vgl. spiegel.online a. a. O.).
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Die Dramatik der Lage zeigt auch die Tatsache, dass zehntausende Syrer in die Türkei flohen (vgl. Rotes Kreuz Steiermark, 22.06.2011 „Syrien: Rotes Kreuz versorgt Flüchtlinge und Konfliktopfer“; euronews, 20.06.2011 „Syrer fliehen weiter zu Tausenden in die Türkei“; spiegel.online, 17.06.2011 „Angelina Jolie besucht syrische Flüchtlinge“, „Hinter der Grenze lauert das Grauen“; sueddeutsche.de, 1Fehler! Hyperlink-Referenz ungültig.ssads Regierung fordert Flüchtlinge zur Rückkehr auf“) und in den Libanon (vgl. www.unhcr.de, 20.05.2011 „UNHCR unterstützt syrische Flüchtlinge im Libanon“). Syrische Grenzdörfer sollen teilweise menschenleer sein (vgl. euronews, 16.06.2011 „Syrien: Menschenleere Grenzregion“). Medien berichten von heftigem Artilleriebeschuss (vgl. www.unhcr.de, 20.05.2011).
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Diese Flucht ist ein Vorgang, der dem syrischen Regime offensichtlich nicht gefällt, denn es wird auch wiederholt davon berichtet, die Armee versperre den Menschen die Flucht in die Türkei, alle Wege zum Grenzgebiet seien abgesperrt (vgl. www.tagesschau.de, 25.06.2011 „Hilfe für die Landsleute jenseits der Grenze“; euronews, 18.06.2011 „Syrien: Menschenleere Grenzregion“). Der Sekretär einer kurdischen Partei wurde im Juli 2011 am Flughafen Aleppo gar an der Ausreise gehindert (vgl. KurdWatch, 15.07.2011 „Aleppo: Parteichef darf Syrien nicht verlassen“). Nur ein scheinbarer Widerspruch ist womöglich die auf der anderen Seite erfolgte Aufhebung von Ausreiseverbote. Denn diese erfolgte auch zugunsten von im Ausland lebenden Oppositionellen (vgl. KurdWatch, 14.07.2011 „Aleppo: Ausreiseverbote aufgehoben“) und diente daher möglicherweise auch dazu, diese Bürger wieder ins Land zu holen, um sie unter Kontrolle zu halten. Dies wiederum passt zu der Nachricht, der Präsident fordere die Flüchtlinge, die es geschafft haben, zur Rückkehr auf und versucht, mit massiver Propaganda zu verhindern, dass noch mehr Menschen Syrien verlassen (vgl. DiePresse.com, 20.06.2011 „Syrische Truppen stürmen Stadt an der Grenze zur Türkei“; sueddeutsche.de, 15.06.2011 „Assads Regierung fordert Flüchtlinge zur Rückkehr auf“). So würden nach Berichten von Menschenrechtlern und Flüchtlingen Straßen blockiert und Personen angegriffen, die den Flüchtlingen helfen würden (vgl. DiePresse.com, 20.06.2011 „Syrische Truppen stürmen Stadt an Türkei-Grenze“). Syrien fordert von der Türkei, bei der Rückkehr der syrischen Flüchtlinge zu kooperieren (junge Welt unter ag-friedensforschung.de, 23.06.2011 „Die Waffen nieder“). Flüchtlinge werden hingegen dahingehend zitiert, Rückkehrer seien in Syrien getötet worden (AFP, 21.06.2011 „Syrische Flüchtlinge lehnen Assads Rückkehrappell ab“). Dass diese Angst durchaus nicht unbegründet ist, zeigen Berichte, wonach Rückkehrer, auch Abgeschobene aus Deutschland nach ihrer Rückkehr in Syrien festgenommen und gefoltert wurden (vgl. KurdWatch, 28.04.2011 „Damaskus: Abgeschobener nach Folter freigelassen“; KurdWatch, 14.04.2011 „Damaskus: Aus Deutschland Abgeschobener in Damaskus festgenommen“ (es handelte sich um die gleiche Person); KurdWatch, 29.03.2011 „Damaskus: aus Dänemark abgeschobener Kurde bei Ankunft in Syrien gefoltert“; KurdWatch, 11.03.2011 „al-Qamischli: Kurde aus den Niederlanden wieder frei“; KurdWatch, 08.03.2011 „Damaskus: Kurde aus den Niederlanden am Flughafen verhaftet“, auch hier handelte es sich um dieselbe Person; KurdWatch, 26.02.2011 „Al-Hasaka: Abschiebung aus Deutschland – Vater aus der Haft entlassen, Sohn bleibt inhaftiert“; Kurdwatch, 13.02.2011 „Berlin: Abschiebung aus Deutschland – Vater und Sohn in Haft“, beide Artikel betrafen die gleichen Personen; KurdWatch, 17.01.2011 „Al-Qamischli: Schriftsteller nach Rückkehr aus Irakisch-Kurdistan festgenommen“). Entsprechendes ist bereits 2009 geschehen (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.09.2010, S. 20). Insoweit gibt auch der Hinweis in dem vorgenannten Lagebericht, es sei nicht möglich, zu garantieren, dass Mitarbeitern der Deutschen Botschaft Damaskus eine Übernahme der zurückgeführten Personen unmittelbar nach der Ankunft und eine Begleitung zu den für die Einreise zuständigen Behörden, Anlass zu der Befürchtung, der syrische Staat wolle zwar bestimmte Leute zugeführt haben, dann aber nach Gutdünken mit diesen verfahren, was offensichtlich auch Folter einschließen kann.
