Verwaltungsgericht Köln Urteil, 22. Dez. 2015 - 2 K 6214/14.A
Tenor
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 03. November 2014 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
1
T a t b e s t a n d:
2Der in Maydan Wardak/Afghanistan geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger. Er reiste am 13. Juni 2014 in das Bundesgebiet und stellte hier am 25. Juni 2014 den Asylantrag.
3Durch Bescheid vom 03. November 2014 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziff. 1) und ordnete dessen Abschiebung nach Ungarn an (Ziff. 2). Zur Begründung führte das Bundesamt aus, nach Abgleich der Daten des Klägers in der EURODAC-Datenbank seien Anhaltspunkte für die Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des Asylbegehrens nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-VO) gegeben. Auf ein entsprechendes Ersuchen des Bundesamtes vom 16. August 2014 hätten die ungarischen Behörden sich durch Schreiben vom 19. August 2014 (Eingangsdatum:25. August 2014) bereit erklärt, den Kläger nach Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO wieder aufzunehmen. Unter dem 10. November 2014 sandte das Bundesamt den Bescheid als Einschreiben an den Prozessbevollmächtigten des Klägers.
4Der Kläger hat am 11. November 2014 Klage erhoben.
5Er macht geltend, seine Überstellung nach Ungarn sei rechtswidrig. Das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Staat wiesen nämlich systemische Schwachstellen auf, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. Zuständig für die Prüfung des Antrags sei deshalb die Beklagte. Im Übrigen sei er minderjährig und unbegleitet in das Bundesgebiet eingereist, weshalb auf ihn Art. 8 Dublin III-VO anzuwenden sei, wonach die Beklagte für die Prüfung seines Begehrens ebenfalls zuständig sei. Darüber hinaus leide er an einer akuten und chronischen posttraumatischen Belastungsstörung. Diesbezüglich hat er eine gutachterliche Stellungnahme einer Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie vom 09. September 2015 vorgelegt.
6Der Kläger beantragt,
7den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 03. November 2014 aufzuheben.
8Die Beklagte beantragt,
9die Klage abzuweisen.
10Zur Begründung verweist sie auf die Begründung in der angefochtenen Entscheidung.
11Das Gericht hat die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung durch Beschluss vom 26. Januar 2015 (Az.: 2 L 2236/14.A) angeordnet. Mit Beschlüssen vom 26. Januar 2015 und 03. Juli 2015 hat die Kammer Beweis erhoben durch Einholung von Auskünften bei der EASO und der Europäischen Kommission. Darüber hinaus hat die Kammer unter dem 30. Oktober 2015 eine Anfrage betreffend die Rückführungspraxis nach Ungarn an das Bundesamt gerichtet. Hinsichtlich der Ergebnisse wird auf die Schreiben der Europäischen Kommission vom 30. Oktober 2015 und des Bundesamtes vom 20. November 2015 verwiesen.
12Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte dieses Verfahrens und des Verfahren Az: 2 L 2236/14.A sowie auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes Bezug genommen.
13E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
14Die zulässige Anfechtungsklage,
15zu deren Statthaftigkeit auch, soweit es um die Aufhebung von Ziffer 1 des angegriffenen Bescheides geht, vgl. jetzt BVerwG, Urteil vom 27. Oktober 2015 – 1 C 32.14 -, juris Rz. 13 ff.,
16ist begründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 03. November 2014 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat zu Unrecht den Asylantrag des Klägers nach § 27 a AsylVfG (jetzt AsylG) als unzulässig abgelehnt und auf der Grundlage des § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG (jetzt AsylG) die Abschiebung des Klägers nach Ungarn angeordnet.
171. Die Ablehnung des Antrags des Klägers als unzulässig unter Ziffer 1. des angefochtenen Bescheides ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz AsylG) rechtswidrig, weil sie nicht im Einklang mit § 27 a AsylG steht. Nach dieser Bestimmung ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Zwar bestand hier formal nach Art. 18 Abs. 1 b der Dublin III-VO, die im vorliegenden Fall Anwendung findet (vgl. Art. 49 Dublin III-VO), eine Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des (erneuten) Asylantrags des Klägers, weil dieser zuvor dort einen Asylantrag gestellt hatte und die ungarischen Behörden einer Wiederaufnahme des Klägers zugestimmt hatten. Gleichwohl ist heute die Beklagte für die Prüfung des Begehrens des Klägers zuständig. Insoweit bedarf es keiner Entscheidung des Gerichts, ob sich die Zuständigkeit der Beklagten aus Art. 8 Dublin III-VO ergibt, wie der Kläger geltend macht. Im heute maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts ist die Beklagte jedenfalls auf der Grundlage von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig. Denn seine Überstellung nach Ungarn erweist sich als unmöglich, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in diesem Mitgliedstaat der Europäischen Union systemische Schwachstellen aufweist, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen und die weitere Prüfung nach einem zuständigen Mitgliedstaat nach Ablauf der Fristen für die Stellung von Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen (vgl. Art. 21 und 23 Dublin III-VO) keinen Erfolg verspricht.
18a) Die im vorliegenden Fall Anwendung findende Dublin III-VO beruht auf der Erwartung, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens gilt daher grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechtecharta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine unwiderlegbare Vermutung. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten nicht vereinbar ist. Zwar genügt nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat und nicht jeder geringste Verstoß gegen die Richtlinien, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Ist jedoch ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 Grundrechtecharta implizieren, so ist die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. In solchen Situationen obliegt es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ im Sinne der Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 Grundrechtecharta ausgesetzt zu werden.
19Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 – Rs C-411/10 und C-493/10, N.S. und M.E. –, juris; EGMR, Urteil vom 21.01.2011 – 30696/09 – M.S.S. / Belgien und Griechenland – und Urteil vom 04.11.2014 – 29217/12 – Tarakhel / Italien –.
20Der Begriff des systemischen Mangels ist weit zu verstehen. Mit „Asylverfahren und Aufnahmebedingungen“ ist der Gesamtkomplex des Asylsystems im Zielstaat gemeint. Dieses umfasst den Zugang zum Asylverfahren, das Asylverfahren selbst, die Behandlung während des Asylverfahrens, die Handhabung der Anerkennungsvoraussetzungen, das Rechtsschutzsystem und auch die in der Genfer Flüchtlingskonvention und der Qualifikationsrichtlinie geregelte Behandlung nach der Anerkennung.
21Vgl. Lübbe. „Systemische Mängel“ in Dublin-Verfahren, ZAR 2014, 105 ff; Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182 ff.
22Systemische Mängel im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des EuGH sind dabei nicht auf flächendeckende gravierende Systemausfälle (wie etwa für Griechenland festgestellt) beschränkt, sondern erfassen generell solche, die im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und deshalb den Einzelnen vorhersehbar und regelhaft treffen. Auch tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem – aus welchen Gründen auch immer – faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weitgehend unwirksam wird, können einen systemischen Mangel darstellen. Nicht systemisch ist demgegenüber ein Mangel dann, wenn es lediglich in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK kommt.
23Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19.03.2014 – 10 B 6.14 – und vom 06.06.2014 – 10 B 35.14 –; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.11.2014 – A 11 S 1778/14 –, alle: juris.
24Im Falle des Vorliegens systemischer Mängel ist es ferner erforderlich, dass der einzelne Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, hiervon im Falle einer Überstellung in den Zielstaat selbst betroffen zu sein. Bei flächendeckenden systemischen Mängeln bedarf dies keiner besonderen Darlegung. Bei systemischen Mängeln, die sich nur auf Teilgruppen oder vereinzelt auswirken, müssen weitere besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen bzw. geltend gemacht werden, die eine Betroffenheit des Einzelnen beachtlich wahrscheinlich machen.
25Vgl. Lübbe, a. a. O.
26Bei der Beurteilung der Situation in einem Mitgliedstaat und der für einen Asylbewerber dort bestehenden tatsächlichen Risiken im Falle einer Überstellung sind Stellungnahmen des UNHCR ebenso heranzuziehen wie regelmäßige und übereinstimmende Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen sowie sonstige Berichte der europäischen Institutionen, insbesondere der Kommission.
27Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011, a. a. O., sowie vom 30.05.2013 – C-528/11 –, juris.
28Für die Rechtsfrage einer Verletzung von Art. 3 EMRK hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) eine Orientierungs- und Leitfunktion.
29b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und nach Auswertung der aktuellen Auskunfts- und Erkenntnislage zu Ungarn steht es im Sinne von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zur Überzeugung der Kammer fest, dass dem Kläger bei einer Überstellung nach Ungarn schon wegen der dort aktuell gegebenen Aufnahmebedingungen für Antragsteller, die um internationalen Schutz nachsuchen, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der Grundrechtecharta und der EMRK droht.
30Ungarn ist heute an die in der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen - Aufnahmerichtlinie (ABl. L 180 S. 96) - festgelegten Mindeststandards gebunden. Dieses Regelwerk soll u.a. sicherstellen, dass Antragstellern ein menschenwürdiges Leben in den Mitgliedstaaten ermöglicht wird und vergleichbare Lebensbedingungen in allen Mitgliedstaaten gewährleisten (vgl. den Erwägungsgrund 11 der Richtlinie). Antragsteller werden in einem Mitgliedstaat unmenschlich oder erniedrigend behandelt, wenn ihnen nicht die unerlässlichen Leistungen der Daseinsvorsorge gewährt werden, die ihnen nach der Aufnahmerichtlinie zustehen. Ihnen müssen während der Dauer des Asylverfahrens die notwendigen Mittel zur Verfügung stehen, mit denen sie ihre elementaren Grundbedürfnisse (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) in zumutbarer Weise befriedigen können. Als Maßstab sind die Art. 17 und 18 der Aufnahmerichtlinie mit den dort geregelten zeitlich begrenzten Einschränkungsmöglichkeiten bei vorübergehenden Unterbringungsengpässen und der Verpflichtung, auch in diesen Fällen die Grundbedürfnisse zu decken, heranzuziehen.
31Vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, juris, unter Hinweis auf die Entscheidungen des EGMR vom 21. Januar 2011 – 30696/09 -, NVwZ 2011, 413 und des EuGH vom 27. Februar 2014 – C- 79/13 - juris; VG Oldenburg, Urteil vom 2.November 2015 – 12 A 2572/15 -, juris.
32Diesen Anspruch auf Befriedigung der Grundbedürfnisse haben nach der Aufnahmerichtlinie nicht nur besonders schutzbedürftige Personen wie Familien/Alleinstehende mit Kleinkindern oder Kranke mit besonderen medizinischen Versorgungsansprüchen, sondern alle Asylsuchenden und somit auch alleinstehende, junge und gesunde männliche Personen. Auch diese sind im dargestellten Umfang vor Obdachlosigkeit, Unterernährung, Gewalt und gesundheitsgefährdenden Umständen in Unterkünften zu schützen.
33Die Aufnahmebedingungen für Antragsteller, die in Ungarn um internationalen Schutz nachsuchen, werden diesen Mindeststandards nach der aktuellen Auskunfts- und Erkenntnislage nicht gerecht. In Ungarn herrschen mit Blick auf die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen extreme Kapazitätsprobleme. Bis zum 14. Juli 2015 sollen im Jahr 2015 78.000 Flüchtlinge registriert worden sein.
34Vgl. Pressemitteilung des ungarischen Ministry of Foreign Affairs and Trade vom 14.07.2015 „Steady migratory pressure necessitates border fence”.
35Im September 2015 nannte die Europäische Kommission eine Zahl von inzwischen 98.072 Asylanträgen in Ungarn im Jahr 2015.
36Vgl. VG Oldenburg, Urteil vom 2.November 2015 – 12 A 2572/15 -, juris Rz. 26.
37Inzwischen ist in der Presse sogar die Rede von mehr als 180.000 Asylbewerbern, die nach der Einreise in Ungarn registriert worden seien.
38Vgl. FAZ vom 12. November 2015 „Lob aus Wien, Warnungen aus Budapest“.
39Demgegenüber verfügt Ungarn über eine Aufnahmekapazität von höchstens 2.500 Plätzen für Flüchtlinge.
40Vgl. EASO, Beschreibungen des ungarischen Asylsystems, Stand März 2015; Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Freiburg vom 12. März 2015.
41Es liegt auf der Hand und bedarf keiner weiteren Begründung, dass bei einem derart eklatanten Missverhältnis eine auch nur annähernd menschenwürdige Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen objektiv nicht gewährleistet werden kann, diese im Gegenteil gezwungen sind, schutzlos auf der Straße oder in der freien Natur zu leben. In den der Kammer zu Verfügung stehenden Berichten wird dies ausdrücklich bestätigt. Human Rights Watch berichtet detailliert davon, dass in den Flüchtlingslagern in Ungarn „entsetzliche Zustände“ herrschten, der Zugang zu Nahrung, Wasser und medizinischer Versorgung sei nicht gewährleistet,
42vgl. Human Rights Watch Bericht vom 11. September 2015.
43Diese in Ungarn objektiv fehlenden Unterbringungs- und Versorgungsmöglichkeiten bedeuten allerdings noch nicht, dass eine systemische Schwachstelle im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO gegeben ist. Zum systemischen Mangel wird die festgestellte Schwachstelle erst dann, wenn der betroffene Mitgliedstaat nicht nur nicht in der Lage ist, sondern vor allem auch nicht den Willen zeigt, die Aufnahmebedingungen für Antragsteller zu verbessern, indem er sich erkennbar darum bemüht, die Unterkunftsmöglichkeiten und die Versorgung der Flüchtlinge nachhaltig zu verbessern.
44Ebenso VG Oldenburg, Urteil vom 2. November 2015 – 12 A 2572/15 – juris.
45So liegt der Fall allerdings hier. Der ungarische Staat ist offenkundig nicht willens, seine europarechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen. Dies zeigen die seit dem Sommer 2015 ergriffenen Maßnahmen der zuständigen ungarischen Stellen. Ungarn betreibt eine offene Politik der Abschottung gegen den Zuzug von Flüchtlingen und hat als erstes Land einen Grenzzaun zur Abwehr weiterer Flüchtlinge errichtet. Das Land hat erklärt, dass es eine nennenswerte Zuwanderung sog. „Wirtschaftsflüchtlinge“ nicht wünsche und keine multikulturelle Gesellschaft werden wolle.
46Aus den vielen Pressberichten vgl. nur Pro Asyl, Pressemitteilung vom 7. Juli 2015 „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“; amnesty international, Fenced out – Hungary´s violations of the rights of refugees and migrants (Report von Oktober 2015); Die Welt vom 24. Juni 2015 „Flüchtlingskrise: Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat“; SZ vom 24. Juni 2015 „Die ungarische Regierung will Flüchtlinge ab sofort aussperren“; n-tv vom 29. August 2015 „Stacheldraht gegen Flüchtlinge – Ungarn stellt erste Grenz-Sperranlage fertig“; FAZ vom 1. September 2015 „ Ungarn schottet sich mit Stacheldraht ab“.
47Die aktuelle Flüchtlingskrise hat der ungarische Ministerpräsident als „ein deutsches Problem“ bezeichnet.
48Vgl. Zeit Online vom 3. September 2015.
49Das „Dublin System“ hat der ungarische Aussenminister in einer aktuellen Verlautbarung vom 11. November 2015 für „tot“ erklärt.
50Vgl. Pressemitteilung der ungarischen Regierung vom 11. November 2015, abrufbar unter http://www.kormany.hu/en/ministry-of-foreign-affairs-and-trade/news/dublin-system-is-dead-there-is-no-reason-why-rules-relating-to-repatriation-should-apply.; ferner FAZ vom 12. November 2015 „Lob aus Wien, Warnungen aus Budapest“.
51Ganz aktuell hat der ungarische Ministerpräsident Orban seine Haltung gegenüber Flüchtlingen zusammengefasst mit den Worten: „Wir wollen diese Menschen nicht haben.“
52Vgl. FAZ vom 15. Dezember 2015.
53Nach allem ist das Gericht davon überzeugt, dass Antragstellern wie dem Kläger, die um internationalen Schutz nachsuchen, wegen der zur Zeit in Ungarn gegebenen Aufnahmebedingungen, die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der Grundrechtecharta und der EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht und es deshalb im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO unmöglich ist, sie in diesen Staat zu überstellen.
54So auch VG Oldenburg, Urteil vom 2. November 2015 – 12 A 2572/15 – juris m.w.N. aus der Rechtsprechung; ferner VG Köln, Urteil vom 15. Juli 2015 – 3 K 2005/15.A – juris; VG Köln, Urteil vom 8. September 2015 – 18 K 4584/15.A – juris; a.A etwa VG Stade, Beschluss vom 4. November 2015 – 1 B 1749/15 – juris.
55Die Antwort der Europäischen Kommission vom 30. Oktober 2015 an die erkennende Kammer auf deren Beweisbeschlüsse in den Verfahren 2 K 6465/14.A und 2 K 6214/14.A steht dieser Bewertung nicht entgegen. Denn sie ist ohne belastbare Aussagekraft und deshalb nicht geeignet, die Überzeugung des Gerichts zu erschüttern. Die Kommission verlautbart in dieser Mitteilung zunächst selbst, dass die zuständige Generaldirektion wiederholt Erfahrungsberichte diverser Einrichtungen bekomme, die vor Ort in Ungarn tätig seien und die „Anlass zur Sorge in Bezug auf das Funktionieren des ungarischen Asylverfahrens“ gäben. Die Kommission sieht sich allerdings zur Zeit außerstande, zuverlässige und gültige Informationen über das tatsächliche Funktionieren des ungarischen Asylsystems zu geben, weist zugleich aber darauf hin, sie prüfe die Vereinbarkeit der von Ungarn vorgenommen Rechtsänderungen des nationalen Asylsystems und trete zu diesem Zweck mit den ungarischen Behörden in Kontakt.
56Ebenso wenig steht die Tatsache, dass es noch keine Empfehlung der UNHCR gibt, Überstellungen von Antragstellern nach Ungarn wegen der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung auszusetzen, der Einschätzung der Kammer entgegen. Denn der UNHCR hat in seiner Stellungnahme vom 30. September 2014 an das VG Bremen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er derartige Empfehlungen bislang lediglich in Ausnahmekonstellationen ausgesprochen habe und aus der Tatsache des Fehlens einer Äußerung in einem UNHCR-Papier, ob bestimmte Mängel einer Überstellung in den betreffenden Staat entgegenstünden, nicht geschlossen werden könne, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehenden Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Dies sei deshalb der Fall, weil sich die betreffenden Papiere zumeist in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die betreffende Regierung richteten. Es sei vielmehr – so der UNHCR - die Aufgabe der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat ausschließen.
57Vgl. UNHCR vom 30. September 2014 an das VG Bremen.
58Schließlich hindert auch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vom 03.07.2014 (Mohammadi / Österreich, Nr. 71932/12) die Einschätzung des Gerichts nicht. Die Entscheidung des EGMR, dass ein Asylsuchender zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr einer tatsächlichen und persönlichen Gefahr unterliege, bei einer Überstellung nach Ungarn nach den Maßgaben der Dublin-Verordnung einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die Art. 3 EMRK verletzen würde, beruht im Wesentlichen auf der Erwartung, dass die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in Ungarn zu einer positiven Entwicklung des ungarischen Asylsystems führen würden. Diese Erwartungen haben sich indessen – wie die oben dargelegten aktuellen Erkenntnisse zu den zur Zeit in Ungarn herrschenden Aufnahmebedingungen für Antragsteller belegen – offensichtlich nicht erfüllt.
59Ebenso VG Köln, Urteil vom 15. Juli 2015 – 3 K 2005/15.A – juris; VG Köln, Urteil vom 8. September 2015 – 18 K 4584/15.A – juris.
60Ob dem Kläger darüber hinaus auch wegen der in Ungarn bestehenden Inhaftierungspraxis und wegen der Haftbedingungen in diesem Land die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 Grundrechtecharta droht und er auch deshalb nicht nach Ungarn überstellt werden darf,
61so etwa VG Köln, Urteil vom 15. Juli 2015 – 3 K 2005/15.A – juris; ferner VG Köln, Urteil vom 8. September 2015 – 18 K 4584/15.A – juris; VG Oldenburg, Urteil vom 2. November 2015 – 12 A 2572/15 – juris; a.A. u.a. VG Stade, Beschluss vom 4. November 2015 – 1 B 1749/15 – juris,
62oder systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO aufgrund der Rechtsänderungen im ungarischen Asylrecht durch die Asylrechtsnovelle im August 2015 begründet werden,
63so VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 2. Dezember 2015 - 22 K 3263/15.A –,
64bedarf mit Blick auf die obigen Ausführungen keiner Entscheidung durch die Kammer.
652. Die unter Ziff. 2 des angefochtenen Bescheides weiterhin erlassene Abschiebungsanordnung nach Ungarn ist im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ebenfalls rechtswidrig und – weil den Kläger in seinen Rechten verletzend – nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben. Sie findet ihre Rechtsgrundlage heute nicht in § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat (§ 26 a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27 a) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
66a) Diese Voraussetzungen sind hier heute nicht gegeben. Wie das Gericht soeben dargelegt hat, ist Ungarn nicht der für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständige Staat im Sinne von § 27 a AsylG. Eine Abschiebung des Klägers nach Ungarn als sicheren Drittstaat im Sinne von § 26 a AsylG scheidet ebenfalls aus. Denn die Drittstaatenregelung findet nach § 26 a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylG keine Anwendung, wenn die Bundesrepublik Deutschland – wie dies hier der Fall ist – aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
67b) Die Abschiebungsanordnung ist unabhängig davon im Übrigen auch deshalb rechtswidrig, weil im Sinne von § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht mit der erforderlichen Gewissheit feststeht, dass die Abschiebung des Klägers nach Ungarn durchgeführt werden kann. Die Annahme, dass eine Abschiebung im Sinne von § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG durchgeführt werden kann, setzt die zuverlässige Prognose voraus, dass eine Überstellung des Antragstellers an den ersuchten Mitgliedstaat in überschaubarer Zukunft tatsächlich möglich ist und durchgeführt werden kann. Abschiebungsanordnungen sollen nicht gewissermaßen auf Vorrat ausgesprochen werden, sondern als Akt der Verwaltungsvollstreckung Grundlage für eine zügige Überstellung des Antragstellers in den Zielstaat der Abschiebung sein. Damit unvereinbar ist - auch aus europarechtlicher Sicht - der Erlass einer Abschiebungsanordnung, deren tatsächlicher Vollzug in zeitlicher Hinsicht völlig ungewiss ist.