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Amnesty International führt aus (Tagesspiegel vom 26.10.2011), dass in mindestens vier staatlichen Kliniken in Banias, Homs und Tell Kalakh verletzte Regimegegner von Sicherheitskräften gefoltert, aber auch von medizinischem Personal misshandelt worden seien. Auch Ärzte und Krankenschwestern, die verwundeten Demonstranten behandeln würden, müssten mit Verhaftung und Folter rechnen. In einem Fall seien 18 Demonstranten in Krankenhäusern verhaftet worden. Ein bewusstloser Demonstrant sei aus seinem Krankenbett geholt und verschleppt worden. In den Hospitälern mache sich ein Klima der Angst breit. Auf die Verschleppung verletzter Personen aus Krankenhäusern weist auch das VG Aachen (Urteil v. 21.10.2011, 9 K 515/09.A; juris) mit Verweis auf das Bundesamt, Informationszentrum für Asyl und Migration, Briefing Notes vom 12.09.2011 (juris) hin.
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Zuletzt hat Assad ein Ultimatum der Arabischen Liga zum Dialog mit den Oppositionellen ablaufen lassen (Tagespiegel 31.10.2011) bzw. das Versprechen zur Friedensvereinbarung gebrochen (Magdeburger Volksstimme, 03.11.2011). Nahezu täglich finden sich in den Medien Berichte über Demonstrationen und Massenproteste die vom syrischen Regime mit äußerster Brutalität beantwortet werden. Der Tagesspiegel berichtet unter dem 31.12.2011, dass bei neuen Massenprotesten mindestens 32 Menschen landesweit getötet worden seien. In Duma hätten die Sicherheitskräfte neben Tränengas und Blendgranaten auch Nagelbomben eingesetzt.
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4.) Es bestehen vor diesem Hintergrund weiterhin keine Zweifel daran, dass Syrien die ungenehmigte Ausreise in Kombination mit einem Asylantrag und einem entsprechenden Aufenthalt im westlichen Ausland zum gegenwärtigen Zeitpunkt als Ausdruck politisch missliebiger Gesinnung betrachtet.
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Wesentlich für den politischen Charakter der Verfolgungshandlung, der der aus der Bundesrepublik Deutschland zurückkehrende Asylbewerber mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sein wird, ist, dass nach der offiziellen Lesart des syrischen Regimes für die Unruhen im Land Kräfte aus dem Ausland verantwortlich sind. Dies wird der Bevölkerung täglich deutlich gemacht. Die Abneigung des Regimes gegen die westliche Haltung ergibt sich ebenso aus der Medienberichterstattung:
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So nahmen der amerikanische und der französische Botschafters an Demonstrationen in Hama teil (vgl. junge Welt, 13.07.2011 unter ag-friedensforschung.de, 13.07.2011 „Druck erhöht“; Berner Zeitung, 08.07.2011 „Syrien wirft USA Destabilisierung vor“), was als Einmischung in die inneren Angelegenheiten betrachtet wurde (vgl. Der Tagesspiegel, 11.07.2011 „Überläufer berichten von Schießbefehl“). Insofern ist auch zu berücksichtigen, dass sowohl Frankreich als auch die Vereinigten Staaten von Amerika seit Jahren Exilsyrer auch finanziell unterstützen (vgl. junge Welt, a. a. O.). Zudem waren Frankreich, Großbritannien, die Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland die treibenden Kräfte bei der Verabschiedung einer UN-Resolution gegen Syrien (vgl. Süddeutsche Zeitung, 21.07.2011 „Elf Tage für ein Signal an Assad“; junge Welt, a. a. O.; Focus.Online, 13.06.2011 „Führung bescheinigt Bürgern „Unmündigkeit““; vgl. auch Nachweise unten). Nunmehr sind insbesondere aus diesen Staaten Rücktrittsforderungen an den syrischen Präsidenten Assad gerichtet worden (vgl. Süddeutsche Zeitung, 19.08.2011).