68Gerade so liegt der Fall aber hier. Denn eine Prognose, dass der Kläger in überschaubarer Zukunft nach Ungarn überstellt werden kann, kann nicht verlässlich getroffen werden. Überstellt worden sind in diesem Jahr in den ersten Monaten von Deutschland nach Ungarn gemessen an der Zahl der Übernahmeersuchen maximal 2% der Flüchtlinge.
69Vgl. VG Oldenburg, Urteil vom 2. November 2015 – 12 A 2572/15 – juris; VG Freiburg, Urteil vom 13. Oktober 2015 – A 5 K 2328/13 – juris; VG Köln, Urteil vom 8. September 2015 – 18 K 4584/15.A – juris;
70Diese extrem niedrige Zahl an Überstellungen hat sich offensichtlich auch in den Folgemonaten fortgesetzt. Dies folgt aus der Auskunft des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 20. November 2015 in den Verfahren 2 K 6465/14.A und 2 K 6214/14.A an die erkennende Kammer. Darin hat das Bundesamt auf entsprechende Nachfrage mitgeteilt, im Zeitraum vom 1. Juni 2015 bis zum 30. September 2015 seien insgesamt 65 Personen im Rahmen der Dublin-VO von Deutschland nach Ungarn überstellt worden. Diese insgesamt niedrige Zahl – so das Bundesamt selbst weiter – hänge auch mit der Kontingentierung von Überstellungen durch die ungarischen Behörden zusammen. Von Montag bis Donnerstag könnten täglich im Durchschnitt 12 Personen auf dem Luftweg im Rahmen des Dublin-Verfahrens zum Flughafen Budapest überstellt werden. Das Kontingent werde nur von Österreich nicht in Anspruch genommen, die österreichischen Behörden überstellten nämlich auf dem Landweg nach Ungarn. Die extrem niedrige Zahl an Überstellungen nach Ungarn wird weiterhin belegt durch die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE – BT-Drucksache 18/6860 vom 30. November 2015. Danach hat Ungarn im 3. Quartal 2015 bei 4.303 von Deutschland gestellten Übernahmeersuchen in 2.570 Fällen die Zustimmung erteilt. Tatsächlich sind in diesem Zeitraum aber nur 40 Überstellungen erfolgt. Dies entspricht einer Überstellungsquote bezogen auf die erteilten Zustimmungen von nur 1,56 %.
71Mit Blick auf diese aufgezeigten faktischen Gegebenheiten kann nicht davon gesprochen werden, dass eine Abschiebung des Klägers nach Ungarn in absehbarer Zukunft tatsächlich durchführbar ist. Es hängt nämlich wohl eher von Zufälligkeiten als von belastbaren Fakten ab, wann ein Flüchtling von Deutschland nach Ungarn abgeschoben wird, ob dies innerhalb eines Monats, eines Vierteljahres, eines Jahres oder innerhalb eines noch längeren Zeitraums geschieht. Eine derartige Verwaltungspraxis ist auch mit den Zielen der Dublin III-VO nicht zu vereinbaren. Aus Erwägungsgrund Nr. 5 dieser Verordnung folgt, dass dieses Regelungswerk insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen soll, „um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.“ Dieser Erwägungsgrund stellt nicht den Schutz der Interessen der einzelnen Mitgliedstaaten in den Vordergrund, sondern betont im Gegenteil aus Sicht der Antragsteller deren Interesse an einem effektiven Zugang zu einem Asylverfahren, welches innerhalb angemessener Frist abgeschlossen werden soll. Diese Verfahrensposition ist zugleich grundrechtlich aufgeladen, weil sie der zügigen Durchsetzung der subjektiven Rechte eines Antragstellers aus Art. 18 der Grundrechtecharta dient. Eine Abschiebungsanordnung, die diesen Maßgaben nicht Rechnung trägt, ist rechtswidrig und unterliegt der Aufhebung.
72Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 83 b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11 und 711 ZPO.
Urteilsbesprechung zu Verwaltungsgericht Köln Urteil, 22. Dez. 2015 - 2 K 6214/14.A
Urteilsbesprechungen zu Verwaltungsgericht Köln Urteil, 22. Dez. 2015 - 2 K 6214/14.A
Referenzen - Gesetze
Referenzen - Urteile
Verwaltungsgericht Köln Urteil, 22. Dez. 2015 - 2 K 6214/14.A zitiert oder wird zitiert von 6 Urteil(en).
(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.
(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.
(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 30. Juni 2014 - A 7 K 880/14 - geändert, soweit es der Klage stattgegeben hat.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
|
Entscheidungsgründe
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
|
Gründe
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
|
(1) Das Gericht entscheidet nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind.
(2) Das Urteil darf nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.
Tenor
Das angefochtene Urteil wird geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, in beiden Rechtszügen.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 vom Hundert des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 vom Hundert des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
Tatbestand
2Der am 22. Januar 1979 in Rimal/Marokko geborene Kläger ist nach seinen Angaben marokkanischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit.
3Er war bereits im Sommer/Herbst 2009 erstmals in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und wurde am 23. September 2009 in Erfurt von der Polizei aufgegriffen. Am 2. Oktober 2009 stellte er einen Asylantrag. Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) gemäß § 25 AsylVfG gab der Kläger an, er sei von Libyen mit dem Schlauchboot nach Sizilien gebracht worden. Von dort aus sei er mit dem Zug nach Mailand, dann weiter nach Paris und von dort nach Deutschland gefahren.
4Das Bundesamt lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 11. Dezember 2009 als unzulässig ab; zugleich ordnete es die Abschiebung nach Italien an. In der Begründung hieß es unter anderem: Laut Eurodac sei der Kläger am 24. Mai 2009 illegal über Italien in den Bereich der Mitgliedstaaten der Dublin II-VO eingereist. Auf ein am 16. November 2009 gestelltes Übernahmeersuchen hin habe Italien seine Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO erklärt. Daher werde dieser Antrag in der Bundesrepublik Deutschland nicht materiell geprüft.
5Aufgrund des Übernahmeersuchens wurde der Kläger am 22. Dezember 2009 auf dem Luftwege über den Flughafen Rom-Fiumicino nach Italien überstellt.
6Am 11. Januar 2011 wurde der Kläger wegen erneuten illegalen Aufenthalts im Bundesgebiet wiederum in Erfurt aufgegriffen. Bei seiner Beschuldigtenvernehmung durch die Thüringer Polizei gab er an, er habe nach der Abschiebung nach Italien dort keinen festen Wohnsitz gehabt. Einen Asylantrag habe er nicht stellen können. Er sei deshalb nach Frankreich weitergereist, habe sich aber auch dort ohne festen Wohnsitz aufgehalten, ohne einen Asylantrag zu stellen. Schließlich sei er – einen Tag zuvor – wieder nach Deutschland gekommen. Er bitte um Asylgewährung, weil er in Marokko von der Familie seiner Freundin, die er geschwängert habe, mit dem Tode bedroht werde.
7Unter dem 17. Januar 2011 ersuchte das Bundesamt Italien unter Bezugnahme auf Art. 16 Satz 1, Art. 13 Dublin II‑VO um Übernahme des Klägers. Das Ersuchen blieb – ebenso wie eine unter Hinweis auf die Annahmefiktion erfolgte Erinnerung vom 18. Februar 2011 – unbeantwortet.
8Mit Bescheid vom 27. April 2011 lehnte das Bundesamt den erneuten Antrag des Klägers auf Durchführung eines Asylverfahrens ab und ordnete dessen Abschiebung nach Italien an. Italien sei für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig. Wiederaufgreifensgründe lägen insoweit nicht vor, als diese nicht das Zuständigkeitsbestimmungsverfahren nach der Dublin II-VO beträfen. Gründe für die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO seien ebenfalls nicht ersichtlich. Ein Ausnahmefall vom Konzept der normativen Vergewisserung liege nicht vor.
9Ausweislich des Verwaltungsvorgangs des Bundesamtes war die Überstellung des Klägers von Düsseldorf nach Rom-Fiumicino mit einem Flug am 10. Mai 2011 vorgesehen.
10Mit Beschluss vom 5. Mai 2011 – 3 L 603/11.A – hat das Verwaltungsgericht der Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, vorläufig für die Dauer von sechs Monaten Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Klägers nach Italien auszusetzen.
11Mit seiner am 16. Mai 2011 erhobenen Klage hat der Kläger im Kern geltend gemacht, die tatsächliche Situation für Asylsuchende in Italien lasse unverändert nicht den Schluss zu, dass dort ein Asylverfahren ordnungsgemäß durchgeführt werde.
12Der Kläger hat beantragt,
13den Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über seinen Asylantrag in der Sache zu entscheiden.
14Die Beklagte hat beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16Mit dem angefochtenen Urteil, auf dessen Entscheidungsgründe der Senat wegen der Einzelheiten Bezug nimmt, hat das Verwaltungsgericht der Klage antragsgemäß stattgegeben. Der Kläger habe einen aus Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO (Selbsteintrittsrecht) folgenden Anspruch darauf, dass ein Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt werde. Das insoweit bestehende Ermessen sei auf Null reduziert. Denn es sei nach den tatsächlichen Verhältnissen in Italien nicht gewährleistet, dass dem Kläger dort ein den Richtlinien der Europäischen Union konformes Asylverfahren zugänglich gemacht werde und namentlich die Erfüllung seiner notwendigen Lebensbedürfnisse sichergestellt sei. Unabhängig davon sei Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens auch deswegen zuständig, weil die nach der Dublin II-VO geltende Überstellungsfrist von 6 Monaten abgelaufen sei. Diese Frist habe sich infolge des durchgeführten Eilverfahrens nicht verlängert.
17In einem weiteren Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes während des anhängigen Verfahrens auf Zulassung der Berufung hat der Senat durch Beschluss vom 1. März 2012 – 1 B 234/12.A – die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid des Bundesamts vom 27. April 2011 angeordnet.
18Die mit Beschluss vom gleichen Tage zugelassene Berufung hat die Beklagte fristgerecht begründet. Sie hält aus im Einzelnen dargelegten Gründen Italien weiterhin für zuständig für die Durchführung des Asylverfahrens.
19Der Kläger beantragt, seinen erstinstanzlichen Antrag neu fassend,
20den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27. April 2011 aufzuheben.
21Die Beklagte beantragt,
22das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage mit dem neu gefassten Antrag abzuweisen.
23Der Kläger beantragt weiter,
24die Berufung zurückzuweisen.
25Der Kläger tritt der Berufung entgegen und macht hierzu im Wesentlichen geltend: Jedenfalls im Falle ernsthafter Anhaltspunkte für eine mit Blick auf das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen im Zielstaat einer Dublin-Überstellung drohende Verletzung von Art. 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: EUGRCh) habe der betroffene Asylbewerber ein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts, zumindest aber auf Absehen von einer Überstellung. Was den Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 19 Abs. 4 bzw. Art. 20 Abs. 2 Dublin II-VO betreffe, lasse sich aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in der Sache „Petrosian“ für die Rechtslage in Deutschland kein klares Ergebnis herleiten. Hinsichtlich der tatsächlichen Aspekte des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Dublin-Rückkehrer in Italien überzeuge die Bewertung der konkreten Situation vor Ort durch die Beklagte sowie in den von dieser zur Stützung ihrer Auffassung in Bezug genommenen Erkenntnismitteln nicht. Es fänden sich dort zum Teil widersprüchliche und/oder ungenaue Aussagen. Zu den Quellen gebe es insbesondere bei den Auskünften des Auswärtigen Amtes nur sehr allgemeine Angaben. Die konkreten Fragen des Senats in dessen Anfrage vom 18. Oktober/27. November 2013 seien unbeantwortet geblieben; das habe der gesetzlich vorgeschriebenen Amtshilfe nicht Genüge getan. Zumindest ein Teil der von der Beklagten außerdem in Bezug genommenen Gerichtsentscheidungen betreffe schon keine hinreichend vergleichbaren Fallkonstellationen; andere Entscheidungen schöpften nicht die Erkenntnisse aus den neuesten vorhandenen Auskünften/Berichten in der gebotenen Weise aus. Auf der Grundlage einer verständigen Würdigung aller vorhandenen und namentlich der besonders aktuellen Erkenntnismittel stelle sich die Lage demgegenüber so dar, dass eine von den tatsächlich zur Verfügung stehenden– hier bei weitem unzureichenden und derzeit auch erheblich überbelegten – Unterbringungskapazitäten schlüssig getragene Sicherstellung einer Versorgung der Asylbewerber und speziell der Dublin-Rückkehrer mit Unterkunft sowie außerdem mit Verpflegung, Kleidung und medizinischer Hilfe – alles gemessen an dem (Mindest-)Schutzniveau des Art. 4 EUGRCh – nicht gewährleistet und auch nicht regelmäßig vorhanden sei. Da das eigentliche Problem des italienischen Asyl-/Aufnahmesystems eine enorme Diskrepanz zwischen dem (nach den Rechtsvorschriften gebotenen) Soll-Zustand und dem (die Praxis und Lebenswirklichkeit bestimmenden) Ist-Zustand sei, umfassende empirische Untersuchungen zu den tatsächlichen Verhältnissen aber in der Regel fehlten, ließen sich zulässigerweise auch aus (etwa Berichten von Nichtregierungsorganisationen zugrunde liegenden) Schilderungen von typischen Einzelfällen Schlüsse auf die im Land vorherrschenden Rahmenbedingungen ziehen. Darauf gründend lägen hier gravierende Defizite vor, die zugleich als strukturell zu bewerten seien. So sei etwa das italienische Asyl- und (daran anknüpfend) Aufnahmesystem dergestalt zweistufig ausgestaltet, dass es nach der ersten Anbringung des Asylgesuchs noch dessen förmlicher Registrierung in einer Questura bedürfe, um überhaupt Leistungen wie Unterkunft o.ä. erhalten zu können. Da diese Registrierung in der Praxis manchmal erst Wochen oder zum Teil sogar Monate später erfolge, ergebe sich eine zeitliche Lücke, welche missachte, dass nach europäischem Recht schon ab Einreise und Asylantragstellung ein Anspruch auf soziale Leistungen bestehe. Bei den in Rede stehenden Aufnahmemodalitäten, darunter insbesondere den massiven Kapazitätsengpässen, handele es sich auch nicht nur um ein temporäres, inzwischen überstandenes Problem. Im Gegenteil habe sich die Situation in der letzten Zeit nicht beruhigt, sondern sogar weiter zugespitzt. Denn zum einen habe der Zustrom von Asylbewerbern nach Italien im Jahr 2013 – und namentlich dessen zweiter Hälfte – wieder dramatisch zugenommen (insgesamt ca. 43.000 Bootsflüchtlinge), andererseits seien die im Zuge des sog. „Notstands Nordafrika“ zusätzlich eingerichteten Unterkunftsmöglichkeiten des Zivilschutzes im Laufe des Jahres 2013 weggefallen und es sei hierfür kein adäquater Ausgleich geschaffen worden. Die insoweit bestehende Lücke zu schließen und zugleich ein – bislang fehlendes – klar überschaubares, möglichst zentrales System der Verteilung von Unterkünften und Verpflegung einzurichten, falle in die staatliche Verantwortung Italiens. Durch die Kirche und etwaige sonstige karitative Einrichtungen erbrachte zusätzliche Nothilfe, auf welche etwa das Auswärtigen Amt immer wieder ergänzend hinweise, könne daher das anzunehmende strukturelle Defizit im Sinne der Rechtsprechung zum „systemischen Mangel“ nicht beseitigen. Das gelte zumal dann, wenn diese Hilfe nicht im staatlichen Auftrag, sondern bezogen auf das Selbstverständnis dieser Organisationen „aus eigenem Antrieb“ erfolge. Das Vorliegen eines „systemischen Mangels“ sei im Übrigen nicht im Sinne einer zusätzlichen Anforderung zu begreifen. Das gelte in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Supreme Court des Vereinigten Königreichs jedenfalls dann, wenn kein Zweifel daran bestehe, dass in dem jeweiligen Einzelfall die ernstzunehmende Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh gegeben sei. Schließlich habe der Europäische Gerichtshof durch Urteil vom 27. Februar 2014 nochmals klargestellt, dass der Asylbewerber bereits ab dem Zeitpunkt des Asylantrages den Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben habe, was bei Fehlen einer verfügbaren Unterkunft auch die ersatzweise Zurverfügungstellung finanzieller Mittel betreffe.
26In der (ersten) mündlichen Verhandlung des Senats vom 26. September 2013 ist der Kläger ausführlich (u.a.) zu den Umständen seiner 2009 erfolgten Rückführung nach Italien befragt worden; wegen der Einzelheiten seiner Angaben wird auf die betreffende Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
27Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Verfahrensakte, der Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes und der sonstigen Beiakten (insgesamt 9 Hefte) sowie der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel Bezug genommen.
28E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
29Die Berufung der Beklagten hat Erfolg.
30I. Die Klage ist als Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO) zulässig. Der Kläger hat seinen Klageantrag in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat entsprechend klargestellt, die Beklagte hat sich hiermit einverstanden erklärt. Eine Anfechtungsklage bietet den erforderlichen und ausreichenden Rechtsschutz, so dass es einer weitergehenden Klage auf Verpflichtung der Beklagten nicht bedarf. Dies ergibt sich aus Folgendem:
31Nach den Regelungen der vorliegend anzuwendenden (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG, Art. 49 Satz 3 der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zuständig ist, ABl. L 180/31, sog. Dublin III-VO) Verordnung Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. L 50/1, sog. Dublin II-VO, ist grundsätzlich nur ein einziger Mitgliedstaat der Europäischen Union für die Prüfung eines Asylantrags zuständig. Lehnt vor diesem Hintergrund die Beklagte, wie ihr Terminsvertreter in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat in Bezug auf den streitbefangenen Bescheid klargestellt hat, die Durchführung eines Asylverfahrens nach § 27a AsylVfG wegen der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats ab, kann der Asylbewerber geltend machen, seine Überstellung in eben diesen Staat sei wegen dort gegebener systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unzulässig. Erweist sich diese Behauptung als zutreffend, so ist die Beklagte schon kraft Unionsrechts verpflichtet zu prüfen, ob nach den Zuständigkeitskriterien der Dublin II-VO ein anderer Mitgliedstaat zur Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist. Dies hat der Europäische Gerichtshof wiederholt entschieden und hierzu ausgeführt: „... hat folglich dann, wenn die Überstellung eines Antragstellers an den ursprünglich nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständig bestimmten Mitgliedstaat nicht möglich ist, der Mitgliedstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, ..., die Prüfung der Kriterien des genannten Kapitels fortzuführen, um festzustellen, ob anhand eines dieser Kriterien ein anderer Mitgliedstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann. Ist dies nicht der Fall, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde, nach Art. 13 der Verordnung für dessen Prüfung zuständig.“
32EuGH, Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 –(Puid), NVwZ 2014, 129 = juris, Rn. 33 f.; inhaltlich übereinstimmend ferner Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 u.a. – (N.S.), NVwZ 2012, 417 = juris, Rn. 96, 97 u. 107.
33Diese unionsrechtliche Verpflichtung tritt, wenn sich die systemischen Mängel erweisen sollten, automatisch ein. Die Verwaltungsgerichte haben demnach zu prüfen, ob in dem in Betracht kommenden Mitgliedstaat der Europäischen Union die behaupteten systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen vorliegen, und bejahendenfalls weiter zu untersuchen, ob ein anderer Mitgliedstaat nach den Regelungen der Dublin II-VO für die inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist. Die Prüfung der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats brauchen die Verwaltungsgerichts nach allgemeinen Grundsätzen aber nicht gleichsam „ins Blaue hinein“ vorzunehmen, sondern nur insoweit, als sich aus den Akten oder dem sonstigen Vorbringen der Beteiligten hinreichende Anhaltspunkte hierfür ergeben. Dementsprechend erweist sich Ziffer 1 des angefochtenen Bundesamtsbescheides als rechtmäßig entweder, wenn der für die Durchführung des Asylverfahrens als zuständig benannte Staat tatsächlich zuständig ist und nicht wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen ausfällt oder wenn dies auf einen anderen Mitgliedstaat zutrifft, der nach den Zuständigkeitsregelungen der Dublin II-VO für die Durchführung des Asylverfahrens vorrangig zuständig ist. Ergibt die verwaltungsgerichtliche Prüfung aber, dass in dem von der Beklagten als zuständig bezeichneten Mitgliedstaat systemische Mängel bestehen, und lässt sich kein anderer vorrangig zuständiger Mitgliedstaat ausmachen, so ist Deutschland nach Art. 13 Dublin II-VO zur Durchführung des Asylverfahrens zuständig, weil (regelmäßig) jedenfalls hier ein Asylantrag gestellt worden ist. Eines auf Durchführung des Asylverfahrens gerichteten Verpflichtungsausspruchs bedarf es daher nicht, weil bei bestehender Zuständigkeit der Asylantrag von Amts wegen sachlich zu prüfen ist. Dementsprechend besteht – ungeachtet der Möglichkeit zum Selbsteintritt – selbst beim Bestehen systemischer Mängel auch keine Verpflichtung zum Selbsteintritt des die Zuständigkeit prüfenden Mitgliedstaats nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO,
34vgl. EuGH, Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 – (Puid), a.a.O., Rn. 37; Thym, NVwZ 2014, 130,
35und demzufolge auch kein hierauf gerichteter Anspruch des Asylbewerbers.
36Dies gilt nicht nur bei erstmaliger Antragstellung, sondern auch im Wiederholungsfalle und zwar unabhängig davon, ob der Asylbewerber zwischenzeitlich in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat überstellt wurde. Es spielt daher vorliegend keine Rolle, dass die Beklagte den Asylantrag des Klägers als Folgeantrag eingestuft und in dem Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 die Durchführung eines „weiteren“ Asylverfahrens abgelehnt hat. Insbesondere ist im Lichte der vorbezeichneten neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Fällen der vorliegenden Art die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht einschlägig, derzufolge sich die Verwaltungsgerichte bei Ablehnung der Durchführung eines Asylfolgeverfahrens nicht auf die Verpflichtung der Beklagten zur Durchführung des Folgeverfahrens beschränken dürfen, sondern die Sache im Hinblick auf die begehrte Anerkennung als Flüchtling spruchreif zu machen haben.
37BVerwG, Urteil vom 6. Juli 1998 – 9 C 45.97 –, BVerwGE 107, 128 = juris, Rn. 10; dem auch für Fälle folgend, in denen die Prüfung der sog. Dublin-Zuständigkeit inmitten steht, OVG NRW, Urteil vom 10. Mai 2011 – 3 A 133/10.A –, juris.
38Denn die hier zentrale Frage nach dem für die Prüfung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat ist – wie der Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 zutreffend ausführt – der Prüfung des Asylantrags vorgelagert und betrifft nicht das Vorliegen der Voraussetzungen, unter denen nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG ein abgeschlossenes (Asyl-)Verwaltungsverfahren wiederaufzugreifen ist. Zuständigkeitsprüfung und inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens sind unterschiedliche, voneinander getrennte Verfahren. Dies wird bestätigt durch die Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326/13), die sog. Verfahrensrichtlinie, wonach die materielle Prüfung des Asylgesuchs durch eine „Asylbehörde“ erfolgt, deren Entscheidung gerichtlich überprüft werden kann. Diese Richtlinie betrifft ausweislich ihres Artikels 39 Abs. 1 Buchst. a) i) i.V.m. Art. 25 Abs. 1 sowie ihres 29. Erwägungsgrundes aber nicht das Verfahren der Zuständigkeitsprüfung nach der Dublin II-VO, was belegt, dass die Zuständigkeitsprüfung ein von der materiellen Prüfung des Asylbegehrens abgetrenntes Verfahren darstellt. Noch deutlicher formuliert dies der 53. Erwägungsgrund der nachfolgenden (Verfahrens-)Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, ABl. L 180/60, der von einem Verfahren zur Klärung der Zuständigkeit „zwischen Mitgliedstaaten“ spricht. Auch der Europäische Gerichtshof weist darauf hin, dass die Bestimmungen der Dublin II-VO die „Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln“.
39Vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 – (Abdullahi), NVwZ 2014, 208 = juris, Rn. 56.
40II. Die Klage ist jedoch unbegründet.
41Der Bescheid des Bundesamtes vom 27. April 2011 ist im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Unabhängig von der formalen Einordnung des Asylantrags des Klägers durch die Beklagte als Folgeantrag im Sinne des § 71 AsylVfG findet– wie der Sitzungsvertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat klargestellt hat – der Bescheid hinsichtlich der Ablehnung der Durchführung eines Asylverfahrens seine Rechtsgrundlage in § 27a AsylVfG und hinsichtlich der Abschiebungsanordnung in § 34a Abs. 1 AsylVfG. Beide Regelungen des Bescheides sind rechtlich nicht zu beanstanden.
421. Das Bundesamt hat richtig entschieden, dass die Beklagte für die sachliche Prüfung und Entscheidung des streitbefangenen Asylantrags nicht zuständig ist. Damit musste dieser Antrag, wie in Ziffer 1 des Bescheides vom 27. April 2011 geschehen, abgelehnt werden, weil er unzulässig ist (§ 27a AsylVfG). Maßgebend hierfür ist die Dublin II-VO (nachfolgend a)). Die danach bestehende ursprüngliche Zuständigkeit Italiens zur Durchführung des Asylverfahrens ist nicht nach (Sonder-)Vorschriften der Dublin II-VO auf die Beklagte übergegangen (nachfolgend b)). Schließlich fällt Italien als zuständiger Staat auch nicht aus, weil die Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Durchbrechung des der Dublin II-VO zugrunde liegenden Prinzips gegenseitigen Vertrauens gerechtfertigt ist (nachfolgend c)).
43a) Grundlage der Prüfung dieser Zuständigkeit ist für das im Januar 2011 angebrachte Gesuch des Klägers (noch) die Dublin II-VO. Diese wurde zwar gemäß Art. 48 Satz 1 der Dublin III-VO zwischenzeitlich aufgehoben. Für vor dem 1. Januar 2014 angebrachte Schutzgesuche bleibt jedoch gemäß Art. 49 Satz 3 Dublin III-VO die Vorläufer-Verordnung weiterhin anwendbar (siehe bereits oben I.).
44b) Die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates nach Maßgabe der Dublin II-VO hat prinzipiell allein auf der Grundlage der dort festgelegten Kriterien zu erfolgen, für die eine bestimmte Rangfolge gilt (Art. 5 ff. Dublin II-VO). Hiernach war im vorliegenden Falle Italien zuständig (dazu aa)). Diese Zuständigkeit hat Italien nicht verloren; sie ist nicht während des Asylverfahrens nach (Sonder-)Vorschriften der Dublin II-VO auf die beklagte Bundesrepublik Deutschland übergegangen (dazu bb) bis ee)).
45Inwieweit diesen Zuständigkeitsvorschriften (und ob allen bzw. gegebenenfalls welchen) dabei überhaupt subjektive Rechte des Asylsuchenden entnommen werden können, braucht hier nicht abschließend entschieden zu werden. Allerdings spricht auf der Grundlage der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs,
46vgl. Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 – (Abdullahi), NVwZ 2014, 208 = juris, Rn. 60,
47viel dafür, dass die subjektive Rechtsstellung von Asylbewerbern in sog. „Dublin-Verfahren“ nur insofern betroffen ist, als es darum geht, ob diese auf der Grundlage von ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründen in dem Mitgliedstaat, in den sie überstellt werden sollen, tatsächlich Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S. von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 14. Dezember 2007 (ABl. C 303/1) (EUGRCh) ausgesetzt zu werden. Keine subjektiven Rechte seien hingegen von der Prüfung berührt, ob in dem jeweiligen Fall die Rangkriterien der Dublin II-VO wie etwa Art. 10 Abs. 1 in Verbindung mit dem in Art. 19 Abs. 2 Satz 3 vorgesehenen Rechtsbehelf richtig angewendet oder aber damit verbundene Form- und Fristerfordernisse korrekt beachtet wurden. Eine solche Begrenzung der subjektiven Rechtsstellung soll namentlich dann gelten, wenn der für zuständig befundene Mitgliedstaat der Überstellung zugestimmt hat. Sie dürfte konsequenterweise dann auch den hier gegebenen Fall der Fiktion dieser Zustimmung nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO erfassen, was aber der Europäische Gerichtshof nicht ausdrücklich (mit)entschieden hat. Mit Blick darauf geht der Senat im Folgenden vorsorglich auf die Zuständigkeitsbestimmung nach den Maßgaben der Dublin II-VO ein:
48aa) Die ursprüngliche Dublin-Zuständigkeit Italiens ist hier unstreitig. Sie ergibt sich (mangels vorrangiger Dublin-Kriterien) aus Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Dublin II-VO. Denn ausgehend von seinen eigenen, insofern von der Beklagten nicht in Zweifel gezogenen Angaben hat der Kläger aus einem Drittstaat (Libyen) kommend als erstes die (See-)Grenze zu dem Mitgliedstaat Italien überschritten. Dies erfolgte ohne einen Aufenthaltstitel und insofern illegal. Der betreffende Sachverhalt wird durch den im Bescheid des Bundesamtes vom 11. Dezember 2009 erwähnten Eurodac-Treffer der Kategorie „2“ (Kennzeichnung für illegal Eingereiste ohne Status des Asylbewerbers) bestätigt. Dementsprechend hat Italien im Jahre 2009 auch der Aufnahme des Klägers zugestimmt.
49bb) Die Zuständigkeit Italiens hat nicht nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO geendet. Zwar endet nach dem Wortlaut dieser Vorschrift die Zuständigkeit (eines Mitgliedstaats für die Durchführung des Asylverfahrens) zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts. Damit ist aber lediglich gemeint, dass die Zuständigkeit dann endet, wenn vor Ablauf der genannten Frist in keinem der Mitgliedstaaten ein Asylantrag gestellt wurde. Diese Auslegung ergibt sich zwingend vor dem Hintergrund des Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO, der als maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Kriterien für die Bestimmung der sog. Dublin-Zuständigkeit denjenigen vorgibt, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Deshalb ist es unschädlich, wenn nicht (auch) in dem Einreisestaat innerhalb der in Rede stehenden Frist ein Asylantrag gestellt wurde. Ebenso wenig ist es von Bedeutung, ob der Zwölfmonatszeitraum im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abgelaufen ist.
50Vgl. etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 8), siehe auch (im Wesentlichen gleichlautend und nachfolgend nicht mehr gesondert zitiert) Urteil jenes Gerichts vom gleichen Tage – 3 L645/12 –, n.v.; ferner Nds. OVG, Beschluss vom 2. August 2012 – 4 MC 133/12 –, juris, Rn. 9.
51Hieran gemessen war die Zwölfmonatsfrist bei der ersten Asylantragstellung des Klägers in Deutschland (2. Oktober 2009) noch nicht abgelaufen. Denn der Eurodac-Treffer zu Italien datiert vom 24. Mai 2009. Dafür, dass der Kläger das italienische Staatsgebiet deutlich früher betreten hätte, gibt es auch bei Einbeziehung seiner eigenen vorprozessualen und in diesem Verfahren gemachten Angaben keinen Anhalt. So hat der Kläger in der ersten mündlichen Verhandlung vor dem Senat angegeben, nach seiner Einreise über Lampedusa nach Sizilien gebracht worden zu sein und dort in einer „Sammelstelle für Illegale“ gelebt zu haben. Dies zugrunde gelegt, ist aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass er dort auch – zeitnah zur Einreise – erkennungsdienstlich behandelt wurde.
52cc) Die beklagte Bundesrepublik ist auch nicht gemäß Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO nachträglich für die Prüfung des Asylantrags des Klägers zuständig geworden. Denn sie hat das dort angesprochene Gesuch um Aufnahme innerhalb der Frist von drei Monaten nach Einreichung des Antrags noch in dem Monat der Asylantragstellung (Januar 2011) gestellt. Dass eine Antwort darauf ausblieb, ist im Rahmen der vorgenannten Vorschrift unerheblich, begründet vielmehr nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-VO (umkehrt) nach Ablauf von zwei Monaten aufgrund fingierter Annahme eine wohl eigenständig hinzutretende Verpflichtung des ersuchten Mitgliedstaates, die in Rede stehende Person aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen. Gegebenenfalls ergäbe sich Entsprechendes aus Art. 20 Abs. 1 Buchst. b) und c) Dublin II-VO, wenn keine Aufnahme, sondern eine Wiederaufnahme vorläge.
53dd) Die vom Kläger mit angesprochene Frage, ob die Zuständigkeit Italiens eventuell nach Art. 4 Abs. 5 Satz 2 Dublin II-VO erloschen ist, stellt sich hier bereits deshalb nicht, weil die in der Vorschrift geregelte Frist von drei Monaten allein den (hier nicht gegebenen) Fall erfasst, dass der Asylbewerber zwischenzeitlich das Gebiet „der“ (also aller) Mitgliedstaaten verlassen hat. Die Dauer des Aufenthalts des Klägers in Frankreich ist hierfür also nicht von Belang.
54ee) Schließlich ist die Zuständigkeit Italiens auch nicht nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO, d.h. wegen Überschreitung der sog. Überstellungsfrist, auf die Beklagte übergegangen. Nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag gestellt wurde, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Das knüpft an Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO an, welcher unter anderem bestimmt, dass die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten ab der Annahme des Antrags auf Aufnahme oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf erfolgt, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat. Diese Frist ist hier nicht abgelaufen, wobei es maßgeblich auf den Fall 2 („oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf“) ankommt.
55Mit „Entscheidung über den Rechtsbehelf“ ist nicht die gerichtliche Entscheidung in dem zugehörigen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gemeint, mit der die Durchführung der Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat ausgesetzt wird, sondern die Entscheidung, mit der das Gericht „über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens“ entscheidet und die der Durchführung des Überstellungsverfahrens nicht mehr entgegenstehen kann.
56Vgl. insoweit zu entsprechenden Frist in Art. 20 Abs. 1 Buchst. d) Dublin II-VO: EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 – C-19/08 – (Petrosian), NVwZ 2009, 639 = juris, Rn. 53.
57Das bezieht sich – jedenfalls wenn und solange die Vollziehung der Überstellung (weiter) ausgesetzt ist – nach allgemeiner Auffassung auf die rechtskräftige gerichtliche Entscheidung in dem Hauptsacheverfahren.
58Vgl. statt vieler etwa OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 35; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Juni 2012 – A 2 S 1355/11 –, AuAS 2012, 213 = juris, Rn. 24; Hessischer VGH,Beschluss vom 23. August 2011 – 2 A 1863/10.Z.A –, InfAuslR 2011, 463 = juris, Rn. 7; VG Freiburg, Beschluss vom 2. Februar 2012– A 4 K 2203/11 –, juris, Rn. 14; VG Meiningen, Urteil vom 26. Juni 2013 – 5 K 20096/13 Me –, juris, Rn. 39, m.w.N.
59Für die Auslegung des Merkmals „aufschiebende Wirkung“ macht es keinen relevanten Unterschied, ob nach dem hier innerstaatlich einschlägigen deutschen Recht – rechtstechnisch gesehen – die Durchführung der Überstellung in Anwendung des § 80 Abs. 5 VwGO oder des § 123 VwGO durch das Gericht vorläufig gestoppt wird. Denn die Wirkung beider Entscheidungstypen des vorläufigen Rechtsschutzes ist mit Blick auf das praktische Ergebnis die gleiche: Die Überstellung darf zunächst einmal kraft gerichtlicher Anordnung nicht erfolgen. Das bedeutet jeweils, dass eine Abstimmung hinsichtlich der näheren Modalitäten der Überstellung, für welche die Frist eingeräumt ist, noch nicht erfolgen kann bzw. noch keinen Sinn ergäbe.
60Vgl. zur Gleichbehandlung der verschiedenen Arten der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes insoweit auch VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19. Juni 2012 ‑ A 2 S 1355/11 –, AuAS 2012, 213 = juris, Rn. 25; VG Meiningen, Urteil vom 26. Juni 2013 – 5 K 20096/13 Me –, juris, Rn. 40.
61Eine abweichende Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem vom Kläger hervorgehobenen Umstand, dass § 34a Abs. 2 AsylVfG in seiner bis zum 5. September 2013 gültig gewesenen, also im Zeitpunkt des Ablehnungsbescheides anwendbaren Fassung eine Aussetzung der Abschiebung im Wege der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sowohl nach § 80 als auch § 123 VwGO kraft Gesetzes ausdrücklich ausgeschlossen hatte. Dieser Umstand führt nicht darauf, dass hier Art. 19 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Fall 2 Dublin II-VO gar nicht oder jedenfalls nicht im Sinne eines Einsetzens der Überstellungsfrist erst mit dem Ergehen einer rechtskräftigen Hauptsacheentscheidung anzuwenden wäre, wenn Gerichte den Vollzug ausgesetzt haben. Denn was nach dem (sachlich zusammenhängend) in Art. 19 Abs. 2 Satz 4 Dublin II-VO in Bezug genommenen „innerstaatlichen Rechtzulässig“ ist, bestimmt sich nach der Rechtsordnung des betroffenen Staates insgesamt und nicht allein nach dem Wortlaut des geschriebenen (einfachen) Gesetzesrechts. Namentlich geht das Verfassungsrecht in seiner Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht dem einfachen Gesetzesrecht vor. Dies zugrunde gelegt, fordert die unionsrechtliche Zweckbestimmung der in Rede stehenden Frist, dass diese auch in den hier interessierenden Fällen einer rechtlichen Unmöglichkeit der Überstellung nicht anläuft bzw., sofern sie schon angelaufen ist, gehemmt wird.
62Vgl. – in diesem Sinne – etwa auch Hessischer VGH, Beschluss vom 23. August 2011 – 2 A 1863/10.Z.A -, InfAuslR 2011, 463 = juris, Rn. 5, 6; Nds. OVG, Beschluss vom 2. August 2012– 4 MC 133/12 –, juris, Rn. 17; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L643/12 –, juris (UA S. 11 f.).
63Eine etwa entgegen Art. 19 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO nicht erfolgte Angabe der Frist für die Durchführung der Überstellung hat entgegen der Auffassung des Klägers keine Bedeutung dafür, ob in Bezug auf den Fall 2 des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO der Überstellungszeitraum von sechs Monaten überschritten ist. Auch die zeitlich begrenzte Verlängerungsmöglichkeit nach Art. 19 Abs. 4 Satz 2 Dublin II-VO betrifft ganz andere Situationen und hat mit dem Fall 2 des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO nichts zu tun.
64Vgl. in diesem Zusammenhang auch VGMeiningen, Urteil vom 26. Juni 2013 – 5 K 20096/13 Me –, juris, Rn. 41 f.
65Für die Beurteilung des konkreten Falles anhand des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II-VO folgt daraus: Das Verwaltungsgericht Köln hat mit Beschluss vom 5. Mai 2011 – 3 L 603/11.A –, zugestellt am 6. Mai 2011, der Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig für die Dauer von sechs Monaten aufgegeben, Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Klägers nach Italien auszusetzen. Diese gerichtliche Entscheidung hat zunächst verhindert, dass die Überstellungsfrist nach Fall 2 des Art. 19 Abs. 3 Satz 1 Dublin II-VO überhaupt anlaufen konnte. Selbst wenn die Sechsmonatsfrist für die Überstellung danach (ab 7. November 2011) angelaufen sein sollte, war sie in dem Zeitpunkt, in welchem der Senat mit Beschluss vom 1. März 2012 – 1 B 234/12.A – die aufschiebende Wirkung der Klage des Klägers gegen die Abschiebungsanordnung in dem Bescheid vom 27. April 2011 (neuerlich) angeordnet hat, noch nicht abgelaufen. Da diese Anordnung nicht befristet gewesen ist, ist die hier interessierende Frist seitdem jedenfalls gehemmt und im Ergebnis auch im Zeitpunkt der (letzten) mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht abgelaufen.
66Vorstehende Überlegungen gelten entsprechend für die in Art. 20 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO für den Fall der Wiederaufnahme geregelten Frist von sechs Monaten.
67c) Die Zuständigkeit Italiens zur Entscheidung über den Asylantrag des Klägers entfällt nicht ausnahmsweise deswegen, weil die Voraussetzungen vorliegen, unter denen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Durchbrechung des den Bestimmungen der Dublin II-VO zugrunde liegenden Systems des gegenseitigen Vertrauens gerechtfertigt ist.
68aa) Im Ausgangspunkt liegt dem im EU-Vertrag vorgesehenen und vom Unionsgesetzgeber ausgearbeiteten Gemeinsamen Europäischen Asylsystem – und dabei gerade auch der Dublin II-VO – die Vermutung zugrunde, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II, S. 559) (Genfer Flüchtlingskonvention) sowie der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II, S. 685, ber. S. 953, in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Oktober 2010 (BGBl. II, S. 1198)) – Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) – steht. Das wird vom Europäischen Gerichtshof als „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“,
69vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 und C-493/10 – (N.S.), NVwZ 2012, 417 = juris, Rn. 78 ff.,
70bzw. entsprechend in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als „Konzept der normativen Vergewisserung“,
71vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 –, BVerfGE 94, 49 = NJW 1996, 1665 = juris, Rn.181,
72bezeichnet. Die betreffende Vermutung kann allerdings in Sonderfällen widerlegt sein, nämlich dann, wenn ernsthaft zu befürchten steht, dass in dem nach Maßgabe der Dublin II-VO für die Prüfung eines Asylgesuchs an sich zuständigen Mitgliedstaat das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 EUGRCh implizieren. Dabei ist der Inhalt dieses Grundrechts an der Auslegung des Art. 3 EMRK auszurichten (vgl. insoweit Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EUGRCh einschließlich der gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 3 EUV zu berücksichtigenden Erläuterungen).
73Vgl. statt vieler OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 16 mit Hinweisen zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).
74Jedenfalls im Kern Entsprechendes ergibt sich auch unmittelbar aus der für das vorliegende Verfahren in erster Linie maßgeblichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Dort wird – wohl letztlich nicht in einem (wesentlich) anderen Sinne – gefordert, dass es sich bei den Mängeln des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber um „systemische“ Mängel bzw. Unzuträglichkeiten handeln muss. Diesbezüglich ist in dem Urteil der Großen Kammer des Gerichtshofs vom 21. Dezember 2011 – Rs C-411/10 und C-493/10 – (NVwZ 2012, 417 = juris) ausgeführt worden:
75Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System (gemeint: das System der Behandlung der Asylanträge) in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist. (Rn. 81)
76Dennoch kann daraus nicht geschlossen werden, dass jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat die Verpflichtung der übrigen Mitgliedstaaten zur Beachtung der Verordnung Nr. 343/2003 berühren würde. (Rn. 82)
77Auf dem Spiel stehen nämlich der Daseinsgrund der Union und die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, konkret des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das auf gegenseitigem Vertrauen und einer Vermutung der Beachtung des Unionsrechts, genauer der Grundrechte, durch die anderen Mitgliedstaaten gründet. (Rn. 83)
78Es wäre auch nicht mit den Zielen und dem System der Verordnung Nr. 343/2003 vereinbar, wenn der geringste Verstoß gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen würde, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. (Rn. 84)
79Falls dagegen ernsthaft zu befürchten wäre, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen der Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren, so wäre die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. (Rn. 86)
80Damit die Union und ihre Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen in Bezug auf den Schutz der Grundrechte der Asylbewerber nachkommen können, obliegt es nach alledem in Situationen wie denen der Ausgangsverfahren den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den ‘zuständigen Mitgliedstaat’ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden. (Rn. 94)
81Daraus ergibt sich im Ergebnis:
82Art. 4 der Charta ist dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den ‘zuständigen Mitgliedstaat’ im Sinne der Verordnung Nr. 343/2003 zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden. (Rn. 106)
83Diese Rechtsprechung hat der Europäische Gerichtshof auch in der nachfolgenden Zeit im Kern bestätigt.