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Inzwischen hat der US-Botschafter Robert Ford Syrien verlassen, weil er glaubhafte Drohungen gegen seine Person erhalten habe. Nach Informationen des Tagesssiegels (v. 26.10.11) habe es mindestens ein Dutzend schwerer Übergriffe auf westliche Botschaftsangehörige gegeben. Ein britischer Botschaftsangehöriger sei in Damaskus auf offener Straße zusammengeschlagen, worden. Drei kanadische Diplomaten seien zwei Stunden lang in ihrem Auto eingekeilt und zur Herausgabe des Chips gezwungen worden, nach dem sie einen Protestmarsch gefilmt hätten. Es heißt, Assad habe syrischen Menschenrechtsaktivisten ausrichten lassen, wer sich künftig noch mit westlichen Diplomaten treffe, werde auf der Stelle verhaftet. Auch ausländischen Journalisten sei die Berichterstattung verboten worden (Tagesspiegel, 31.12.2011).
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Gleich in der ersten Rede nach dem Ausbruch der Unruhen erklärte der syrische Präsident Assad, er sehe das Land einer Verschwörung ausgesetzt (vgl. NZZOnline, 30.03.2011 „Verschwörer wollen Syrien entzweien“; tagesschau.de 30.03.2011 „Assad sieht Verschwörung gegen Syrien“). Nach Berichten aus Syrien wurde seit Ausbruch der Unruhen jeden Tag im Fernsehen von „ausländischen Kräften“ gesprochen, die Syrien „destabilisieren“ wollten, die Berichterstattungen im Ausland über Syrien wurden als „Lügen“ bezeichnet (vgl. www.dw-world.de, 11.8.2011 „Westen fordert erneut Sanktionen gegen Syrien“; Faz.net, 16.08.2011 „Türkischer Außenminister überbringt „ernste“ Botschaft“; sueddeutsche.de, 15.06.2011 „Assads Regierung fordert Flüchtlinge zur Rückkehr auf“; Welt online, 06.04.2011 „Wie das Regime Oppositionelle verschleppt und tötet“; Die Welt, 06.04.2011 „Was die Ägypter können, das können wir schon lange“). Ferner berichte das syrische Staatsfernsehen, es gebe nur „islamische Extremisten“ und „gewalttätige Rebellen“ (vgl. spiegel.online, 17.06.2011 „Hinter der Grenze lauert das Grauen“). In einer Fernsehansprache vertrat der Präsident die Auffassung, Saboteure nutzten den Aufstand, der zum Teil durchaus legitime Forderungen habe, aus, das, was passiere, habe mit Reformen nichts zu tun, sondern sei „Vandalismus“ (vgl. NZZ unter http://uprising.blogsport.de, „Erneute Demonstrationen nach Assads Rede“). Ferner wird Assad mit den Worten zitiert „Verschwörungen machen uns nur stärker“ (vgl. sueddeutsche.de, 01.08.2011 „Deutschland fordert UN-Sondersitzung zu Syrien“). Die staatliche Nachrichtenagentur Sana soll nach einem Pressebericht (vgl. sueddeutsche.de, 18.06.2011 „Assads Regierung fordert Flüchtlinge zur Rückkehr auf“) gemeldet haben, viele Bewohner der Stadt Dschisr al Schughur seien in ihre Häuser zurückgekehrt „nachdem die Armee die Ortschaften von den Elementen der bewaffneten terroristischen Vereinigungen gesäubert hätten“. Im Hinblick auf die Vorkommnisse in diesem Ort sprechen auch Oppositionellen wohl von bewaffneten Kräften und geben zugleich an, man habe sich bewaffnet, um sich zu verteidigen (vgl. Neues Deutschland unter ag-friedensforschung.de, 11.07.2001 „Kritik kommt aus allen Schichten“; vgl. im Übrigen zur unklaren Lage in dem genannten Ort: Focus.Online, 14.06.2011 „Syrische Truppen setzen Razzia im Nordwesten fort“; Wiener Zeitung Online, 21.06.2011 „Syrische Panzer jetzt auch an der Grenze zum Irak“). Ein Vertreter der Union der Kommunisten, Chefredakteur