84Vgl. etwa Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 – (Puid), NVwZ 2014, 129 = juris, Rn. 30.
85Für die Annahme eines systemischen Mangels im vorgenannten Sinne reicht die Verletzung einzelner Grundrechte außerhalb von Art. 4 EUGRCh ebenso wenig wie die „geringste“ Verletzung von Bestimmungen des zum Asylrecht ergangenen Sekundärrechts.
86Vgl. auch Thym, in: Kluth/Heusch, Beck’scher Online Kommentar Ausländerrecht, AEUV Art. 78, Rn. 27 (Stand 1. Februar 2013).
87Vielmehr erfordern systemische Mängel eine in den vom Gericht empirisch gewonnenen Erkenntnissen zum Ausdruck kommende „reelle Unfähigkeit des Verwaltungsapparates zur Beachtung des Art. 4 EUGRCh“,
88vgl. Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406, 408,
89liegen also vor bei „strukturellen Störungen, die ihre Ursache im Gesamtsystem des nationalen Asylverfahrens“ haben, ohne dass es auf eine hierauf bezogene Zielsetzung des betreffenden Mitgliedstaats ankommt.
90Vgl. Marx, NVwZ 2012, 409, 411.
91Zwar setzt dies nicht voraus, dass in jedem Falle das gesamte Asylsystem einschließlich der Aufnahmebedingungen und der zugehörigen Verfahren schlechthin als gescheitert einzustufen ist, jedoch müssen die in jenem System festzustellenden Mängel so gravierend sein, dass sie nicht lediglich singulär oder zufällig, sondern „in einer Vielzahl von Fällen zu der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung führen“.
92Vgl. Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182, 186.
93Das kann darauf beruhen, dass die Fehler bereits im System selbst angelegt sind und deswegen Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von Asylbewerbern nicht zufällig und im Einzelfall, sondern (objektiv) vorhersehbar von ihnen betroffen sind. Ein systemischer Mangel kann daneben aber auch daraus folgen, dass ein in der Theorie nicht zu beanstandendes Aufnahmesystem – mit Blick auf seine empirisch feststellbare Umsetzung in der Praxis – faktisch in weiten Teilen funktionslos wird.
94Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 46.
95Ob der Auffassung des Klägers zuzustimmen ist, dass es auf das Vorliegen systemischer Mängel nicht ankomme, wenn im Einzelfall bei Überstellung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat eine Verletzung von Art. 4 EUGRCh anzunehmen sei,
96in diesem Sinne Supreme Court des Vereinigten Königreichs, R v Secretary of State for the Home Department, Entscheidung vom 19. Februar 2014, UKSC 12, im Internet abrufbar unter www.supremecourt.uk; ebenso Marx, a.a.O., S. 412; a.A. Hailbronner/Thym, a.a.O.,
97bedarf keiner Entscheidung. Denn im Falle des Klägers geht es nicht um die individuell an seine Person anknüpfende Besorgnis einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh, etwa deshalb, weil er innerhalb der Gruppe der asylsuchenden Dublin-Rückkehrer eine in besonderem Maße verletzliche und/oder gefährdete Person wäre. Vielmehr steht die Frage möglicher struktureller Defizite insbesondere der (allgemein für Dublin-Rückkehrer unter den Asylbewerbern geltenden) Aufnahmebedingungen in Italien im Zentrum des Verfahrens.
98Der Prognosemaßstab für das Vorliegen systemischer Mängel ist einheitlich zu bestimmen sowohl, was die (empirischen) Voraussetzungen für das Vorliegen systemischer Mängel betrifft, als auch hinsichtlich der darauf gründenden Einschätzung, ob diese Mängel die begründete Erwartung rechtfertigen, dass der Betroffene im Falle seiner Überstellung Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein.
99Die oben angeführte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verlangt insofern zunächst, dass die Annahme einer mit Blick auf bestehende systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen drohenden Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh durch „ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe“ gestützt und abgesichert sein muss. Die anzustellende Prognose bedarf somit einer konkret nachvollziehbaren und in der Sache fundierten („ernsthaften“) Tatsachengrundlage. Namentlich im Fall von sich (zum Teil) widersprechenden Auskünften oder sonstigen Erkenntnismitteln müssen die vom Gericht für die Widerlegung der Vermutung des Prinzips des gegenseitigen Vertrauens als „richtig“ zugrunde gelegten Tatsachen hinreichend belastbar sein. Das setzt voraus, dass für ihr Zutreffen, dabei u.a. auch für die Verallgemeinerungsfähigkeit von Erkenntnissen über beobachtete oder berichtete Einzelfälle, ein beachtlicher Grad von Wahrscheinlichkeit spricht.
100Das entspricht dem Maßstab, der auch für die Prognose des voraussichtlichen Eintretens der Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh selbst anzuwenden ist. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit ergibt sich insofern aus der vom Europäischen Gerichtshof für die drohende Grundrechtsverletzung verwendeten Formulierung der „tatsächlichen Gefahr“, im Englischen „real risk“. Zu dieser Formulierung hat das Bundesverwaltungsgericht mit Bezug auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der diese Formulierung entlehnt ist,
101vgl. etwa Urteile vom 28. Februar 2008– 37201/06 – (Saadi), Rn. 125, 128 f., z.B. NVwZ 2008, 1330 (1331), und vom 11. Juli 2000– 40035/98 – (Jabari), Rn. 38, 42, u.a. InfAuslR 2001, 57 (58),
102festgestellt, dass damit der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit gemeint ist.
103Vgl. BVerwG, Urteile vom 20. Februar 2013– 10 C 23.12 –, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 32, und vom 1. Juni 2011 – 10 C 25.10 –, BVerwGE 140, 22 = juris, Rn. 22, m.w.N.
104Dieser besagt, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung (hier: eine Verletzung von Art. 4 EUGRCh) sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen.
105Vgl. dazu, dass es dabei allerdings nicht auf eine überwiegende Wahrscheinlichkeit im rein mathematischen Sinne („mehr wahrscheinlich als unwahrscheinlich“) ankommt, EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008 – 37201/06 – (Saadi), NVwZ 2008, 1330, Rn. 140.
106Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung (hier: einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh) hervorgerufen werden kann.
107Vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 –, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 32.
108Von dem in Rede stehenden Überstellungsverbot zweifelsfrei erfasst werden nach alledem (in der Regel) nur solche Verhältnisse, in denen es – hier im Zusammenhang mit Überstellungen von Asylbewerbern nach dem „Dublin-Regime“ – in dem Zielstaat der Überstellung aufgrund entsprechender, hinreichend gesicherter Erkenntnisse nicht nur vereinzelt, sondern immer wieder zu einer Verletzung der Grundrechtsgewährleistung aus Art. 4 EUGRCh kommen kann.
109Vgl. sinngemäß auch OVG Sachsen-Anhalt,Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 18); OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 46, 48.
110Die bloße Möglichkeit derartiger Verletzungshandlungen – auch bei einer allgemein unsicheren Lage in dem betreffenden Staat – reicht dagegen nicht.
111Vgl. EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008– 37201/06 – (Saadi), Rn. 131, u.a. NVwZ 2008, 1330 (1331 f.).
112An dem vorgenannten Maßstab ist im Prinzip auch dann festzuhalten, wenn der Betroffene in der Vergangenheit – wie hier der Kläger – schon einmal in den in Rede stehenden Mitgliedstaat überstellt worden war und er seinerzeit auf der Grundlage seiner Angaben ins Gewicht fallende Mängel und Unzuträglichkeiten der Aufnahmebedingungen tatsächlich erlebt hat. Dieser Umstand ist – je nach der Bedeutsamkeit des Erlebten und den sonstigen Umständen des Einzelfalles mit ggf. unterschiedlichem Gewicht – in die oben erwähnte umfassende Abwägung aller Umstände einzubeziehen. Er rechtfertigt demgegenüber – anders als der Umstand der Vorverfolgung im Sinne von Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU, ABl. L 337/9, sog. Qualifikationsrichtlinie – nicht generell eine den Prognosemaßstab faktisch verschiebende Beweiserleichterung, wie sie der Kläger wohl sinngemäß auch für den vorliegenden Fall geltend macht. Solches muss insbesondere dann gelten, wenn wie hier keine individuellen Besonderheiten des Asylsuchenden bzw. spezifische Besonderheiten der Gruppe, der er zugehört, gefährdungsrelevant sind, sondern die vorzunehmende Prognose maßgeblich an den allgemein bestehenden – und zwar den aktuellen – Aufnahmebedingungen auszurichten ist. Eine andere Sichtweise wäre nach Auffassung des Senats nicht mit dem nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs grundsätzlich aufrecht zu erhaltenden und schützenswerten Prinzip des gegenseitigen Vertrauens zu vereinbaren. Es würde nämlich den konkreten Erfahrungen, welche Einzelpersonen in der Vergangenheit vielleicht mehr oder weniger zufällig gemacht haben, ein zu starres und auch tendenziell zu großes Gewicht im Rahmen der (Gesamt-)Würdigung zumessen, ob ausgehend von den allgemein vorherrschenden Aufnahmebedingungen in dem betroffenen Mitgliedstaat auch (noch) aktuell mit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gerechnet werden muss.
113Vgl. auch EGMR, Urteil vom 28. Februar 2008– 37201/06 – (Saadi), NVwZ 2008, 1330, Rn. 133: „Die historischen Tatsachen sind zwar insoweit von Bedeutung, als sie die jetzige Lage und die Art, wie sie sich wahrscheinlich entwickelt, beleuchten, entscheidend sind aber die jetzigen Verhältnisse.“
114Zur Auslegung der Tatbestandsmerkmale von Art. 4 EUGRCh ist wegen der korrespondierenden Gewährleistungsinhalte (vgl. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 EUGRCh) auf die Rechtsprechung der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen.
115Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 338.
116Nach der Rechtsprechung des EGMR ist (allgemein) eine Behandlung dann „unmenschlich“, wenn sie absichtlich über Stunden erfolgt und entweder tatsächliche körperliche Verletzungen oder schwere körperliche oder psychische Leiden verursacht. Als „erniedrigend“ ist eine Behandlung dann anzusehen, wenn sie eine Person demütigt oder herabwürdigt und fehlenden Respekt für ihre Menschenwürde zeigt oder diese herabmindert oder wenn sie Gefühle der Furcht, Angst oder Unterlegenheit hervorruft, die geeignet sind, den moralischen oder psychischen Widerstand der Person zu brechen. Die Behandlung/Misshandlung muss dabei, um in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK zu fallen, einen Mindestgrad an Schwere erreichen. Dessen Beurteilung ist allerdings relativ, hängt also von allen Umständen des Falles ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Auswirkungen sowie mitunter auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers.
117Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 219, 220.
118Das kann – etwa bei Asylsuchenden als Angehörige einer besonders benachteiligten und verletzlichen und damit besonders schutzwürdigen Bevölkerungsgruppe – auch die Verhältnisse der Unterbringung, die hygienischen Verhältnisse und die Versorgung mit ausreichender Nahrung betreffen.
119Vgl. das vorgenannte Urteil vom 21. Januar 2011, Rn. 222, 251 und 254.
120Allerdings kann Art. 3 EMRK nicht in dem Sinne ausgelegt werden, dass er (aus sich heraus) die Vertragsparteien verpflichtete, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen. Auch begründet Art. 3 EMRK keine allgemeine Verpflichtung, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen.
121Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EUGRZ 2011, 243, Rn. 249, m.w.N., und Beschluss vom 2. April 2013 – 27725/10 – (Mohammed Hussein), ZAR 2013, 336 f. (Rn. 70).
122Anders zu beurteilen ist aber bei Erreichen des erforderlichen Schweregrades (möglicherweise) der Fall, dass in dem betreffenden Staat auf Grund des positiven Rechts die Pflicht zur Versorgung mittelloser Asylsuchender mit einer Unterkunft und einer materiellen Grundausstattung tatsächlich besteht oder jedenfalls zu bestehen hat, weil einschlägiges Unionsrecht entsprechend umgesetzt werden muss. Von Bedeutung ist dabei vor allem die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. L 180/96) (im Folgenden: Aufnahmerichtlinie), welche die zuvor gültig gewesene Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 (ABl. L 31/18) inzwischen abgelöst hat. Die genannten Richtlinien haben Minimalstandards für die Aufnahme von Asylsuchenden in den Mitgliedstaaten festgelegt.
123Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 250; siehe auch VG Frankfurt, Urteil vom 9. Juli 2013 – 7 K 560/11.F.A. –, juris, Rn. 21; eher kritisch hinsichtlich einer damit ggf. einhergehenden Überdehnung der Reichweite des Art. 3 EMRK, welche in Widerspruch zu der Auslegung des Art. 4 EUGRCh durch den EuGH geraten könnte, aber etwa Hailbronner/Thym, NVwZ 2012, 406 (407 f.).
124Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die nach der Aufnahmerichtlinie erforderlichen Aufnahmebedingungen zu gewährleisten, beginnt mit der Stellung des Asylantrags. Systematik und Zweck der Richtlinie und auch die Wahrung der Grundrechte verbieten es, dass einem Asylbewerber der mit den in der Richtlinie festgelegten Mindestnormen verbundene Schutz entzogen wird, und sei es auch nur vorübergehend nach Asylantragstellung.
125Vgl. EuGH, Urteil vom 27. Februar 2014 – C-79/13 – (Saciri u. a.), juris, Rn. 33 – 35, und Urteil vom 27. September 2012 – C-179/11 – (Cimade), NVwZ 2012, 1529 = juris, Rn. 39, 56, jeweils zur Richtlinie 2003/9/EG.
126Davon ausgehend kann ein Staat im Rahmen von Art. 3 EMRK (bzw. entsprechend Art. 4 EUGRCh) – zumindest in Gestalt einer in Betracht kommenden Möglichkeit – für eine Behandlung verantwortlich sein, bei der sich ein von staatlicher Unterstützung vollständig abhängiger Asylsuchender in einer gravierenden Mangel- oder Notsituation staatlicher Gleichgültigkeit ausgesetzt sieht, die mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Dies kann der Fall sein, wenn ein Asylsuchender erkanntermaßen mehrere Monate obdachlos auf der Straße gelebt hat, ohne Einnahmen oder Zugang zu Sanitäreinrichtungen und ohne die Mittel zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse.
127EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 253, 263.
128Hiernach ergibt sich: Eine systemisch begründete, ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK liegt (insbesondere) vor, wenn mit Blick auf das Gewicht und Ausmaß einer drohenden Beeinträchtigung dieses Grundrechts mit einem beachtlichen Grad von Wahrscheinlichkeit die reale, nämlich durch eine hinreichend gesicherte Tatsachengrundlage belegte Gefahr besteht, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er als den nach der Dublin II-VO „zuständigen“ Staat überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren, welches nicht mit grundlegenden Mängeln behaftet ist, verwehrt oder massiv erschwert wird, das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet oder dass er während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse des Menschen (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in einer noch zumutbarer Weise befriedigen kann.
129Sind in diesem Zusammenhang bestimmte Anforderungen in EU-Richtlinien festgelegt worden, kann sich (konkretisierend) auch daraus der im Sinne der angesprochenen Artikel für ein menschenwürdiges Dasein einzuhaltende Maßstab ergeben, soweit es sich dabei erkennbar um Mindestanforderungen handelt. Hieran muss sich dann nicht nur der Inhalt nationaler Rechtsvorschriften, sondern auch und gerade die praktische Umsetzung messen lassen. Das betrifft in vorliegenden Zusammenhang insbesondere die materiellen Aufnahmebedingungen, wie sie in Art. 17 und 18 der Aufnahmerichtlinie (Neufassung 2013) für bedürftige Personen unter den Asylantragstellern prinzipiell festgelegt sind. Dabei erlauben diese in bestimmten Ausnahmesituationen, wie etwa bei vorübergehender Erschöpfung der üblicherweise zur Verfügung stehenden Unterbringungskapazitäten, aber auch zeitlich begrenzte Einschränkungen (Art. 18 Abs. 9 Satz 1 Buchst. b der Aufnahmerichtlinie). Auch dann muss aber das absolut garantierte Minimum (hier: Deckung der „Grundbedürfnisse“) gewährleistet bleiben (Art. 18 Abs. 9 Satz 2 der Aufnahmerichtlinie).
130Die sich aus der Aufnahmerichtlinie ergebenden Verpflichtungen hat Italien in innerstaatliches Recht übernommen.
131bb) Auf der Grundlage des im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in dem Berufungsverfahren vorliegenden Erkenntnismaterials zur Situation von Asylbewerbern – und darunter namentlich von Dublin-Rückkehrern – in Italien steht zur Überzeugung des Senats fest, dass keine ernsthaften und durch Tatsachen bestätigten Gründe dafür vorliegen, dass der Kläger im Falle seiner Überstellung in diesen Mitgliedstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft, ausgehend von systemischen Mängeln des dortigen Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 EUGRCh ausgesetzt zu werden.
132Bei der Bewertung der in Italien anzutreffenden Umstände der Durchführung des Asylverfahrens und der Aufnahme von Flüchtlingen sind diejenigen Umstände heranzuziehen, die auch auf die Situation des Klägers zutreffen. Abzustellen ist demnach auf die Situation von Flüchtlingen in einer vergleichbaren rechtlichen und tatsächlichen Lage, wohingegen die Situation von Flüchtlingen in anderen rechtlichen oder tatsächlichen Umständen keine unmittelbare Rolle spielt. Sie kann allenfalls ergänzend herangezogen werden, sofern sich diese Umstände auch auf die Situation des Klägers auswirken (können). Demgemäß ist in erster Linie die Situation von Dublin-Rückkehrern zu beleuchten, die – wie der Kläger – in Italien bislang noch keinen Asylantrag gestellt haben. Ferner ist davon auszugehen, dass der Kläger bei seiner (unterstellten) Ankunft in Italien einen Asylantrag stellt und die dort zur Verfügung stehenden Angebote der Versorgung im Rahmen des Möglichen tatsächlich nutzt. Nicht maßgeblich ist demnach z. B. die Situation von Rückkehrern, die bei ihrem ersten Aufenthalt in Italien bereits einen Asylantrag gestellt hatten, über den schon entschieden worden ist, die sich also aktuell nicht mehr in einem Asylverfahren befinden und die ein solches, auch wenn der ursprüngliche Antrag abgelehnt worden war, regelmäßig nicht mehr (unter den gleichen Voraussetzungen wie bei einem Erstantrag) neu einleiten können. Dies gilt ebenso für in Italien verbliebene Flüchtlinge, deren Asylverfahren abgeschlossen ist. Es betrifft weiter Flüchtlinge, die keine (in der Regel zuvor angekündigten) Dublin-Rückkehrer sind, sondern – wie beispielsweise die sog. Bootsflüchtlinge – außerhalb eines geordneten Verfahrens in Italien ankommen und um Schutz nachsuchen. Schließlich betrifft dies Flüchtlinge, die sich dem Asylsystem komplett entzogen haben, etwa weil sie überhaupt keinen Asylantrag gestellt haben (und u.U. auch gar nicht stellen wollen), demzufolge auch nicht registriert sind und folglich auch keine der Aufnahmerichtlinie entsprechenden Leistungen erhalten können.
133Hiervon ausgehend kommt der Senat bei der Würdigung des Erkenntnismaterials in einer Gesamtschau zu dem Ergebnis, dass Italien – mit Blick sowohl auf das dortige Rechtssystem als auch insbesondere die Verwaltungspraxis – über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches trotz ggf. vorliegender einzelner Mängel nicht nur abstrakt, sondern gerade auch unter Würdigung der „vor Ort“ tatsächlich anzutreffenden Rahmenbedingungen prinzipiell funktionsfähig ist und dabei insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber „im Normalfall“, also bei nach der Erkenntnislage vorhersehbarem Verlauf der Dinge, nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen, namentlich nicht solchen i.S.d. Gewährleistung aus Art. 4 EUGRCh, rechnen muss.
134Obwohl sich in Teilbereichen der tatsächlichen Aufnahmebedingungen (nach wie vor) durchaus Mängel und Defizite nicht ganz unwesentlicher Art feststellen lassen, sind diese weder für sich genommen noch insgesamt als so gravierend zu bewerten, dass ein grundlegendes, systemisches Versagen des Mitgliedstaates vorläge, welches für einen Dublin-Rückkehrer wie den Kläger nach dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit Rechtsverletzungen im Schutzbereich von Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK mit dem dafür notwendigen Schweregrad impliziert.
135Im Einzelnen gilt hierzu:
136(1) Dublin-Rückkehrer werden zurzeit unter Bedingungen nach Italien überstellt, welche in der Regel den ungehinderten Zugang zum Asylverfahren und in der ersten Zeit nach der Überstellung auch ein (in dem zu fordernden Mindestmaß) geordnetes Aufnahmeverfahren mitsamt den zugehörigen Leistungen zur Sicherung der Grundbedürfnisse gewährleisten. Soweit Probleme wesentlich erst durch ein eigenmächtiges (Anders-)Verhalten der Betroffenen (z.B. fehlendes Hinbegeben zu den als zuständig mitgeteilten Stellen, Untertauchen, bewusste Nichtinanspruchnahme von Beratung bzw. Vermittlung von Unterkunft, vorzugsweises Wohnen in „besetzten Häusern“ oder Slums statt in staatlichen Aufnahmeeinrichtungen aufgrund eigener Willensentscheidung) ausgelöst werden, kann dies – das sei hier vorangestellt – nicht dem italienischen Staat als Systemfehler und Auslöser einer Grundrechtsverletzung angelastet werden.
137Dublin-Rückkehrer werden in der Regel auf dem Luftweg nach Italien überstellt. Sie treffen zumeist auf den Flughäfen Fiumicino in Rom oder Malpensa in Mailand (vgl. z.B. UNHCR, Recommendations on important aspects of refugee protection in Italy, Juli 2013 – nachfolgend zitiert: Bericht Juli 2013 –, S. 7), in begrenzter Anzahl auch auf einigen weiteren Flughäfen ein. Für den Kläger war im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Bescheid (wie zuvor auch schon in 2009) eine Überstellung nach Rom konkret vorgesehen. Insofern spricht hier eine große Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine künftige Überstellung ebenfalls nach Rom (oder sonst voraussichtlich nach Mailand) erfolgen wird.