der Wochenzeitung „Kassioun“ in Damaskus gab in einem Interview an, der Kampf in dem Ort Dschisr Al-Schugur sei nach seinen gesicherten Informationen von „Kräften aus dem Ausland“ „angeheizt“ worden, anfangs habe es friedliche Proteste gegeben und dann seien Bewaffnete aufgetaucht (vgl. junge Welt unter ag-friedensforschung.de, 09.07.2011). Er schätzte die Lage dahingehend ein, dass diese Kräfte von der Türkei, Israel und den Vereinigten Staaten von Amerika unterstützt worden seien. Ferner erklärte er, dem syrischen Regime sei die Meinung Deutschlands nicht wichtig, indes sei dasjenige, was Frankreich und England sagten, geeignet, dem Regime „Kopfschmerzen“ zu bereiten. Der syrische Außenminister erklärte auf einer Pressekonferenz, europäische Politiker hätten „Reaktionen gezeigt, die deutlich machen, dass sie vorhaben, Spaltung und Chaos in Syrien zu forcieren“ (vgl. junge Welt unter ag-friedensforschung.de, 23.06.2011 „Die Waffen nieder“). Der syrische Außenminister erklärte zuletzt gegenüber Vertretern aus Südafrika „extremistische Gruppen“ und „Terroristen“ hätten bereits über 500 syrische Soldaten getötet (vgl. Faz.net, 16.08.2011 „Türkischer Außenminister überbringt „ernste“ Botschaft“). Der Tagesspiegel (11.08.2011 „Die syrischen Botschaften“) zitiert Assad mit den Worten: „Syrien wird nicht davon ablassen, die bewaffneten terroristischen Gruppen zu verfolgen.“
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5.) Die vom Gericht festgestellte Gefahr der Folter ist auch beachtlich wahrscheinlich. Auch dies ergibt sich aus den aktuellen Informationen:
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Zwar ist das Stellen eines Asylantrages nicht unter Strafe gestellt, die illegale Ausreise indes sehr wohl (vgl. KurdWatch, 23.12.2010 „Al-Qamischli: Sechs Personen gefoltert wegen des Verdachts, Syrien illegal verlassen zu wollen“). Letztere ist auch in der Vergangenheit bereits zum Teil Anlass für Verhaftungen gewesen und zwar nach den Informationen des Auswärtigen Amtes selbst dann, wenn die syrischen Behörden vor der Wiedereinreise nach Syrien erklärt hatten, bei der Rückkehr seien keine Schwierigkeiten zu befürchten (vgl. Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für Syrien, Stand: 16.08.2011, gültig seit 04.08.2011 und bereits zuvor die Reisewarnung vom 19.07.2011, so gültig seit 23.05.2011). Insoweit ist auch zu beachten, dass in Syrien offensichtlich auch derjenige strafrechtlich belangt wird, der im „Ausland bewusst falsche Nachrichten verbreitet, die das Ansehen des Staates herabzusetzen geeignet sind“ (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.09.2010, S. 21). Denn einer der im September 2009 zurückgeführten Asylbewerber gab ausweislich des zitierten Lageberichts an, ihm sei vorgeworfen worden, Asyl beantragt und gegen eben jenen Tatbestand verstoßen zu haben (vgl. Lagebericht a. a. O.). In Syrien lauten Vorwürfe im Rahmen der Verfolgung politischer Delikte häufig auf Verbreitung falscher Nachrichten, die „die Moral der Nation und nationale Gefühle schwächen“ sowie „dem Ansehen Syriens im Ausland schaden“ (Art. 285 und 286 syrisches Strafgesetz), das „Anzetteln von Intrigen bei einem ausländischen Staat“ (Art. 264 syrisches Strafgesetz); das Strafmaß ist in der Regel unbestimmt („befristete Haftstrafe“) und für einen Verstoß gegen Art. 264 ist lebenslange Haft vorgesehen (vgl. Lagebericht vom 27.09.2010, S. 11, 12).