138Nach Rom-Fiumicino (rück-)überstellte Personen werden – regelmäßig nach entsprechender Vorankündigung (UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7) – von der Grenz- bzw. Luftpolizei beim Flugzeug abgeholt und zur Questura am Flughafen begleitet. Dort werden Fotos und Fingerabdrücke genommen. Haben die Betroffenen in Italien noch keinen Asylantrag gestellt, so können sie einen solchen Antrag sogleich im Büro der Questura am Flughafen registrieren lassen (UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7, und an VG Freiburg, Dezember 2013, S. 7, zu Rom-Fiumicimo); andernfalls erhalten sie ein Schreiben, aus dem sich die für sie zuständige Questura ergibt, wo sie ihren Antrag formalisieren lassen können, einen Termin hierfür sowie ein Zugticket dorthin (zum Ganzen: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Aktuelle Situation von Asylsuchenden und Schutzberechtigten, insbesondere Dublin-Rückkehrenden, Oktober 2013 – im Folgenden zitiert: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013 –, S. 13 f., 16; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7; Auswärtiges Amt (AA) an Senat vom 11. September 2013, zu Frage a; AA an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Fragen 2 und 8).
139Vgl. hierzu und zum Folgenden ferner etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013– 3 L 643/12 –, juris (UA S. 21); VG Stuttgart, Beschluss vom 31. Januar 2014 – A 11 K 3470/13 –, UA S. 13 f.
140Von der Questura aus werden die Ankömmlinge weiter zu der jeweils zuständigen Nichtregierungsorganisation (NGO) begleitet, die sich im Transitbereich der Nicht-Schengen-Zone des Flughafens befindet. Diese NGO – in Rom ist nach Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (Oktober 2013, S. 14) zurzeit die „Badia Grande“ zuständig – bietet dort im Auftrag der Präfektur Beratung mit Blick auf das weitere Verfahren an. Dolmetscher und Informationsbroschüren stehen zur Verfügung. Die betreffende NGO kümmert sich in der Regel auch um die zumindest vorläufige Unterbringung der Dublin-Rückkehrer, jedenfalls derjenigen, die einen Asylantrag gestellt haben bzw. stellen wollen. Das kann eine Übergangsunterkunft (transit accommodation, z.B. FER-Unterkünfte als mit EU-Mitteln finanziertes Projekt speziell für Dublin-Überstellte, nur teilweise begrenzt auf „vulnerable cases“), eine (Not-)Unterkunft in einer kommunalen oder karitativen Einrichtung), ggf. aber auch schon eine längerfristige Unterkunft in einer der „regulären“ Systeme staatlicher Aufnahmeeinrichtungen (namentlich CARA oder SPRAR) betreffen. Ob Letzteres schon möglich ist, hängt davon ab, ob im Einzelfall die örtliche oder eine andere Präfektur für den Betroffenen zuständig ist. Bis es auf diese Weise gelingt, für die Dublin-Rückkehrer eine Unterkunft zu finden, müssen diese allerdings unter Umständen einige Tage am Flughafen verbleiben und dort (ohne besondere Schlafplätze, aber wohl geduldet) auch übernachten (zum Ganzen: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14 f., 15 f.; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 11 f.; AA an Senat vom 11. September 2013, zu Frage a; AA an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 2; Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Stellungnahme vom 21. November 2013, zu 3. und 7., welche u.a. darauf hinweist, die überstellten Asylbewerber würden an den Flughäfen Rom-Fiumicino und Mailand-Malpensa nach eigenen Feststellungen „sehr intensiv betreut“; zu „temporary reception systems“ für Dublin-Rückkehrer etwa auch European Network for technical cooperation on the application of the Dublin II Regulation, Dublin II Regulation National Report, Dezember 2012, S. 48; aida – Asylum Information Database -, National Country Report Italy, Update November 2013, nachfolgend zitiert: aida-Report, November 2013, S. 42, wo andererseits aber auch kritisch angemerkt wird, dass die Unterbringung der Dublin-Rückkehrer insgesamt noch zu lange dauere und es vorkomme, dass einzelne Betroffene am Ende nicht mit einer Unterkunft versorgt würden und in alternativen/selbstorganisierten Unterkunftsformen eine Bleibe fänden).
141Richtig ist allerdings auch, dass die beschriebenen Abläufe wohl nicht in jedem Einzelfall sichergestellt sind. Das mag damit zusammenhängen, dass nach vorliegenden Erkenntnissen Grenzpolizei und NGOs von der italienischen Dublin-Unit nicht immer rechtzeitig und ausreichend informiert werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14, 15). Im Prinzip werden die NGOs aber über die Ankunft von Dublin-Fällen vorab informiert (UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 7). Ein Versagen des Systems kann daher insoweit nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit prognostiziert werden.
142Dass der Kläger bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Senat in der ersten mündlichen Berufungsverhandlung vom 26. September 2013 die Abläufe im Bereich des Flughafens Rom-Fiumicino für seine Ende 2009 und damit vor über vier Jahren erfolgte Rücküberstellung anders geschildert hat, als es der vorstehend zusammengefassten, im Kern übereinstimmenden aktuellen Auskunftslage entspricht, vermag die prinzipielle Belastbarkeit des Inhalts dieser Auskünfte nicht durchgreifend in Frage zu stellen. Denn die aktuellen Erkenntnisquellen zu den derzeitigen Verhältnissen nach der Ankunft von Dublin-Rückkehrern am Flughafen geben für den Regelfall hierfür keinen Anhalt.
143Sollte die Überstellung des Klägers nach Mailand-Malpensa erfolgen, ergäbe sich hiervon keine beachtliche Abweichung. Denn die grundlegenden Strukturen und Verhältnisse der Aufnahme am Flughafen Mailand-Malpensa entsprechen weitgehend denjenigen am Flughafen Rom-Fiumicino (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 13 ff.).
144Allerdings ergibt sich aus den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen auch, dass die in Italien notwendige „Formalisierung“ eines gestellten Asylantrags – die sog. Verbalizzazione – nicht nur in Einzelfällen, sondern auch übergreifend und insofern einem in der Praxis auftretenden strukturellen Mangel zumindest nahekommend – zu Problemen für Asylbewerber (im Allgemeinen) führt bzw. zumindest geführt hat. Diese sind nämlich in dem Zeitraum bis zur Verbalizzazione nicht immer hinreichend vor Obdachlosigkeit geschützt. Denn Bemühungen um ihre Unterbringung, soweit sie durch die zuständige Questura getätigt werden, setz(t)en in der Regel erst nach der Verbalizzazione ein. Dieser Zwischenzeitraum kann – je nachdem, welche Stadt oder Region betroffen ist und ob es sich um ein Ballungszentrum mit einer Vielzahl zu bearbeitender Anträge oder um einen ländlich geprägten Raum handelt – von wenigen Tagen bis hin zu mehreren Wochen oder ggf. sogar Monaten reichen (vgl. zum Ganzen Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 12; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 6, 11, und auch schon Bericht Juli 2012, S. 7; AA an Senat vom 11. September 2013, zu Frage b, und an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 9; siehe für die damaligen Zeitpunkte auch Judith Gleitze, borderline europe, Gutachten an das VG Braunschweig, Dezember 2012, S. 9, und Associazione per gli Studi Giuridici sull‘ Immigrazione (ASGI), Die derzeitige Situation von Asylbewerbern in Italien, November 2012, S. 5 der deutschen Übersetzung). Exakte und zugleich zuverlässige Angaben lassen sich insoweit aber nicht mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit machen (vgl. aida-Report, November 2013, S. 42). Den Auskünften ist jedenfalls nicht zu entnehmen, dass die beschriebene Verzögerung der Regelfall ist (Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Stellungnahme vom 21. November 2013, zu 1.: teilweise mit Verzögerung; UNHCR vom Dezember 2013, S. 7: in der Regel Zugang zu Transitunterbringungseinrichtungen; evtl. einige Tage an Flughäfen warten; kann passieren, dass gemäß der Dublin-Verordnung überstellte Personen mehrere Tage am Flughafen verbringen; S. 11: UNHCR erhält Berichte über Fälle, in denen Asylsuchende nicht sofort Zugang zu Aufnahmemaßnahmen gewährt wird, sondern erst Wochen und Monate später; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14: Dublin-Rücküberstellte übernachten manchmal ein paar Tage am Flughafen [ohne Schlafplätze]; aida-Report, November 2013, S. 42: in den meisten Fällen [„in most of the cases“] dauert es zu lange, bis eine Unterkunft gefunden ist, mangels genereller Praxis lässt sich die Wartezeit nicht allgemein angeben, es kommt vor [„it happens“], dass Dublin-Rückkehrer nicht untergebracht werden).
145Der darin zum Ausdruck kommende Mangel ist vom italienischen Staat zudem nicht einfach untätig hingenommen worden. So hat das italienische Innenministerium in der ersten Jahreshälfte 2013 die nachgeordneten Behörden angewiesen, dass die Verbalizzazione zeitgleich mit der Asylgesuchstellung zusammenfallen soll. Zugleich ist ein neues Informatiksystem (Vestanet) eingeführt worden, von dem man sich ebenfalls eine Verkürzung der Wartezeiten erhofft. Allerdings benötigt die landesweite Implementierung noch Zeit und leidet unter technischen Anfangsschwierigkeiten, so dass die Prognose, ob dies zu einer Verbesserung führen wird, noch schwierig ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 12). Jedenfalls liegen dem Senat aber keine Erkenntnisse darüber vor, dass diese Weisung generell oder zumindest in einer Vielzahl von Fällen nicht befolgt würde.
146Unabhängig davon sind für Dublin-Rückkehrer unter den Asylbewerbern die nachfolgenden Ausführungen bedeutsam, welche den hier in Rede stehenden Mangel noch weiter relativieren: Wenngleich häufig betont wird, dass für Dublin-Rückkehrer insoweit prinzipiell keine Besonderheiten gelten bzw. diese in gleicher Weise von den in Rede stehenden Verzögerungen durch die erst später durchgeführte Registrierung des Asylantrags betroffen sein sollen (vgl. etwa AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, zu 1.4; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Bericht Oktober 2013, S. 12), ist dies bei verständiger Würdigung (nur) dahin zu verstehen, dass das System des Asylverfahrens für diese Personengruppe in gleicher Weise ausgestaltet ist/war wie bei den sonstigen Asylsuchenden. Das meint hier im Besonderen die „Zweistufigkeit“ des Verfahrens, d.h. das Auseinanderfallen von erster Äußerung eines Asylbegehrens und davon (in der Regel auch zeitlich) getrennter Formalisierung/Registrierung des Asylantrags. Mit Blick auf das Grundrecht aus Art. 4 EUGRCh ernstlich bedenklich ist aber in diesem Zusammenhang nicht die hierdurch ggf. mit herbeigeführte Verzögerung des Beginns des Asylverfahrens als solche, sondern nur deren Folge, die die Einhaltung richtlinienkonformer Aufnahmebedingungen betrifft. Dabei geht es namentlich um eine nicht durch systemische Mängel des Verfahrens zeitlich verzögerte Zurverfügungstellung einer Unterkunft und einer daran anknüpfenden weiteren Versorgung mit Kleidung, Essen, Hygieneartikeln etc. Gerade insoweit ist einschlägigen Erkenntnismitteln – zum Teil sogar sehr detailreich (siehe namentlich den Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Oktober 2013, S. 13 ff.) – aber zu entnehmen, dass speziell für die Dublin-Rückkehrer, die noch kein Asylgesuch in Italien gestellt hatten, zumindest an den italienischen Hauptflughäfen Einrichtungen zur Verfügung stehen, welche diese (anders als ggf. auf anderem Wege nach Italien einreisende Asylbewerber) bei Bedarf anleitend betreuen und die sich dabei gerade auch – schon in diesem Stadium – um die Suche nach einem (Interims-)Unterkunftsplatz bemühen, was ihnen – bei Wartezeiten von nur wenigen Tagen an den Flughäfen (siehe oben) – in der Regel auch gelingt. Das alles lässt jedenfalls für die Gruppe der Dublin-Rückkehrer, die noch keinen Schutzstatus haben, wie hier den Kläger, systemische Mängel i.S. der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, welche – bezogen auf den Schweregrad ausreichend – zugleich eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh implizieren, am Ende nicht hervortreten. Das gilt jedenfalls, soweit es (was bisher behandelt wurde) um die Aufnahmebedingungen unmittelbar nach der Überstellung nach Italien geht.
147Entgegen der Auffassung des Klägers lässt sich die durchaus organisierte Einbeziehung auch nichtstaatlicher, kirchlicher und sonstiger karitativer Einrichtungen in die Betreuung und Hilfeleistung auch dem italienischen Staat zurechnen. Denn die in Rede stehenden Organisationen werden in dem hier interessierenden Zusammenhang – auch die Zurverfügungstellung von (Not‑)Unterkünften betreffend – jedenfalls nicht ausschließlich allein aus eigenem Antrieb tätig, sondern in der Regel im Auftrag staatlicher Stellen wie der Präfektur (staatliche Mittelbehörde in den Provinzen) oder der Kommunen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 14, 22, 33). Auch die letztlich fehlende zentrale Koordinierung der nebeneinander bestehenden Systeme zur Unterbringung von Asylbewerbern und hier insbesondere Dublin-Rücküberstellten unter Einbeziehung staatlicher und nichtstaatlicher Stellen bzw. Organisationen mag zwar gewisse Defizite und Reibungsverluste begünstigen, sie stellt aber für sich genommen noch keinen systemischen und auch keinen auf eine zu befürchtende Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh führenden Mangel mit dem dafür erforderlichen Gewicht dar.
148(2) Dublin-Rückkehrer müssen nach der aktuellen Erkenntnislage auch während der (weiteren) Durchführung ihres Asylverfahrens in Italien nicht beachtlich wahrscheinlich damit rechnen, dass sie in ihrem Grundrecht aus Art. 4 EUGRCh verletzt werden, indem ihnen durch den italienischen Staat wegen von der Zahl her offensichtlich nicht ausreichender angemessener Unterkunftsmöglichkeiten ein Leben „auf der Straße“ oder in „Elendsquartieren“ (bekanntermaßen) zugemutet würde und damit ihr Recht auf Unterkunft (vgl. hierzu Art. 17 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Buchst. g der Aufnahmerichtlinie) systematisch unbeachtet bliebe. Eine solchermaßen dramatische Lage lässt sich aktuell für Italien aufgrund belastbarer Tatsachen nicht feststellen. Im Ergebnis unerheblich ist dabei, dass es in diesem Zusammenhang nicht zu vernachlässigende Mängel und Defizite gibt, auf die verbreitet hingewiesen wird und deren Abstellen bzw. (weiteres) Verringern sicherlich wünschenswert ist. In diese Richtung hat die italienische Regierung aber auch bereits von den Flüchtlingsorganisationen gewürdigte Schritte unternommen.
149Es fehlt zunächst nicht grundlegend an einem planvollen System bzw. (genauer) an verschiedenen, sich ergänzenden Systemen von Aufnahmeeinrichtungen, in denen Dublin-Rückkehrer, sei es zum Teil auch neben anderen Personengruppen (sonstige Asylbewerber, schon anerkannte Flüchtlinge), während eines in Italien durchgeführten Asylverfahrens nicht nur als vorübergehender „Notbehelf“, sondern prinzipiell für die gesamte Dauer dieses Verfahrens (im Einzelfall auch über 6 Monate hinaus) eine Unterkunft finden können. Diese wird den Betroffenen im Rahmen eines ebenfalls in den Grundstrukturen geordneten Vermittlungs-/Zuweisungsverfahrens – in der Regel durch die jeweils örtlich zuständige Präfektur oder Questura – zugeteilt. Wesentliche Bestandteile dieses Aufnahmesystems sind – insbesondere für die Erstaufnahme – die als CARA bezeichneten, in der Regel größeren Aufnahmezentren sowie – in einer zweiten Phase, ggf. aber auch schon für die Erstaufnahme u.a. von Dublin-Rückkehrern – die Einrichtungen des Aufnahmesystems SPRAR. Letztere umfassen nicht nur eine Wohnmöglichkeit, sondern stellen sich als ein individualisiertes Integrationsprojekt mit Sprachkursen, Berufsbildung und Unterstützung bei der Arbeitssuche dar, welches nicht nur Asylsuchenden offen steht, sondern auch anerkannten Schutzberechtigten (siehe Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 22; aida-Report, November 2013, S. 46; borderline-europe, Gutachten Dezember 2012, S. 15 f.)
150Vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 43.
151Hinzu treten namentlich in den größeren Städten wie Rom und Mailand noch kommunale oder (im Auftrag der Gemeinden) von NGOs betriebene Unterkünfte, die allerdings ebenfalls nicht exklusiv der Unterbringung von Asylbewerbern bzw. der Dublin-Rückkehrer unter ihnen zur Verfügung stehen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 26 ff., 33 ff.).
152Allerdings können Unterkunftsplätze in allen diesen Einrichtungen nur dann konkret angeboten und belegt werden, soweit sie auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Blick auf die vorhandenen Kapazitäten zu lenken. Diesbezüglich wird, was sich mit gewissen Unterschieden auf alle zur Verfügung stehenden Systeme/Unterbringungsarten erstreckt und schon die Übergangsunterkünfte (FER-Projekte) mit einbezieht, von einem Großteil der dem Senat vorliegenden Auskünfte und Berichte namentlich der Flüchtlingsorganisationen das Gesamtangebot als unzureichend kritisiert (vgl. etwa Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 18, 20, 26, 29, 35; aida-Report, November 2013, S. 45, 47; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 11: „lack of capacity in the existing reception system“). Zum Teil wird auch auf aktuelle Engpässe der Belegungssituation gerade in bestimmten Unterkunftsarten, wie etwa in den CARA, hingewiesen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 18 ff.). Insofern überzeugt es wenig, wenn demgegenüber das Auswärtige Amt in seinen Auskünften (z.B. AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 3., erster Absatz und am Ende, sowie in seiner Auskunft an den Senat vom 11. September 2013, zu Frage c)) auch auf Nachfrage des Senats ohne konkret nachvollziehbare Begründung davon ausgeht, es gebe landesweit ausreichende Kapazitäten, um in Italien alle Asylbewerber und Flüchtlinge und darunter insbesondere auch die Dublin-Rückkehrer sofort mit einer Unterkunft zu versorgen (Hervorhebung durch den Senat).
153Die vorstehend thematisierten Erkenntnisse sind in die Gesamtwürdigung mit einzustellen, soweit es um die Frage geht, ob in der Zurverfügungstellung eines solchen begrenzten Gesamtangebots ein systemischer Mangel der Aufnahmebedingungen zu sehen ist, und ob dieser zugleich die Prognose rechtfertigt, dass überstellte Dublin-Rückkehrer derzeit konkret der Gefahr ausgesetzt sind, obdachlos zu werden. Die Auskünfte sind allerdings unter den nachfolgenden Gesichtspunkten näher zu hinterfragen und im Gefolge dessen auch zu relativieren:
154Was die Zahl der insgesamt oder in den jeweiligen Unterkunftssystemen für sich genommen vorhandenen Plätze betrifft, gibt es in den Erkenntnismitteln Angaben, die sich hinsichtlich der zugrunde gelegten Zahlen jedenfalls zum Teil voneinander unterscheiden (vgl. AA an VG Minden vom 24. Mai 2013 zu Frage 8. in Bezug auf das Gutachten von borderline-europe; Liaisonbeamtin des Bundesamtes in ihrer Stellungnahme vom 21. November 2013 zu Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, zu 1.). Ferner ist in Rechnung zu stellen, dass – zumindest die CARA betreffend – derzeit faktisch wohl Überbelegungen stattfinden, d.h. mehr Personen dorthin zugewiesen werden als diejenige Zahl, für die die jeweilige Einrichtung ausgelegt ist (vgl. Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Stellungnahme vom 21. November 2013, zu 1. mit nach einzelnen CARA aufgeschlüsselter Tabelle). Insofern kommen namentlich in den staatlichen Unterkunftseinrichtungen wahrscheinlich mehr Betroffene unter, als es die nackten Zahlen über die Kapazität dieser Einrichtungen annehmen lassen; die „Soll-Belegung“ muss insofern nicht die „Ist-Belegung“ widerspiegeln. Dies mag als unterstützender Beleg für eine insgesamt unzureichende Unterbringung von Flüchtlingen gewertet werden können, zeigt andererseits aber auch anschaulich, dass den italienischen Stellen das Schicksal der Flüchtlinge nicht gleichgültig ist, sie vielmehr in großer Zahl unter Ausschöpfung von Unterbringungsreserven ein Obdach erhalten und deshalb nicht vollkommen schutzlos auf sich selbst gestellt sind.
155Vgl. zur Abgrenzung etwa EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 – 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 263, wo der betroffene Mitgliedstaat – dort Griechenland – gerade auch wegen seiner Untätigkeit für die Lage verantwortlich gemacht wurde, aus der die tatsächliche Gefahr, Opfer einer erniedrigenden Behandlung zu werden, erwuchs.