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Für die mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eintretende Gefahr für rückkehrende Asylbewerber spricht nicht zuletzt die Fortsetzung der Politik in Syrien trotz Kritik und Druck der internationalen Gemeinschaft. Zwar konnten sich die Vereinten Nationen nicht auf eine gemeinsame Resolution gegen Syrien einigen, indes wurde das Regime in Syrien durch eine in einer Präsidialerklärung enthaltene Verurteilung der Gewalt erheblich kritisiert (vgl. Tagesspiegel, 04.08.2011 „Panzer, Parolen, Präsidialerklärung“). Die Sitzung, die zu dieser Erklärung führte, wurde maßgeblich von Deutschland initiiert (vgl. sueddeutsche.de, 01.08.2011 „Deutschland fordert UN-Sondersitzung zu Syrien“). Die Vereinigten Staaten von Amerika verstärkten gleichfalls ihre Sanktionen gegen Syrien und arbeiten stetig daran, auch die EU zu härteren Maßnahmen zu bewegen (vgl. www.dw-world.de, 05.08.2011 „USA verstärken Sanktionen gegen Syrien“) und sind nach Presseberichten bemüht „bei der Bildung einer Oppositionsfront zu helfen“ (vgl. spiegel.online, 12.08.2011 „USA fordern von Europa mehr Druck auf Assad“). Sogar Russland, welches sich ansonsten mit Kritik sehr zurückgehalten und auch gemeinsam mit China eine Syrien verurteilende UN-Resolution verhindert hat, forderte inzwischen, den Einsatz von Gewalt und Repression sofort zu beenden (vgl. Tagesspiegel, 02.08.2011 „Assad führt Krieg gegen das eigene Volk“).
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Ganz erheblich engagiert ist der NATO-Partner Türkei, der sehr vehement das Ende der Militäroperationen fordert, wobei der türkische Außenminister erklärt hat, es gebe andernfalls nichts mehr zu bereden (www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de, 16.08.2011 „Türkei warnt Syrien: Armeeeinsatz stoppen!“). Saudi-Arabien und Kuwait zogen ihre Botschafter ab und die Arabische Liga kritisierte das Vorgehen Assads (vgl. FAZ.NET, 09.08.2011 „Türkischer Außenminister überbringt „ernste“ Botschaft“; sueddeutsche.de, 08.08.2011 „Türkei: Assad droht Schicksal wie Saddam Hussein“). Auch Jordanien und Vertreter der Palästinenser kritisieren Syrien (vgl. derStandard.at, 15.08.2011 „Türkei erhöht den Druck auf Syrien“). Syrien ist damit nahezu isoliert in der Region, treu bleiben nur der Libanon und der Iran (vgl. sueddeutsche.de, 08.08.2011 „Unter Rivalen“).
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Zuletzt berichtet die Süddeutsche Zeitung (Süddeutsche.de v. 02.04.2013), dass seit Ausbruch der Kämpfe vor zwei Jahren Menschenrechtsbeobachter den gewaltsame Tod von mehr als 60.000 Menschen und Tausende vermisste Personen dokumentierten. Zudem geraten Journalisten zunehmend in Gefahr. Nach dem Verdacht von Chemiewaffeneinsätzen durch das syrische Regime, lässt Assad UN-Inspekteure nicht in das Land (Süddeutsche.de v. 09.04.2013) und die Nato zeigt sich „extrem besorgt“ (Süddeutsche.de v. 24.04.2013).
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Dabei lässt sich die Wiedergabe dieser Berichterstattung in den Medien endlos fortsetzten, wobei dies nicht Aufgabe des Gerichts sein kann. Denn diese Tatsachen sind nunmehr als nicht nur gerichts- sondern auch öffentlichkeitsbekannt anzusehen.