156Und noch ein Weiteres erschwert in diesem Zusammenhang die Betrachtung: Die Zahlen zur (Soll-)Aufnahmekapazität einzelner oder auch aller Einrichtungen geben für sich genommen schon deswegen kein vollständiges Bild, weil es daneben wesentlich darauf ankommt, wie oft (etwa pro Jahr) ein Wechsel erfolgt, also ein vorhandener Platz wieder frei und neu besetzbar wird. Gerade zu Letzterem und auch (als Indiz hierfür) zur Länge der Asylverfahren gibt es aber keine eindeutigen, durch statistisches Material belegten und verfügbaren Erkenntnisse, obwohl gerade dies für eine gesicherte Annahme von etwaigen Rückkoppelungseffekten (Blockierung von Plätzen durch eine längere als die gewöhnliche Aufenthaltsdauer der „Vorgänger“) von Interesse wäre. Man ist deshalb im Wesentlichen auf überschlägige Schätzungen angewiesen. Der aida-Report, November 2013, S. 43, geht von einer durchschnittlichen Verweildauer in CARAs von 8 bis 10 Monaten aus, in SPRARs könne der Aufenthalt 6 bis 12 Monate andauern. In den Auskünften des Auswärtigen Amtes wird typisierend davon ausgegangen, dass ein Unterkunftsplatz (insbesondere in den SPRAR-Einrichtungen) zwei Mal im Jahr neu belegt werden kann; insofern werden die Zahlen zur Aufnahmekapazität – zum Teil ohne die gebotene Erläuterung – schlicht verdoppelt (siehe AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 3, und an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 8; dazu auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 23)). Das verzerrt allerdings das Zahlenmaterial für den notwendigen Vergleich mit anderen Erkenntnismitteln, die häufig eine entsprechende statistische Erhöhung der Kapazität in ihren Zahlenangaben nicht berücksichtigt haben. Die Angabe eines „typischen“ Belegungszeitraums erweist sich bezogen auf nicht staatliche Unterkünfte, die von Kommunen oder NGOs getragen werden, als noch schwieriger und unsicherer im Aussagegehalt. Bezieht man dabei zusätzlich zu festen kommunalen Aufnahmezentren auch die diversen Notschlafstellen bei kirchlichen Einrichtungen oder NGOs mit ein, so ist es unmöglich, überhaupt nur einen Überblick auch schon über die Anzahl der zur Verfügung stehenden Plätze zu gewinnen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 35). Diese Plätze stehen darüber hinaus nicht speziell Asylbewerbern zur Verfügung, obschon auch solche dort inzwischen vermehrt unterkommen (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 27).
157Schließlich kommt Folgendes noch relativierend hinzu, und zwar mit Blick darauf, ob dem Bestand an Unterkunftsplätzen ohne Weiteres die Gesamtzahl der in Italien pro Jahr ankommenden Flüchtlinge vergleichend gegenüber gestellt werden kann, um auf diese Weise ein konkret bestehendes Unterkunftsdefizit hinreichend plausibel zu machen: Insofern muss man sich vergegenwärtigen, dass ein nicht exakt bezifferbarer Teil der in Italien anlandenden Flüchtlinge und auch der nach der Dublin II-VO überstellten Personen, die in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Deutschland) einen Asylantrag gestellt hatten, unabhängig von der unter Umständen gegebenen Möglichkeit ihrer Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung selbst die Entscheidung trifft, im Land unterzutauchen und/oder Italien wieder zu verlassen und – ggf. zum wiederholten Male – in einen anderen Mitgliedstaat der EU, in dem (vermeintlich) bessere Aufnahmebedingungen herrschen, weiterzureisen. Insbesondere Letzteres hat zur Folge, dass diese Personen zumindest vorübergehend die italienischen Aufnahmeeinrichtungen nicht belasten. Es gibt auch keinen allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts, dass Asylbewerber bzw. Flüchtlinge ein solches Verhalten immer erst dann an den Tag legen, wenn die Aufnahmebedingungen, die sie erwarten, objektiv dem Maßstab des Grundrechts aus Art. 4 EUGRCh nicht genügen. Vielmehr können die Gründe für das angeführte Verhalten unterschiedlichster Art sein, und sie müssen auch nicht stets nachvollziehbar sein. So wird etwa in dem schon an anderer Stelle zitierten aida-Report von November 2013 (S. 42) von einem Vorkommnis im Oktober 2013 berichtet, bei dem von 155 geretteten Bootsflüchtlingen 89 nach Rom transferiert worden seien; diese seien sämtlich aus dem dortigen Aufnahmezentrum verschwunden, ohne dem Leiter des Zentrums vorher eine Mitteilung zu machen. Ein anderer Teil der Gesamtzahl der in Italien eintreffenden Flüchtlinge kommt– wie schon dargelegt – bei kommunalen und karitativen Einrichtungen unter. Auch dieser nicht gering zu schätzende Teil kann im Rahmen einer vergleichenden (Zahlen-)Betrachtung nicht einfach der Gesamtanzahl der vorhandenen staatlichen Unterkünfte mit gegenübergestellt werden.
158Vgl. zu dem (u.a.) aus beiden vorstehenden Gründen als gering einzustufenden Aussagewert der Zahlen zur Kapazität der öffentlichen (staatlichen) Aufnahmeeinrichtungen auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juni 2013– OVG 7 S 58.13 –, juris, Rn. 27.
159Aber selbst unterstellt, es gäbe einen geeigneten und hinreichend belastbaren Anhalt dafür, dass die in Italien aktuell vorhandenen Kapazitäten zur Unterbringung von Asylbewerbern – und hier insbesondere der Dublin-Rückkehrer unter ihnen – insgesamt nicht ausreichen würden, um für alle Betroffenen die Zuteilung einer (nicht nur nach der Ankunft in Italien übergangsweise vermittelten) Unterkunft regelmäßig ohne Wartezeiten von Belang sicherzustellen, ergäbe sich allein daraus nach Auffassung des Senats noch kein systemisches, die Grenze zur drohenden Grundrechtsverletzung nach Art. 4 EUGRCh überschreitendes Versagen des Staates im Sinne der oben zitierten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Hierzu gilt:
160Die Frage, in welchem Umfang ein Staat für Asylbewerber bzw. Flüchtlinge aus anderen Ländern angemessene Unterkunftsmöglichkeiten konkret vorsehen (schaffen und aufrechterhalten) muss, lässt sich nicht abstrakt in einem bestimmten Sinne – etwa durch Festlegung einer genauen Mindestanzahl – bestimmen. Das hängt damit zusammen, dass die betreffende Aufgabe sich erst als Reaktion auf bestimmte andere, den Handlungsauftrag auslösende Umstände ergibt. Das sind hier konkret absehbare oder schon vorhandene Flüchtlingsströme in die EU, welche den in Rede stehenden Mitgliedstaat berühren. Die diesbezügliche Situation kann sich ggf. sehr schnell zuspitzen, kann sich dann aber auch wieder deutlich entspannen, um dann evtl. wieder durch neu entstandene politische Konflikte oder Bürgerkriegssituationen z.B. im Mittelmeerraum zu eskalieren. Da die ständige Vorhaltung von Unterkünften für Asylbewerber und Flüchtlinge in großer Zahl nicht unerhebliche finanzielle Mittel bindet, kann in diesem Zusammenhang zumal von Staaten, die wie Italien aktuell eine Wirtschaftskrise durchgemacht haben, nicht strikt verlangt werden, dass sie rein vorsorglich Unterkunftskapazitäten für Asylbewerber in einem Umfang bereithalten müssen, der nicht ständig, sondern nur bei einer ggf. auftretenden Spitzenbelastung benötigt wird. Vielmehr reicht es grundsätzlich aus, wenn sich der betroffene Mitgliedstaat erfolgversprechend bemüht, den sich aus dem Dublin-System ergebenden europarechtlichen Anforderungen je nach der auftretenden Lage im Wege flexibler Anpassung seines Aufnahmesystems zu entsprechen. Dies kann etwa in der Weise geschehen, dass in „ruhigeren Zeiten“ Kapazitäten maßvoll zurückgefahren, diese bei einer neu auftretenden Belastungssituation dann aber wieder in prinzipiell ausreichendem Maße aufgestockt werden.
161Ähnlich OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juni 2013 – OVG 7 S 58.13 –, juris, Rn. 18, 19; für die Berücksichtigung erkennbarer, realer Bemühungen eines Mitgliedstaates im Zusammenhang mit der Bewertung, ob ein systemischer Mangel der Aufnahmebedingungen angenommen werden kann, auch OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13.OVG –, juris, Rn. 47.
162Hiervon ausgehend hat sich Italien – unbeschadet mancherseits, auch von UNHCR, zu Recht angebrachter (Teil-)Kritik – im Wesentlichen (noch) so verhalten, dass weder die Funktionsfähigkeit des Systems als solches in Frage gestellt worden ist noch die aktuell vorhandenen Mängel ein Ausmaß und Gewicht erreichen, von dem ausgehend die Prognose der realen Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh gerechtfertigt erscheint:
163Nachdem im Zuge insbesondere der Ereignisse in Tunesien und in Libyen die Zahl der über das Mittelmeer nach Italien geflüchteten Personen im Jahr 2011 einen Höchststand erreicht hatte (ca. 62.000 Anlandungen in Süditalien bei insgesamt 34.115 Asylgesuchen in jenem Jahr; Zahlenangaben nach AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 2, und Schweizerischer Flüchtlingshilfe, Bericht Oktober 2013, S. 7, m.w.N.) trat im Jahr 2012 eine deutliche Entspannung der Situation ein (ca. 13.300 Anlandungen in Süditalien bei insgesamt 15.715 Asylgesuchen; Quellen für die Angaben wie vorstehend). Diese hat vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs in Syrien im Jahr 2013 zwar nicht fortgedauert, sondern es hat wieder eine deutliche Zunahme des Flüchtlingsstroms (auch) nach Italien gegeben. So gab es nach Angaben des Auswärtigen Amtes allein im ersten Halbjahr 2013 ca. 12.000 Anlandungen in Süditalien (AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 2), nach Schätzungen von UNHCR für den gleichen Zeitraum allerdings nur ca. 7.800 (Nachricht vom 6. Juli 2013 auf der Internet-Seite http://www.unhcr.de/archiv/nachrichten/artikel). Auf diese Zahlendivergenz kommt es hier nicht an, denn die Entwicklung des Wiederanstiegs hat sich im zweiten Halbjahr des Jahres 2013 unstreitig fortgesetzt und sogar noch verstärkt. So berichtet die Schweizerische Flüchtlingshilfe darüber, dass die Zahl der Bootsflüchtlinge, welche in Süditalien angekommen seien, „im Sommer 2013“ stark angestiegen sei (Bericht von Oktober 2013, S. 7). Insgesamt haben im Jahr 2013 knapp unter 43.000 Bootsflüchtlinge Italien erreicht (Luise Amtsberg, Bericht der flüchtlingspolitischen Reise nach Italien, Januar 2014, S. 5 f., abrufbar unter www.luise-amtsberg.de; Bericht Spiegel Online vom 17. Februar 2014 = Anlage zum Schriftsatz des Klägers vom 4. März 2014). Die sich daraus wieder ergebende deutliche Verschärfung der Lage, welche der Senat seiner Entscheidung zugrunde zu legen hat, ist somit eher plötzlich entstanden und konnte nicht ohne Weiteres vorhergesehen werden.
164Vor dem Hintergrund dieser seit 2011 in unterschiedliche Richtungen gehenden Entwicklungen und daran anknüpfender organisatorischer Planungen und Entscheidungen, die immer einen gewissen zeitlichen Vorlauf benötigen, ist zunächst kein durchgreifendes Fehlverhalten Italiens darin zu sehen, dass die zur Bewältigung des sog. „Notstand(es) Nordafrika“ seinerzeit von vornherein für einen vorübergehenden Zeitraum geschaffenen zusätzlichen Unterbringungsmöglichkeiten des Zivilschutzes in der Größenordnung von (ursprünglich) 50.000 Plätzen nach dem Auslaufen jenes Projekts Anfang 2013 nahezu vollständig wieder weggefallen sind. Denn als die Planungen für diesen Wegfall erstellt und ins Werk gesetzt wurden, war kein neuerlicher dramatischer Anstieg der Zahl von Bootsflüchtlingen und damit mittelbar zugleich von (künftigen) Dublin-Rückkehrern absehbar. Ob und inwieweit jene Unterbringungsmöglichkeiten, welche von vornherein nur vorübergehend zusätzlich zur Verfügung stehen sollten, über eventuelle Verdrängungseffekte (Hineinströmen neuer Bootsflüchtlinge in die für alle nur begrenzt vorhandenen Aufnahmeeinrichtungen) für die Chance von Dublin-Rückkehrern, untergebracht zu werden, überhaupt von Bedeutung gewesen sind (verneinend AA an den Senat vom 11. September 2013, zu Frage e), bedarf insofern keiner Klärung. Denn das inzwischen ausgelaufene Notstandsprogramm belegt jedenfalls, dass Italien in erheblichem Umfang zusätzliche Unterkunftsplätze einrichten und zur Verfügung stellen will und kann, wenn der Zustrom von Flüchtlingen dies erfordert. Daraus lässt sich zugleich schließen, dass bei einem aktuell oder künftig ansteigenden Bedarf an Unterkünften voraussichtlich ebenfalls (zumindest im Prinzip) eine Reaktion in Form der gebotenen Anpassung der zur Verfügung gestellten Unterbringungskapazität erfolgen wird.
165Vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 26 f.); OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Juni 2013 – OVG 7 S 58.13 –, juris, Rn. 19.
166Es gibt darüber hinaus aber auch konkrete Hinweise dafür, dass Italien sich seiner „Dublin-Verantwortung“ auch aktuell bewusst ist und bereits Anstrengungen unternommen sowie weitere Schritte eingeleitet hat, um die von Flüchtlingsorganisationen als zu knapp bemessen kritisierten Unterkunftskapazitäten in einem beachtenswerten und für ein Auffangen der meisten Fälle wohl ausreichenden Umfang wieder auszubauen.
167So ist die Zahl der SPRAR-Unterkünfte von ursprünglich 3.000 auf inzwischen mindestens 5.000 erhöht worden; zumindest im Aufbau begriffen, wenn nicht bereits erreicht oder sogar schon übertroffen (im letztgenannten Sinne aida-Report, November 2013, und die Liaisonbeamtin, siehe unten), ist eine weitere Erhöhung auf 8.000 Plätze. Aufgrund von Dekreten des Innenministeriums von Juli und September 2013 soll in dem Zeitraum von 2014 bis 2016 eine nochmalige Erhöhung auf 16.000 Plätze erfolgen. Mit weiterem Dekret von Oktober 2013 hat das Innenministerium speziell auf die durch den deutlichen Anstieg der auf dem Seeweg ankommenden Flüchtlinge eingetretene Notlage („emergency situation“) reagiert und aufgrund der Bewilligung außerordentlicher Geldmittel eine (wohl unmittelbar in Angriff zu nehmende) Erhöhung der Unterkunftsplätze beschlossen (vgl. insbesondere zu Letzterem aida-Report, November 2013, S. 42; zum Ganzen mit nur geringfügigen Unterschieden, die wohl in erster Linie durch die etwas auseinanderfallenden Zeitpunkte der Erkenntnisgewinnung zu erklären sind, auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 22 f.; Liaisonbeamtin des Bundesamtes, Auskunft vom 21. November 2013, zu 1.; AA an VG Minden vom 24. Mai 2013, zu Frage 5, und an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. August 2013, zu Frage 3; UNHCR, Bericht Juli 2013, S. 10). Allerdings hat die Schweizerische Flüchtlingshilfe (a.a.O.) in diesem Zusammenhang einschränkend darauf hingewiesen, dass durch den Ausbau der SPRAR-Unterkünfte die Gesamtkapazität nicht in gleichem Umfang steige (gestiegen sei), weil beispielsweise bisher unter kommunaler Verantwortung stehende Plätze in das Vorhaben integriert würden.
168Addiert man zu den in den (wenn auch zurzeit überbelegten) CARA laut Liaisonbeamtin des Bundesamtes mit ca. 11.000 untergebrachten Personen eine Kapazität der SPRAR-Projekte von laut aida bzw. der Liaisonbeamtin derzeit zwischen 8.000 und 9.500 Plätzen hinzu, so beträgt die Summe bereits ca. 20.000 staatliche Plätze. Dabei sind die kommunalen oder durch NGOs bereitgestellten Unterbringungsmöglichkeiten nicht mitgezählt, von denen es allein in Rom zusammen ca. 1.500 gibt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 27). Nimmt man hinzu, dass nicht alle Flüchtlinge über die Dauer von 12 Monaten in den Unterkünften verbleiben, können während eines Jahres tatsächlich mehr Flüchtlinge untergebracht werden, als es die Zahl der Unterkunftsplätze annehmen lässt (z.B. beträgt die durchschnittliche Verweildauer in CARAs 8 bis 10 Monate, aida-Report, November 2013, S. 43). Auch vor diesem Hintergrund und weil dies nicht einmal die bis 2016 angestrebte weitere Erhöhung der SPRAR-Plätze berücksichtigt, lassen auch schon die aktuellen Zahlen – unbeschadet der hierzu oben aufgezeigten Schwierigkeiten einer allein an diesen Zahlen orientierten Vergleichsrechnung – jedenfalls kein dramatisches Missverhältnis in Gestalt einer sich nach den empirischen Grundlagen aufdrängenden Kapazitätsunterdeckung erkennen. Das gilt selbst dann, wenn man richtigerweise einbezieht, dass ein Teil der Unterkünfte auch anerkannten Flüchtlingen, die sich schon im Land befinden, (für einen gewissen Zeitraum) zur Verfügung steht. Damit unterscheidet sich die Situation auch deutlich von der seinerzeitigen Lage in Griechenland, in welcher auch ein erwachsener männlicher Asylsuchender praktisch keine Chance auf einen Platz in einer Aufnahmeeinrichtung hatte, weil es weniger als 1000 Unterkünfte gab, um zehntausende Asylsuchende unterzubringen.
169Vgl. EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011– 30696/09 – (M.S.S.), EuGRZ 2011, 243, Rn. 258.
170Auch im Übrigen wird an den Strukturen der Aufnahme in Gestalt von Verbesserungen bzw. zumindest der Sicherung vorhandener Kapazitäten weiter gearbeitet. So soll etwa das am Stadtrand von Rom gelegene Centro Enea, eine zunächst von der Arcofraternita betriebene Einrichtung insbesondere für Dublin-Rückkehrer, die in Rom-Fiumicino ankommen, deren Fortbestand zwischenzeitlich unklar gewesen ist (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 20 oben), ab Januar 2014 in eine staatliche Gemeinschaftsunterkunft umgewandelt werden. Dies ergibt sich aus einem Bericht des Mitglieds des Deutschen Bundestags Luise Amtsberg (Bündnis 90/Die Grünen) vom 16. Januar 2014 („Bericht der flüchtlingspolitischen Reise nach Italien“, abrufbar unter www.luise-amtsberg.de).
171Es wird insoweit auf eine gute Infrastruktur des Hauses, auf verschiedene Kultur- und Bildungsangeboten sowie auf engagiert wirkende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hingewiesen. Zwar wird auch angemerkt, dass das betreffende Haus, welches 410 Menschen im Asylverfahren aus 35 verschiedenen Ländern beherberge, isoliert von der Außenwelt und viel zu groß für die individuelle Betreuung der Menschen sei. Das mag einen noch möglichen Verbesserungsbedarf anzeigen, lässt allerdings gewichtige Mängel des bestehenden bzw. im Aufbau begriffenen Zustandes nicht hervortreten. In dem vorgenannten Bericht wird im Übrigen an anderer Stelle (S. 6) auch darauf hingewiesen, dass angesichts des aktuell hohen Zustroms an Flüchtlingen sowie der Überfüllung der CARAs inzwischen alle Regionen Italiens aufgefordert seien, weitere (Aufnahme-)Zentren zu bauen.
172Dass Italien den in Bezug auf die tatsächlichen Aufnahmebedingungen bestehenden Mängeln und Defiziten nicht etwa schlechthin tatenlos zusieht, sondern (namentlich seit Ende 2012) durchaus anerkennenswerte Bemühungen unternimmt, die insoweit bestehende Situation zu verbessern, wird ferner – trotz zugleich geübter, auch struktureller Kritik, auch in dem letzten Bericht von UNHCR von Juli 2013 gewürdigt (S. 10 unten: „UNHCR welcomes the decision of the Ministry of Interior …“, „SPRAR projects … are able to provide for the reception needs of a significant number of asylum-seekers“). Als „äußerst unzureichend“– und damit wohl wesentlicher Grund für eine umfassende Reform des Aufnahmesystems – werden in jenem Zusammenhang allein die Unterstützungsmaßnahmen für anerkannte Flüchtlinge beschrieben (vgl. UNHCR an VG Freiburg von Dezember 2013, S. 6 oben, basierend auf dem UNHCR-Bericht über Italien von Juli 2013, dort S. 10 unten).
173Anders als für andere Staaten wie zuletzt Bulgarien und trotz inzwischen mehrfacher eingehender Befassung mit dem Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen in Italien auch für Dublin-Rückkehrer hat UNHCR bislang nicht explizit eine Empfehlung ausgesprochen, von der Überstellung von Asylbewerbern nach Italien abzusehen. In der Anlage zu dem beim Oberverwaltungsgericht etwa zweieinhalb Stunden vor der mündlichen Verhandlung eingegangenen Schreiben an den Senat vom 7. März 2014 (Ergänzende Informationen zur Veröffentlichung „UNHCR-Empfehlungen zu wichtigen Aspekten des Flüchtlingsschutzes in Italien – Juli 2013“) hat er hierzu erläuternd darauf hingewiesen, der Umstand, dass in dem betreffenden Papier keine Äußerung enthalten sei, ob systemische Mängel einer Überstellung nach Italien entgegenstünden, könne keine Grundlage für die Annahme bilden, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehende Umstände vorlägen. Ob solches der Fall sei, hätten vielmehr die Behörden und Gerichte im Einzelfall mit Blick darauf zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung ausschlössen. Dabei weiche der Prüfungsmaßstab in den Dublin-Fällen nicht von dem allgemein gültigen Maßstab des Schutzes des Art. 3 EMRK ab.
174Auf der Grundlage dieser Ausführungen ergibt sich weder eine Indizwirkung dafür noch eine solche dagegen, dass die in Italien derzeit vorzufindenden Aufnahmebedingungen die Überstellung eines Dublin-Rückkehrers, der wie der Kläger dort noch kein Asyl beantragt hatte und für den keine individuellen Besonderheiten gelten, allgemein hindern. Somit bleibt der Senat auch im Hinblick auf diese neue Stellungnahme aufgefordert, sich in der gebotenen Gesamtschau aller für und gegen eine drohende Verletzung des Klägers in seinen Grundrechten aus Art. 4 EUGRCh bzw. Art. 3 EMRK sprechenden Gründe ein eigenes Urteil zu bilden, ob die u.a. von UNHCR in der Sache angeführten Mängel und Defizite in Bezug auf das Asylsystem und die Aufnahmebedingungen gewichtig genug sind, um eine belastbare tatsächliche Grundlage für die Prognose zu bilden, der Kläger werde im Falle seiner Überstellung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine Unterkunft finden und obdachlos sein. Eine solche Grundlage ist aus den vorstehend angeführten Gründen nicht vorhanden.