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Die vorliegenden „amtlichen“ Einschätzungen sind vor diesem Hintergrund nur noch bedingt beachtlich. Unter Berücksichtigung der aktuellen, nunmehr seit mehreren Monaten andauernden Unruhen in Syrien kann insbesondere die „Mutmaßung“ des Auswärtigen Amtes, wonach den syrischen Behörden bekannt sei, dass der Aufenthalt in Deutschland oft nur auf der Basis behaupteter politischer Verfolgung erfolge und weder die Asylantragstellung noch der langjährige Auslandsaufenthalt für sich allein ein Grund für Verhaftung oder Repressalien sei (vgl. Lagebericht vom 27.09.2010, S. 21), der das Gericht in der Vergangenheit durchaus gefolgt ist, so nicht mehr gelten. Zum einen scheint das Auswärtige Amt seinen Worten selbst nicht mehr wirklich zu glauben, wenn es in der Reisewarnung, und zwar bereits vor dem 23.05.2011 (so auch bereits am 04.04.2011), mitteilt, es komme zu Verhaftungen wegen illegaler Ausreise und langjährigen Aufenthalt, zum anderen widerspricht letztlich schon der Lagebericht der eigenen Einschätzung, wenn dort ausgeführt wird, im Jahr 2009 sei einem Rückkehrer die Asylantragstellung vorgehalten worden und Anlass zur Inhaftierung gewesen. Hinzu kommt, dass das Bundesministerium des Innern in einem Schreiben vom 28.04.2011, gerichtet an die Innenminister der Länder, erklärt hat, es sei nicht ratsam bis zur Klärung der Verhältnisse in Syrien tatsächlich Abschiebungen vorzunehmen. Schließlich hat auch die Bundesregierung selbst in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage von Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE vom 19.04.2011 (Drucksache 17/5679) mitgeteilt, sie halte es für grundsätzlich unangebracht, Einzelheiten aus Asylverfahren öffentlich zu erörtern, da dies zu einer Gefährdung der Betroffenen oder ihrer Angehörigen im Heimatland führen könne (vgl. S. 2 der Drucksache).
- 53
Ebenso führt der Minister für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt mit Bezug auf den Runderlass vom 05.05.2011 (42.31-12231) in seinem Schreiben vom 16.02.2012 an die Ausländerbehörden des Landes aus:
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„Nach einer aktuellen Lageeinschätzung des Auswärtigen Amtes ist nicht auszuschließen, dass mit der Übermittlung der Personalien von Personen syrischer Herkunft an die syrische Botschaft in Deutschland die hier lebenden Personen und deren in Syrien lebenden Familienangehörigen gefährdet werden können. Unter Berücksichtigung dieser Einschätzung wird in Ergänzung des Bezugerlassens gebeten, von Kontaktaufnahmen mit syrischen Stellen zur Identitätsklärung vermutlich syrischer Staatsangehöriger und von der Beauftragung von Vertrauensanwälten in Syrien mit der Beschaffung und Überprüfung von Registerauszügen abzusehen.“
- 55
Schließlich sind mutmaßliche syrische Agenten in Berlin unter dem Verdacht der geheimdienstlichen Agententätigkeit nach § 99 StGB festgenommen worden (Tagesspiegel, 08.02.2012). Bei Demonstrationen fotografierten sie die Teilnehmer und leiteten die Bilder und andere Informationen nach Damaskus weiter (Tagesspiegel, 09.02.2012). Ein Interesse des syrischen Staates auch an den sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhaltenden syrischen Staatsbürgern steht für die Kammer deshalb außer Frage.
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6.) Unter Berücksichtigung der beschriebenen weiterhin aktuellen Lage in Syrien ist es mithin beachtlich wahrscheinlich, dass der Asylbewerber bei der Einreise nicht nur der üblichen Befragung unterzogen wird, sondern von Folter bedroht sein wird. Davon geht im Übrigen nunmehr auch das OVG Nordrhein-Westfalen in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung aus (Urteil v. 14.02.2012, 14 A 2708/10.A; juris).
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Davon ist auch deswegen auszugehen, weil Asylbewerber selbst im deutschen Exil dem Druck von Anhängern des syrischen Regimes ausgesetzt seien, wie der Fall einer vom Gericht anerkannten Asylbewerberin aus Syrien zeigt (sueddeutsche.de; Sippenhaft auf syrisch). Auch nach einem Bericht von Amnesty International würden Angehörige von Exil-Syrern in der Heimat eingeschüchtert, eingesperrt und gefoltert, auch wenn sie sich selbst nicht an Protesten beteiligten. Der Tagesspiegel berichtet unter dem 28.12.2011, dass der für die syrische Opposition aktive Berliner Grünen Politiker Ferhad Ahma mutmaßlich von Mitarbeitern des syrischen Geheimdienstes in seiner Berliner Wohnung überfallen worden sei.