175Allerdings merkt der Senat sein Befremden darüber an, dass UNHCR seine jetzige Interpretation des eigenen Berichts von Juli 2013 maßgeblich darauf stützt, dieser richte sich in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die italienische Regierung. Ohne diese Intention anzweifeln zu wollen, gründet das Befremden des Senats darin, dass UNHCR nicht unbekannt sein kann, dass die dort erstellten Berichte nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs „besonders relevant“ sind auch bei der Bewertung des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Zuge der Rückführung von Asylsuchenden nach der Dublin II-VO.
176Vgl. EuGH, Urteile vom 30. Mai 2013– C-528/11 – (Halaf), NVwZ-RR 2013, 660 =juris, Rn. 44, und vom 21. Dezember 2011– C-411/10 – (N.S.), NVwZ 2012, 417 = juris,Rn. 90 f.
177Vor diesem Hintergrund kommt es nicht mehr wesentlich auf die nicht durch prüffähige Einzelangaben belegte Darstellung der Liaisonbeamtin des Bundesamtes an, dass die in dem Bericht von UNHCR von Juli 2013 registrierten Mängel bereits zum großen Teil beseitigt worden seien, was ihr am 16. September 2013 die Capo Dipartimento, Angela Pria, versichert habe (vgl. die Stellungnahme der Liaisonbeamtin vom 21. November 2013, zu 7.).
178(3) Es gibt auf der Grundlage der dem Senat vorliegenden Erkenntnismittel ferner keinen hinreichenden Anhalt dafür, dass die den Asylbewerbern und darunter insbesondere den Dublin-Rückkehrern während der Durchführung des Asylverfahrens zur Verfügung gestellten Unterkünfte gleich welcher Art wegen ihrer Beschaffenheit und Ausstattung (z.B. der hygienischen Verhältnisse) oder auch wegen der dort herrschenden Zustände (insbesondere der Gefahr, das Opfer von Gewalttätigkeit und anderer krimineller Delikte zu werden) typischerweise unzureichend oder in Bezug auf das Zusammenleben mit anderen Personen auf ggf. engem Raum in einer Weise unzumutbar wären, dass daraus auf die konkrete Gefahr einer erniedrigenden Behandlung im Falle der Überstellung des Klägers nach Italien geschlossen werden könnte.
179Vgl. dazu allgemein auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 28 f., m.w.N.).
180Gegenteiliges lässt sich insbesondere auch nicht aus den Angaben des Klägers bei seiner persönlichen Anhörung vor dem Senat herleiten. Dies schon deshalb nicht, weil sich diese Angaben auf einen anderen Zeitpunkt und im Übrigen auch ausschließlich auf die Verhältnisse in einer Art „Sammelstelle“ auf Sizilien – und damit allenfalls auf die seinerzeitigen Bedingungen in Süditalien – beziehen. Die konkrete Unterkunftsart konnte der Kläger weder näher bezeichnen noch irgendwie klar umschreiben. Was die angeblich angetroffenen „schlechten“ Lebensbedingungen betrifft, fehlt es im Übrigen auch an der Relevanz, solange die Grenze des grundrechtlichen Gewährleistungsgehalts des Art. 4 EUGRCh nicht berührt wird. Namentlich ist es unerheblich, wenn die Aufnahmebedingungen nicht den Standard erreicht haben bzw. erreichen, wie er bei einer Aufnahme von Asylbewerbern in der Bundesrepublik Deutschland üblich ist. Für die nicht weiter belegte Annahme des Klägers, infolge der derzeitigen Überbelegung vieler Aufnahmeeinrichtungen herrschten dort gemeinhin menschenunwürdige Zustände, geben die Erkenntnisse nichts her. Darauf, ob dies vielleicht in Einzelfällen anders sein mag, kommt es nicht an.
181(4) Ebenso wenig lässt sich feststellen, dass Dublin-Rückkehrer, welche in Italien einen Asylantrag stellen, während des Verfahrens bis zur Entscheidung über diesen Antrag materielle Not leiden müssen, weil sie gemessen an den Vorgaben des Unionsrechts nicht das zum Leben Benötigte – wie insbesondere Nahrung, Wäsche, Kleidung und Hygieneartikel – erhalten. Vielmehr wird dem Rechtsanspruch der Asylsuchenden auf Verpflegung und Versorgung im Allgemeinen auch in Italien nachgekommen. Dies geschieht bei denjenigen Personen, die in staatlichen/öffentlichen Unterkünften untergebracht sind, in der Regel dadurch, dass die Aufnahmeeinrichtungen/-zentren auch die Verpflegung und Versorgung mit übernehmen. Aber auch für diejenigen Asylbewerber, die in nichtstaatlichen, namentlich in karitativen oder kirchlichen Unterkünften leben, wird grundsätzlich ausreichend gesorgt, wobei insoweit auch private Dienstleister herangezogen werden (vgl. AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, zu 5.; für seitdem eingetretene Änderungen ist nichts ersichtlich). Dass die Asylbewerber und hier insbesondere die Dublin-Rückkehrer unter ihnen typischerweise in extremer Armut leben und ihren Lebensunterhalt dabei beispielsweise durch Betteln oder Prostitution sichern müssten, kann folglich nicht festgestellt werden.
182Vgl. etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UAS. 29 ff.).
183Das schließt es nicht aus, dass im Einzelfall solches namentlich bei obdachlosen Personen hin und wieder vorkommen mag. Denn ein staatliches Sozialhilfesystem existiert in Italien nur sehr eingeschränkt. Das reicht indes nicht für die Annahme aus, der Kläger werde im Falle seiner Überstellung nach Italien ernstlich der realen Gefahr einer Verletzung von Art. 4 EUGRCh ausgesetzt sein.
184(5) Soweit es um die medizinische Versorgung der Dublin-Rückkehrer nach Italien geht, die dort ein Asylverfahren einleiten, unterscheidet sich die Situation nicht von derjenigen, die in Italien allgemein für Asylbewerber während ihres Verfahrens gilt. Als unionsrechtliche Vorgabe ist insoweit Art. 19 der Neufassung der Aufnahmerichtlinie (Richtlinie 2013/33/EU) zu beachten. Dieser garantiert allerdings für Antragsteller ohne besondere medizinische Bedürfnisse – wie hier den Kläger – nur einen Mindeststandard (Notversorgung, unmittelbar erforderliche Behandlungen). Dass Asylbewerber in Italien in der Regel eine medizinische Versorgung kostenfrei erhalten können, welche zumindest diesem Mindeststandard entspricht, wird vom Kläger und auch in den dem Senat vorliegenden (einschlägigen) Erkenntnismitteln nicht prinzipiell in Frage gestellt. In den Erkenntnissen wird allenfalls in Zweifel gezogen, ob auch jenseits der Not- bzw. Akutversorgung der allgemeine Zugang zum italienischen Gesundheitssystem, zu dem eine Gesundheitskarte nötig ist, den Asylbewerbern bereits – ggf. landesweit – dann eröffnet ist, wenn sie (noch) nicht über einen ständigen Wohnsitz bzw. eine feste Adresse verfügen, und inwiefern insoweit eine sog. fiktive bzw. virtuelle Adresse ausreicht und erlangt werden kann (siehe etwa Schweizerische Flüchtlingshilfe, Oktober 2013, S. 49 f., 52; AA an OVG Sachsen-Anhalt vom 21. Januar 2013, zu 6., und – dort entsprechend für anerkannte Schutzberechtigte – an VG Gießen vom 26. März 2013, zu Frage 4.; zu einzelnen Defiziten hinsichtlich der praktischen Anwendung der medizinischen Versorgung von Asylbewerbern seinerzeit Judith Gleitze, borderline europe, Gutachten an das VG Braunschweig, Dezember 2012, S. 45 ff.). Mängel der Aufnahmebedingungen, welche die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung beachtlich wahrscheinlich erscheinen ließen, lassen sich somit auch in diesem Zusammenhang nicht feststellen. Individuelle Besonderheiten im Sinne einer besonderen Verletzlichkeit oder medizinische Behandlungsbedürftigkeit des Klägers bestehen im Übrigen nicht.
185Vgl. zum Zugang zum Gesundheitssystem auch OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 31 f.).
186(6) Durchgreifende Mängel gibt es auch nicht in Bezug auf die Qualität und Dauer der Asylverfahren in Italien. Die Rechtsstellung der Betroffenen wird insoweit auch, was die faktische Umsetzung in der behördlichen Praxis einschließlich der Gewährung von Rechtsberatung und Rechtsschutz betrifft, nicht in einer nennenswerten Weise beeinträchtigt. Der Senat schließt sich insoweit der (vom Kläger nicht in Zweifel gezogenen) Bewertung durch das OVG Sachsen-Anhalt an und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf die dortigen einschlägigen Ausführungen Bezug, welche sich auch dazu verhalten, dass es in Italien keine unverhältnismäßig restriktive Asylpraxis gibt.
187Vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 –, juris (UA S. 32 ff.).
188(7) Die in Gesamtwürdigung der Verhältnisse gewonnene Einschätzung des Senats, dass das Asylverfahren und namentlich auch die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber – darunter hier speziell Dublin-Rückkehrer – in Italien nicht an systemischen Mängeln leiden, welche darauf führen, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird, stimmt schließlich mit der Bewertung überein, welche für dessen Entscheidungszeitpunkt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Beschluss vom 2. April 2013– 27725/10 – (Mohammed Hussein u.a.), insb. Rn. 78, unter Würdigung zahlreicher Berichte von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen getroffen hat. Dieser Entscheidung lag durchaus jedenfalls auch eine Betrachtung der allgemeinen Situation und der Lebensbedingungen in Italien zugrunde; keineswegs erfolgte sie maßgeblich (nur) vor dem Hintergrund etwaiger besonderer Umstände des zugrunde liegenden Falles wie namentlich des Umstandes, dass die Klägerin in dem Verfahren grundlegend falsche Angaben zum Sachverhalt gemacht hatte; ebenso wenig lässt sich ihr entnehmen, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe eigentlich etwas anderes, nämlich in Richtung auf das Bestehen systemischer Mängel, sagen wollen.
189In diesem Sinne (zu Unrecht) VG Frankfurt, Urteil vom 9. Juli 2013 – 7 K 560/11.F.A. –, juris, Rn. 61 f.; VG Gießen, Urteil vom 25. November 2013 – 1 K 844/11. GI.A –, juris, Rn. 36.
190Hierfür spricht nicht zuletzt auch, dass der EGMR seine Linie zu Italien auch in nachfolgenden Entscheidungen bestätigt hat.
191Vgl. Beschlüsse vom 18. Juni 2013 – 53852/11 – (Halimi), ZAR 2013, 338 (339, Rn. 68), und vom 10. September 2013 – 2314/10 – (Hussein Diirshi), Rn. 138, 139.
192Wie ein zwischenzeitlich vor der Großen Kammer des EGMR anhängiges und im Februar 2014 verhandeltes (weiteres) Verfahren zu Italien, das der Kläger angesprochen hat, ausgehen wird und inwiefern der EGMR in jenem Verfahren fallübergreifende Feststellungen zu den Verhältnissen in Italien treffen oder die konkreten Verhältnisse des zu entscheidenden Falles in den Vordergrund stellen wird, ist ungewiss; die Entscheidung hierzu steht noch aus.
193(8) Der Senat hatte auch mit Blick auf die vom Prozessbevollmächtigten des Klägers im Berufungsverfahren schriftsätzlich vorgebrachten Beweisanregungen keine Veranlassung, zur Gewinnung der für die Entscheidungsfindung erforderlichen Überzeugung noch weitere Gutachten, Auskünfte oder Stellungnahmen zur Situation der Asylbewerber in Italien einzuholen. Denn die vorliegenden Erkenntnismittel haben im Ergebnis ausgereicht, ihm diese Überzeugung bereits in einem ausreichenden Maße zu vermitteln.
194Dem steht zunächst nicht durchgreifend entgegen, dass der Senat in der mündlichen Verhandlung vom 26. September 2013 die Sache zunächst vertagt hat. Denn zu jenem Zeitpunkt standen wesentliche aktuelle Erkenntnismittel, wie namentlich der damals bereits angekündigte ausführliche Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe von Oktober 2013, noch nicht zur Verfügung. Der zusätzliche Umstand, dass der Senat unter dem 18. Oktober 2013 ein weiteres, trotz des Umfangs der gestellten Fragen im Wesentlichen die Erläuterung bzw. Konkretisierung/Substantiierung bereits vorliegender Aussagen betreffendes Auskunftsersuchen an das Auswärtige Amt gerichtet hat, welches das Auswärtige Amt dann angeblich mit den eigenen Möglichkeiten nicht beantworten konnte (vgl. die Antwortschreiben vom 5. November und 18. Dezember 2013), hinderte den Senat nicht, sich (aufgrund der insofern neuen Situation) noch einmal neu mit der Frage zu befassen, ob es für seine Entscheidung – etwa auch vor dem Hintergrund des ausführlichen aktuellen Berichts der Schweizerischen Flüchtlingshilfe – der Beantwortung der gestellten Fragen (bzw. aller davon) notwendig bedurfte, und diese Frage zu verneinen. Eine etwaige Bindung war durch die rein vorsorgliche Anfrage vom 18. Oktober 2013 nicht eingetreten; zudem hatte sich die Sachlage inzwischen wesentlich geändert. Denn das Auswärtige Amt hat in dem Schreiben vom 18. Dezember 2013 unmissverständlich mitgeteilt, dass (ergänzende) eigene Erkenntnisse oder Unterlagen nicht vorhanden seien.
195Der Anregung im Schriftsatz des Klägers vom 14. Januar 2014, bestimmte Angehörige der Organisationen „borderline europe“ und Schweizerische Flüchtlingshilfe als sachverständige Zeugen zu hören, musste der Senat nicht entsprechen. Denn es ist nicht dargetan oder sonst ersichtlich, dass „borderline europe“ die Erkenntnisse aus dem im Dezember 2012 erstellten Bericht bzw. Gutachten inzwischen auf der Grundlage neuerer konkreter Erkenntnisse sozusagen „fortgeschrieben“ hätte und/oder dass Angehörige der Schweizerischen Flüchtlingshilfe aus eigener Kenntnis heraus wesentliche zusätzliche Informationen über das hinaus geben könnten, was schon in dem sehr ausführlichen Bericht von Oktober 2013 unter (in der Regel) spezifizierter Offenlegung der Quellen schriftlich niedergelegt ist. Schließlich musste der Schweizerischen Flüchtlingshilfe nicht Gelegenheit gegeben werden, auf ihr in der Stellungnahme der Liaisonbeamtin des Bundesamtes vorgehaltene (vermeintliche) Mängel ihres Oktober-Berichts zu erwidern.
1962. Die Abschiebungsanordung in Ziffer 2. des angefochtenen Bescheides ist hiernach ebenfalls nicht zu beanstanden. Sie findet ihre Grundlage in § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG.
197Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylVfG. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
198Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen.
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 17.3.2015 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
T a t b e s t a n d :
2Der am 00.00.0000 in Singar, Kreis Mosul geborene Kläger ist irakischer Staatsangehhöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste am 12.01.2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 23.02.2015 einen Asylantrag. Bei seiner Erstbefragung am 23.02.2015 gab er an, er habe den Irak am 31.12.2014 verlassen. Er sei über Syrien, die Türkei und unbekannte Länder nach Deutschland gereist. Er sei in die Bundesrepublik Deutschland gekommen, weil hier die Menschenrechte gewahrt würden. Er sei körperlich behindert und erhoffe sich in Deutschland bessere Möglichkeiten.
3Die anschließend durchgeführte EURODAC-Anfrage ergab Treffer für Ungarn und Österreich. Daraufhin teilte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) dem Kläger mit Schreiben vom 27.02.2015 mit, dass ein Dublin-Verfahren mit dem Ziel der Rückführung nach Ungarn eingeleitet werde. Unter demselben Datum richtete das Bundesamt ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 18 Abs. 1 b der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Dublin III-VO) unter Hinweis auf den dort am 10.01.2015 gestellten Asylantrag des Klägers an Ungarn. Am 12.03.2015 stimmte Ungarn der Rückführung des Klägers zu.
4Mit Bescheid vom 17.03.2015 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers ab und ordnete seine Abschiebung nach Ungarn an. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27 a AsylVfG unzulässig, da Ungarn aufgrund des bereits dort gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 b Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.
5In den Verwaltungsvorgängen des Bundesamtes ist kein Zustellungsnachweis enthalten.
6Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 02.04.2015 die vorliegende Klage erhoben, zu deren Begründung sein Prozessbevollmächtigter vorgetragen hat: Der Kläger habe bei einem Bombenattentat im Irak ein Bein und ein Auge verloren. Seitdem leide er unter einem Traumata, das ihn nachts nicht schlafen lasse. In Ungarn sei er medizinisch nicht ausreichend behandelt worden. Außerdem habe man ihn mehrere Tage lang in ein Gefängnis gesperrt. Bei einer Rückführung nach Ungarn müsse der Kläger mit erneuter Inhaftierung rechnen. Das ungarische Asylverfahren leide an systemischen Mängeln. Die Durchführung eines fairen Verfahrens sei dort nicht gewährleistet.
7Der Kläger beantragt,
8den Bescheid der Beklagten vom 17.03.2015 aufzuheben.
9Die Beklagte beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid.
12Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
13Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
14E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
15Die Kammer entscheidet im Einverständnis der Beteiligten über die Klage ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
16Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig und auch begründet.
17Der Bescheid der Beklagten vom 17.03.2015 ist im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylVfG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat den Asylantrag des Klägers zu Unrecht nach § 27 a AsylVfG als unzulässig abgelehnt und auf der Grundlage des § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung des Klägers nach Ungarn angeordnet.
18Gemäß § 27 a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In einem solchen Fall prüft die Beklagte den Asylantrag nicht, sondern ordnet die Abschiebung in den zuständigen Staat an (§ 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG).
19Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin III-VO).
20Danach bestand zwar gemäß Art. 18 Abs. 1 b Dublin III-VO eine Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des (erneuten) Asylantrags des Klägers, weil dieser zuvor dort einen Asylantrag gestellt hatte und die ungarischen Behörden einer Wiederaufnahme des Klägers zugestimmt hatten. Gleichwohl ist nunmehr die Beklagte aufgrund der Auffangzuständigkeit des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO für die Entscheidung über das Asylbegehren des Klägers zuständig, weil einer Überstellung nach Ungarn systemische Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegenstehen und eine weitere Prüfung nach einem zuständigen Mitgliedstaat nach Ablauf der Fristen für die Stellung von Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen keinen Erfolg verspricht.
21Die Dublin III-VO beruht auf der Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens gilt daher grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Europäischen Grundrechtecharta (im Folgenden: GrCh) sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine unwiderlegbare Vermutung. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten nicht vereinbar ist. Zwar genügt nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat und nicht jeder geringste Verstoß gegen die Richtlinien, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Ist jedoch ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 GrCh implizieren, so ist die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. In solchen Situationen obliegt es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ im Sinne der Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden.
22Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 – Rs C-411/10 und C-493/10, N.S. und M.E. –, juris; EGMR, Urteil vom 21.01.2011 – 30696/09 – M.S.S. / Belgien und Griechenland – und Urteil vom 04.11.2014 – 29217/12 – Tarakhel / Italien –.
23Der Begriff des systemischen Mangels ist weit zu verstehen. Mit „Asylverfahren und Aufnahmebedingungen“ ist der Gesamtkomplex des Asylsystems im Zielstaat gemeint. Dieses umfasst den Zugang zum Asylverfahren, das Asylverfahren selbst, die Behandlung während des Asylverfahrens, die Handhabung der Anerkennungsvoraussetzungen, das Rechtsschutzsystem und auch die in der Genfer Flüchtlingskonvention und der Qualifikationsrichtlinie geregelte Behandlung nach der Anerkennung.
24Vgl. Lübbe. „Systemische Mängel“ in Dublin-Verfahren, ZAR 2014, 105 ff; Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182 ff.
25Systemische Mängel im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des EuGH sind dabei nicht auf flächendeckende gravierende Systemausfälle (wie etwa für Griechenland festgestellt) beschränkt, sondern erfassen generell solche, die im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und deshalb den Einzelnen vorhersehbar und regelhaft treffen. Auch tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem – aus welchen Gründen auch immer – faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weitgehend unwirksam wird, können einen systemischen Mangel darstellen. Nicht systemisch ist demgegenüber ein Mangel dann, wenn es lediglich in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK kommt.
26Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19.03.2014 – 10 B 6.14 – und vom 06.06.2014 – 10 B 35.14 –; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.11.2014 – A 11 S 1778/14 –, alle: juris.
27Nicht erforderlich ist, dass sich der systemische Mangel bzw. die strukturelle – systemische – Schwachstelle auf eine unüberschaubare Vielzahl, die Mehrheit aller Asylbewerber oder gar auf alle Asylbewerber auswirkt. Ein systemischer Mangel kann vielmehr auch dann vorliegen, wenn nur eine geringe Anzahl von Asylbewerbern betroffen ist, soweit dies vorhersehbar und regelhaft geschieht.
28Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 18.03.2015 – A 11 S 2042/14 – und vom 10.11.2014 – A 11 S 1778/14 –, juris; Lübbe, a. a. O..
29Im Falle des Vorliegens systemischer Mängel ist es ferner erforderlich, dass der einzelne Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, hiervon im Falle einer Überstellung in den Zielstaat selbst betroffen zu sein. Bei flächendeckenden systemischen Mängeln bedarf dies keiner besonderen Darlegung. Bei systemischen Mängeln, die sich nur auf Teilgruppen oder vereinzelt auswirken, müssen weitere besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen bzw. geltend gemacht werden, die eine Betroffenheit des Einzelnen beachtlich wahrscheinlich machen.
30Vgl. Lübbe, a. a. O.