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Die vorstehend aufgezeigte politische Situation hat den Druck auf den syrischen Staat dahingehend verschärft, dass er Rückkehrern, die - wie der syrische Staat weiß - die Situation in Syrien vom Ausland aus unter Zuhilfenahme unabhängiger Berichterstattung beurteilen konnten, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit oppositionelles Gedankengut unterstellen wird. Jedenfalls wird er ein besonderes Bedürfnis haben, festzustellen, ob und in welcher Weise aus dem Ausland zurückkehrende Personen zur politischen Gegnerschaft gehören. Es bestehen insbesondere vor dem Hintergrund der oben dargestellten Situation beachtliche Anhaltspunkte, dass der syrische Staat solche Personen, die das Land illegal verlassen haben, in stigmatisierender Art und Weise politische Gegnerschaft unterstellt. Die Ereignisse der letzten Monate in Syrien sind Beleg dafür, dass der syrische Staat auf Personen, denen er oppositionelles Verhalten unterstellt, wofür kein erhebliches „Fehlverhalten“ notwendig ist, also auch die illegale Ausreise und der Aufenthalt im europäischen Ausland ausreicht, in Leib und Leben zumindest gefährdender Art und Weise zugreift. Vor dem Hintergrund der dem Asylbewerber insoweit drohenden Rechtsverletzung kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein vernünftiger besonnener Mensch in der Lage des Asylbewerbers in den Heimatstaat zurückkehren würde. Diese Rückkehr ist derzeit unzumutbar, eine baldige Änderung der politischen Situation ist nicht zu erwarten.
- 59
II.) Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.
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III.) Dem Kläger ist Prozesskostenhilfe im erfolgten Umfang zu gewähren, da die Voraussetzungen der §§ 166 VwGO, 114 ZPO vorliegen.
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(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.
(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.
(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.
(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.
(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.
(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.
(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.
(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.
(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.
(11) (weggefallen)
(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.
(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.
(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
(1) Die Behörde hat auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn
- 1.
sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat; - 2.
neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden; - 3.
Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung gegeben sind.
(2) Der Antrag ist nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen.
(3) Der Antrag muss binnen drei Monaten gestellt werden. Die Frist beginnt mit dem Tage, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erhalten hat.
(4) Über den Antrag entscheidet die nach § 3 zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der Verwaltungsakt, dessen Aufhebung oder Änderung begehrt wird, von einer anderen Behörde erlassen worden ist.
(5) Die Vorschriften des § 48 Abs. 1 Satz 1 und des § 49 Abs. 1 bleiben unberührt.
(1) In Anwendung des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Dies gilt auch für Asylberechtigte und Ausländer, denen die Flüchtlingseigenschaft unanfechtbar zuerkannt wurde oder die aus einem anderen Grund im Bundesgebiet die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen oder die außerhalb des Bundesgebiets als ausländische Flüchtlinge nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge anerkannt sind. Wenn der Ausländer sich auf das Abschiebungsverbot nach diesem Absatz beruft, stellt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge außer in den Fällen des Satzes 2 in einem Asylverfahren fest, ob die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen und dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist. Die Entscheidung des Bundesamtes kann nur nach den Vorschriften des Asylgesetzes angefochten werden.
(2) Ein Ausländer darf nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Absatz 1 des Asylgesetzes bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Absatz 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend.
(3) Darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, weil dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe besteht, finden die Vorschriften über die Auslieferung entsprechende Anwendung.
(4) Liegt ein förmliches Auslieferungsersuchen oder ein mit der Ankündigung eines Auslieferungsersuchens verbundenes Festnahmeersuchen eines anderen Staates vor, darf der Ausländer bis zur Entscheidung über die Auslieferung nur mit Zustimmung der Behörde, die nach § 74 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen für die Bewilligung der Auslieferung zuständig ist, in diesen Staat abgeschoben werden.
(5) Ein Ausländer darf nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
(6) Die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und, soweit sich aus den Absätzen 2 bis 5 nicht etwas anderes ergibt, die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung stehen der Abschiebung nicht entgegen.
(7) Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 60a Absatz 2c Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist. Gefahren nach Satz 1, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 zu berücksichtigen.
(8) Absatz 1 findet keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des Asylgesetzes erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.
(9) In den Fällen des Absatzes 8 kann einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden. Die Absätze 2 bis 7 bleiben unberührt.
(10) Soll ein Ausländer abgeschoben werden, bei dem die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, kann nicht davon abgesehen werden, die Abschiebung anzudrohen und eine angemessene Ausreisefrist zu setzen. In der Androhung sind die Staaten zu bezeichnen, in die der Ausländer nicht abgeschoben werden darf.
(11) (weggefallen)
(1) Wer
- 1.
für den Geheimdienst einer fremden Macht eine geheimdienstliche Tätigkeit gegen die Bundesrepublik Deutschland ausübt, die auf die Mitteilung oder Lieferung von Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen gerichtet ist, oder - 2.
gegenüber dem Geheimdienst einer fremden Macht oder einem seiner Mittelsmänner sich zu einer solchen Tätigkeit bereit erklärt,
(2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, die von einer amtlichen Stelle oder auf deren Veranlassung geheimgehalten werden, mitteilt oder liefert und wenn er
- 1.
eine verantwortliche Stellung mißbraucht, die ihn zur Wahrung solcher Geheimnisse besonders verpflichtet, oder - 2.
durch die Tat die Gefahr eines schweren Nachteils für die Bundesrepublik Deutschland herbeiführt.
(3) § 98 Abs. 2 gilt entsprechend.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.
(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.
(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.
(1) Die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Prozesskostenhilfe sowie § 569 Abs. 3 Nr. 2 der Zivilprozessordnung gelten entsprechend. Einem Beteiligten, dem Prozesskostenhilfe bewilligt worden ist, kann auch ein Steuerberater, Steuerbevollmächtigter, Wirtschaftsprüfer oder vereidigter Buchprüfer beigeordnet werden. Die Vergütung richtet sich nach den für den beigeordneten Rechtsanwalt geltenden Vorschriften des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes.
(2) Die Prüfung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse nach den §§ 114 bis 116 der Zivilprozessordnung einschließlich der in § 118 Absatz 2 der Zivilprozessordnung bezeichneten Maßnahmen, der Beurkundung von Vergleichen nach § 118 Absatz 1 Satz 3 der Zivilprozessordnung und der Entscheidungen nach § 118 Absatz 2 Satz 4 der Zivilprozessordnung obliegt dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des jeweiligen Rechtszugs, wenn der Vorsitzende ihm das Verfahren insoweit überträgt. Liegen die Voraussetzungen für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe hiernach nicht vor, erlässt der Urkundsbeamte die den Antrag ablehnende Entscheidung; anderenfalls vermerkt der Urkundsbeamte in den Prozessakten, dass dem Antragsteller nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen Prozesskostenhilfe gewährt werden kann und in welcher Höhe gegebenenfalls Monatsraten oder Beträge aus dem Vermögen zu zahlen sind.
(3) Dem Urkundsbeamten obliegen im Verfahren über die Prozesskostenhilfe ferner die Bestimmung des Zeitpunkts für die Einstellung und eine Wiederaufnahme der Zahlungen nach § 120 Absatz 3 der Zivilprozessordnung sowie die Änderung und die Aufhebung der Bewilligung der Prozesskostenhilfe nach den §§ 120a und 124 Absatz 1 Nummer 2 bis 5 der Zivilprozessordnung.
(4) Der Vorsitzende kann Aufgaben nach den Absätzen 2 und 3 zu jedem Zeitpunkt an sich ziehen. § 5 Absatz 1 Nummer 1, die §§ 6, 7, 8 Absatz 1 bis 4 und § 9 des Rechtspflegergesetzes gelten entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Rechtspflegers der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle tritt.
(5) § 87a Absatz 3 gilt entsprechend.
(6) Gegen Entscheidungen des Urkundsbeamten nach den Absätzen 2 und 3 kann innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe die Entscheidung des Gerichts beantragt werden.
(7) Durch Landesgesetz kann bestimmt werden, dass die Absätze 2 bis 6 für die Gerichte des jeweiligen Landes nicht anzuwenden sind.