31Bei der Beurteilung der Situation in einem Mitgliedstaat und der für einen Asylbewerber dort bestehenden tatsächlichen Risiken im Falle einer Überstellung sind Stellungnahmen des UNHCR ebenso heranzuziehen wie regelmäßige und übereinstimmende Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen sowie sonstige Berichte der europäischen Institutionen, insbesondere der Kommission.
32Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011, a. a. O., sowie vom 30.05.2013 – C-528/11 –, juris.
33Für die Rechtsfrage einer Verletzung des Art. 3 EMRK hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) eine Orientierungs- und Leitfunktion.
34Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und nach Auswertung der aktuellen Auskunfts- und Erkenntnislage zu Ungarn steht es zur Überzeugung der Kammer fest, dass dem Kläger bei einer Überstellung nach Ungarn bereits aufgrund der dort bestehenden Inhaftierungspraxis die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
35Asylsuchende unterliegen in Ungarn einem erheblichen Risiko, für einen längeren Zeitraum in Haft genommen zu werden. Dies gilt in besonderem Maße für den Personenkreis der nach der Dublin III-VO rücküberstellten Asylsuchenden, d. h. Personen, die bereits ein Asylverfahren in Ungarn durchgeführt hatten, das entweder noch nicht abgeschlossen oder mit negativem Ausgang beendet ist. Denn diese werden nach den Erkenntnissen des UNHCR
36vgl. Auskunft vom 30.09.2014 an das VG Bremen
37mit Ausnahme von Familien oder besonders vulnerablen Personen bei Rückkehr nach Ungarn stets in Haft genommen.
38Diese Inhaftierungspraxis begegnet bereits deshalb Bedenken, weil nach den UNHCR-Richtlinien zur Inhaftierung von Flüchtlingen und Asylsuchenden Asylsuchende grundsätzlich nicht in Haft genommen werden sollten und Haft immer nur das letzte Mittel darstellen darf. Da Asylsuchende meist bereits traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, kann sie nämlich eine Inhaftierung mit besonderer Härte treffen.
39Vgl. UNHCR vom 30.09.2014 an das VG Bremen unter Hinweis auf UNHCR, Detention Guidelines, 2012.
40Diesen Anforderungen wird die in dem seit dem 01.07.2013 geltenden ungarischen Asylgesetz geregelte Möglichkeit einer Inhaftierung von Asylbewerbern bis zu sechs Monaten schon deshalb nicht gerecht, weil die dort genannten Gründe für eine Asylhaft sehr weit und teilweise vage formuliert sind und auch die Anordnung der Haft durch die Verwaltungsbehörde nach der Auskunft des UNHCR nicht mit Gründen versehen wird. Die ungarischen Behörden scheinen dabei bei Dublin-Rückkehrern generell eine Fluchtgefahr anzunehmen,
41vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf.
42Ein solches Vorgehen, bei dem Dublin-Rückkehrer regelmäßig inhaftiert werden, wird den europarechtlichen Vorgaben nicht im Ansatz gerecht. Zwar sieht die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Aufenthaltsrichtlinie) in Art. 8 Abs. 2 die Möglichkeit der Inhaftierung von Asylbewerbern unter anderem bei Fluchtgefahr vor. Die Normen des europäischen Flüchtlingsrechts stehen aber einer generellen Inhaftierung von Gruppen von Asylbewerbern eindeutig entgegen, vgl. etwa § 8 Abs. 1, 2 und 4 der Aufenthaltsrichtlinie und Art. 28 Dublin III-VO. Das von diesen Normen statuierte Erfordernis einer Einzelfallprüfung und der strikten Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird in Ungarn nach allen der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnissen systematisch missachtet. Die flächendeckende Inhaftierung verstößt dabei nicht nur gegen das Verbot der unrechtmäßigen Inhaftierung des Art. 5 EMRK, sondern begründet angesichts der regelmäßig langen Dauer der Inhaftierung und der Umstände in der Haft die Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK in Verbindung mit Art. 4 GrCh.
43Denn es gibt gegen die Verhängung von Asylhaft keinen effektiven Rechtsschutz des Betroffenen. Alternativen zur Haft, wie etwa das Hinterlegen einer Kaution, werden kaum in Erwägung gezogen. In der Praxis führt dies dazu, dass die Gründe für eine Inhaftierung mangels individualisierter Begründung häufig nicht nachvollziehbar sind und willkürlich erscheinen.
44Vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf; Report des Kommissars für Menschenrechte des Europäischen Rates, Nils Muiznieks, vom 16.12.2014 über einen Besuch Ungarn im Juli 2014 (Muiznieks-Report), Rdnr. 155 f.
45Darüber hinaus ist die gerichtliche Überprüfung und Kontrolle von Haftgründen und Haftverlängerungen nach den vorliegenden Erkenntnissen völlig unzureichend. So verlängern die ungarischen Gerichte die Haftanordnungen aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung meist um die maximal mögliche Spanne von 60 Tagen. Dabei werden die Häftlinge dem Gericht in Gruppen vorgeführt, so dass für die Bearbeitung eines Einzelfalls meist weniger als drei Minuten zur Verfügung stehen.
46Vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf
47Dass bei dieser Verfahrensweise eine individuelle Prüfung von Haftgründen nicht möglich (und nach der herrschenden ungarischen Rechtsauffassung wohl auch gar nicht erforderlich) ist, liegt auf der Hand. Folge dieser Verfahrensweise ist es, dass die maximale Haftdauer in vielen Fällen voll ausgeschöpft wird.
48So PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
49Hinzu kommt, dass Asylsuchende nach den gesetzlichen Bestimmungen in Ungarn zwar Anspruch auf eine kostenlose Rechtsberatung haben, in der Praxis jedoch eine qualifizierte Beratung durch das staatliche Rechtshilfesystem aber nicht zur Verfügung steht. So ist in den Haftanstalten der Zugang zu einer Rechtsberatung praktisch nur über Vertragsanwälte des Hungarian Helsinki Committee (HHC) möglich, die die Einrichtungen einmal pro Woche besuchen, was zur Folge hat, dass nur eine Minderheit der inhaftierten Asylsuchenden Rechtsberatung erhält oder anwaltlich vertreten wird.
50Vgl. UNHCR vom 30.09.2014 und PRO ASYL vom 31.10.2014, beide an das VG Düsseldorf.
51Diese Bedingungen führen dazu, dass ein Asylhäftling weitgehend rechtsschutzlos gestellt ist und zu einem reinen Objekt des Verfahrens der Haftanordnung sowie deren Überprüfung und Verlängerung herabgewürdigt wird.
52Schließlich entsprechen auch die Haftbedingungen nach den vorliegenden Erkenntnisquellen nicht den Mindeststandards an eine menschenwürdige Unterbringung und Behandlung. So wird dort vielfach schlecht geschultes Wach- und Betreuungspersonal eingesetzt. Auch ist eine angemessene medizinische Betreuung nicht gewährleistet. Eine Betreuung durch Psychologen findet nicht statt. Zudem erfüllen einige Hafteinrichtungen nicht die hygienischen Mindeststandards. Hinzu kommen Berichte über Misshandlungen und Schikanen sowie Beschwerden über brutale Übergriffe.
53Vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf und vom 30.09.2014 an das VG Bremen; PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
54Die systematisch angewendete Praxis, Asylhäftlinge angeleint und in Handschellen bei auswärtigen Terminen (etwa bei Behörden- oder Arztbesuchen) vorzuführen, stellt bereits für sich genommen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar. Die erkennende Kammer schließt sich hierbei in vollem Umfang der Bewertung des UNHCR
55vgl. Auskünfte vom 09.05. und 30.09.2014 an das VG Düsseldorf
56an. An dieser Einschätzung vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass eine derartige Behandlung bei Straftätern in Ungarn allgemein üblich ist. Denn abgesehen davon, dass es bereits fraglich erscheint, ob ein „Ausführen“ von Strafgefangenen an einer Leine – zusätzlich zu einer Sicherung durch Handschellen – noch mit den Regelungen der EMRK vereinbar ist, sind Asylsuchende keine Straftäter, so dass sich eine Gleichbehandlung bereits aus diesem Grund verbietet. Hierauf weist auch der UNHCR in seinen Detention Guidelines (a.a.O.) ausdrücklich hin. Danach sollen Asylsuchende in der Asylhaft mit Würde und entsprechend internationaler Standards behandelt werden. Insbesondere soll die Asylhaft keinen bestrafenden Charakter haben.
57Insgesamt lassen die vorstehend dargestellte Inhaftierungspraxis sowie die dabei herrschenden Haftbedingungen nach Überzeugung der Kammer nur den Schluss zu, dass das Asylverfahren bzw. die Aufnahmebedingungen in Ungarn jedenfalls im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung regelhaft derart defizitär sind, dass dem Kläger dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
58So unter Berücksichtigung der neueren Entwicklung im Ergebnis auch: VG Münster, Beschluss vom 07.07.2015 – 2 L 858/15.A –, VG Bremen, Beschluss vom 01.04.2015 – 3 V 145/15 –, VG München, Beschluss vom 20.02.2015 – M 24 S 15.50091 – und VG Berlin, Beschluss vom 15.01.2015 – 23 L 899.14 A – jeweils m. w. N., alle juris; a. A. u.a. VG Düsseldorf, Urteil vom 20.03.2015 – 13 K 501/14.A – (nicht rechtskräftig), VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 16.06.2015 – 7a L 1208/15.A –, BayVGH, Beschluss vom 12.06.2015 – 13a ZB 15.50097 – alle juris.
59Dieser Einschätzung steht nicht der Umstand entgegen, dass der UNHCR trotz seiner Kritik an der Inhaftierungspraxis Ungarns kein Positionspapier herausgegeben hat, in dem die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgefordert werden, von Überstellungen Asylsuchender nach Ungarn gemäß der Dublin-Verordnung abzusehen. Denn der UNHCR hat in seiner Stellungnahme vom 30.09.2014 an das VG Bremen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er derartige Empfehlungen bislang lediglich in Ausnahmekonstellationen ausgesprochen habe und aus der Tatsache des Fehlens einer Äußerung in einem UNHCR-Papier, ob bestimmte Mängel einer Überstellung in den betreffenden Staat entgegenstünden, nicht geschlossen werden könne, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehenden Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Dies sei deshalb der Fall, weil sich die betreffenden Papiere zumeist in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die betreffende Regierung richteten. Nach Auffassung des UNHCR ist es die Aufgabe der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat ausschließen.
60So UNHCR vom 30.09.2014 an das VG Bremen.
61Ebenso wenig gebietet der Umstand, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Urteil vom 03.07.2014 (Mohammadi / Österreich, Nr. 71932/12) entschieden hat, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung ein Asylsuchender nicht mehr einer tatsächlichen und persönlichen Gefahr unterliege, bei einer Überstellung nach Ungarn im Rahmen der Dublin-Verordnung einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die Art. 3 EMRK verletzen würde. Denn diese Einschätzung beruhte im Wesentlichen auf der Erwartung, dass die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in Ungarn zu einer positiven Entwicklung des ungarischen Asylsystems führen würden. Diese Erwartungen haben sich indessen – wie die oben dargelegten aktuellen Erkenntnisse zur Inhaftierungspraxis in Ungarn sowie den dort herrschenden Haftbedingungen für Asylbewerber zeigen – nicht erfüllt.
62Unabhängig von der menschenrechtswidrigen Inhaftierungspraxis Ungarns bestehen systemische Mängel in dem oben beschriebenen Sinn zur Überzeugung der Kammer aber auch aufgrund der Entwicklungen der jüngsten Zeit.
63Denn in der ersten Jahreshälfte 2015 sind nach Angaben der Regierung bis zu 72.000 Flüchtlinge nach Ungarn eingereist. Bis zum 14.07.2015 sollen es bis zu 78.000 Flüchtlinge gewesen sein,
64vgl. Pressemitteilung des ungarischen Minstry of Foreign Affairs and Trade vom 14.07.2015 „Steady migratory pressure necessitates border fence”
65Andere Quellen sprechen von 61.000 Flüchtlingen.
66So die Pressemitteilung des UNHCR vom 02.07.2015, „UNHCR urges Hungary not to amend its asylum system in a rush, ignoring international standards“.
67Die Aufnahmekapazitäten liegen bei maximal 2.500 Plätzen für Flüchtlinge. Bei einem Verhältnis von bis zu 29 Flüchtlingen im Halbjahr für einen Aufnahmeplatz ist für die Kammer schon im Ansatz nicht mehr erkennbar, wie hier eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge gewährleistet sein soll,
68vgl. zu einer ähnlichen Überlegung zu Italien bei einem zahlenmäßig noch deutlich günstigeren Verhältnis von ca. 35.000 Aufnahmeplätzen und 7.900 Flüchtlingen in den ersten zwei Monaten 2015 VG Düsseldorf, Urteil vom 20.05.2015 – 8 K 1694/15.A – juris Rz. 40 ff.
69Dies gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass zahlreiche Flüchtlinge, soweit sie nicht inhaftiert werden, untertauchen und in weitere EU-Länder weiterreisen. Denn angesichts der enorm hohen Zahl, die sich binnen weniger Jahre vervielfacht hat, sind die Aufnahmekapazitäten völlig unzureichend. Es ist ausgeschlossen, dass Unterkunft und Verpflegung in einem Mindestansprüchen genügenden Sinne vorgehalten werden, um die häufig traumatisierten Flüchtlinge ausreichend zu versorgen. Viele Flüchtlinge werden dementsprechend auf der Straße leben, wo sie einer feindseligen Umgebung und einer zunehmenden Anzahl an rassistischen Übergriffen ausgesetzt sind.
70Es bedarf vor diesem Hintergrund keiner abschließenden Entscheidung, ob durch die jüngst verabschiedeten Gesetzesänderungen weitere systemische Mängel im ungarischen Asylsystem vorliegen,
71vgl. UNHCR, UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste.
72Insbesondere die Gesetzesänderung, nach der ein Asylverfahren eingestellt werden kann, wenn Flüchtlinge für die Dauer von 48 Stunden nicht in der Aufnahmeeinrichtung, der sie zugewiesen worden sind, angetroffen werden, dürfte schon im Ansatz nicht mehr mit rechtstaatlichen Grundsätzen vereinbar sein. Dies gilt umso mehr, als die oben geschilderten chaotischen Zustände in den ungarischen Flüchtlingseinrichtungen eine solche Feststellung der Abwesenheit praktisch immer möglich machen werden.
73Ebenso wenig bedarf es einer Entscheidung, ob die Rücküberführung nach Ungarn derzeit faktisch überhaupt möglich ist. Nachdem die ungarische Regierung am 22.06.2015 angekündigt hatte, keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen, hat sie dies zwar schon am Folgetag revidiert. Weiterhin existieren jedoch Berichte, nach denen maximal zwölf Flüchtlinge täglich durch die ungarischen Behörden im Rahmen von Dublin-Rücküberstellungen aufgenommen werden. Bei mehreren Tausend Flüchtlingen, die allein Deutschland nach Ungarn zurücküberstellen möchte, ist sehr zweifelhaft, ob es im streitgegenständlichen Einzelfall überhaupt zu einer Rücküberstellung kommen wird.
74Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG.
Tenor
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 31.7.2015 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
T a t b e s t a n d
2Der am 00.0.0000 in Vate im Kosovo geborene Kläger ist kosovarischer Staatsangehöriger albanischer Volks- und muslimischer Religionszugehörigkeit. Er reiste im Februar 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der ihn am 15.2.2015 aufgreifenden Bundespolizei teilte er mit, Asyl beantragen zu wollen und einen Asylantrag in Ungarn, falls er einen gestellt habe, hiermit zurückziehen zu wollen. Er wolle in Deutschland arbeiten und mit dem verdienten Geld seine Familie im Kosovo unterstützen. Ihm hätten im Kosovo die Mandeln entnommen werden müssen, wozu ihm das Geld gefehlt habe. Gegenüber der Ausländerbehörde der Stadt Köln verneinte er am 17.2.2015, in Deutschland einen Asylantrag stellen zu wollen. Er gab weiter an, am 15.2.2015 aus seinem Heimatland ausgereist und über Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland gereist zu sein, weil er zu Hause aus wirtschaftlichen Gründen keine Lebensperspektive habe.
3Die EURODAC-Anfrage ergab einen Treffer für Ungarn. Daraufhin richtete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 27.2.2015 ein Wiederaufnahmegesuch unter Hinweis auf den dort am 8.2.2015 gestellten Asylantrag des Klägers an Ungarn. Am 12.3.2015 stimmte Ungarn der Rückführung des Klägers nach Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Dublin III-VO) zu.
4Mit Bescheid vom 31.7.2015 ordnete das Bundesamt die Abschiebung des Klägers nach Ungarn an. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, da Ungarn aufgrund des bereits dort gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.
5Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 12.8.2015 die vorliegende Klage erhoben, zu deren Begründung er vorträgt, das ungarische Asylverfahren leide an systemischen Mängeln.
6Der Kläger beantragt,
7den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 31.7.2015 aufzuheben.
8Die Beklagte beantragt,
9die Klage abzuweisen.
10Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid.
11Auf den gegen die Abschiebungsanordnung gerichteten Eilantrag des Klägers vom12.8.2015 hin hat der Einzelrichter im Verfahren 18 L 2015/15. A mit Beschluss vom 17.8.2015 die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage angeordnet.
12E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
13Der Einzelrichter entscheidet im Einverständnis der Beteiligten über die Klage ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO). Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig,
14vgl. OVG NRW, Urteil vom 7.3.2014 - 1 A 21/12.A -, juris,
15und auch begründet. Der angefochtene Bescheid ist im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG entscheidungserheblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat zu Unrecht auf der Grundlage des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung des Klägers nach Ungarn angeordnet. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a) an, wenn er dorthin abgeschoben werden soll, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.
16Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staats ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin III-VO).
17Danach bestand gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO eine Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des Asylantrags des Klägers, weil dieser zuvor dort einen Asylantrag gestellt hatte und die ungarischen Behörden einer Wiederaufnahme des Klägers zugestimmt hatten.
18Insoweit ist es unerheblich, dass der Kläger in Deutschland keinen Asylantrag gestellt hat. In einem solchen Fall ist Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO einschlägig. Danach kann ein Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich eine Person im Sinne des Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO ohne Aufenthaltstitel aufhält und bei dem kein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, die Person wieder aufzunehmen, wenn er der Auffassung ist, dass der andere Mitgliedstaat gemäß Art. 20 Abs. 5 und Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO zuständig ist.
19Die Voraussetzungen des Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO sind erfüllt. Denn der Kläger ist ein Antragsteller, der während der Prüfung seines Antrags im zuständigen Mitgliedstaat (hier: in Ungarn) sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (hier: in Deutschland) ohne Aufenthaltstitel aufhält.
20Gemäß Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO müssen die Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO (nach Auffassung des ersuchenden Mitgliedstaats, hier: Deutschlands) zusätzlich erfüllt sein, weil diese nach dem deutschen, englischen, französischen und niederländischen Wortlaut des Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO („und“/„and“/„et“/„en“) kumulativ und nicht lediglich alternativ aufgeführt sind. Dass diese Formulierung in Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO nicht lediglich sprachlich verunglückt ist, folgt aus dem Gegenschluss der nachfolgenden, die Buchstaben b, c, d des Art. 18 Dublin III-VO betreffenden Formulierung des Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO. Nach dem Wortlaut sämtlicher oben genannter Sprachen („oder“/„or“/„ou“/„of“) werden die Buchstaben b, c, d des Art. 18 Dublin III-VO in Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO nämlich eindeutig alternativ aufgeführt. Nach Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO ist der Mitgliedstaat, bei dem der erste Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde (hier: Ungarn), gehalten, einen Antragsteller, der sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (hier: in Deutschland) aufhält, nachdem er seinen ersten Antrag noch während des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zurückgezogen hat, nach den Bestimmungen der Art. 23, 24 und 29 Dublin III-VO wieder aufzunehmen, um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zum Abschluss zu bringen.
21Hier braucht indes nicht entschieden zu werden, ob die Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO erfüllt sind. Wenn die Erklärung des Klägers gegenüber der Bundespolizei in Rosenheim, den Asylantrag zurücknehmen zu wollen, auch gegenüber den ungarischen Behörden gelten sollte, sind die Voraussetzungen auch des Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO erfüllt. Das selbe könnte dann gelten, wenn das Verfahren in Ungarn deshalb als zurückgezogen gelten sollte, weil der Kläger Ungarn noch vor einer dortigen Asylentscheidung verlassen hat.
22Hat der Kläger dagegen den in Ungarn gestellten Asylantrag nicht zurückgezogen, gelten Art. 20 Abs. 5 und 24 Abs. 1 Dublin III-VO über ihren Wortlaut hinaus erst recht. Art. 20 Abs. 5 und 24 Abs. 1 Dublin III-VO gelten gerade dann, wenn eine Person in einem Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat und sodann in einen anderen Mitgliedstaat ausgereist ist, ohne dass er in dem anderen Mitgliedstaat einen weiteren Asylantrag gestellt und ohne dass er den im ersten Mitgliedstaat gestellten Asylantrag zurückgenommen hat. Denn die Art. 20 Abs. 5, 21, 23 und 24 Dublin III-VO sollen als umfassendes Gesamtsystem sicherstellen, dass der zuständige Mitgliedstaat einen in einen anderen Mitgliedstaat ausgereisten Antragsteller von diesem anderen Mitgliedstaat aufnimmt oder wieder aufnimmt, um das Verfahren des Antragstellers fortzusetzen bzw. zum Abschluss zu bringen.
23Dass das System der Dublin III-VO für jede Fallgestaltung gilt und deshalb grundsätzlich auch in einem Fall wie dem vorliegenden ein Mitgliedstaat die Übernahme eines Asylantragstellers durch einen anderen Mitgliedstaat verlangen kann, wird letztlich aus Art. 3 Abs. 2 Satz 3 Dublin III-VO deutlich. Danach wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat, wenn keine Überstellung an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden kann, etwa weil in allen oder auch nur einem dieser Mitgliedstaaten systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO bestehen. Folgt aus dieser Ausnahmeregelung des Art. 3 Abs. 2 Satz 3 Dublin III-VO, dass nach der Dublin III-VO auf jeden Fall ein Mitgliedstaat für die materielle Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, auch wenn der Antrag ausschließlich in einem anderen Mitgliedstaat gestellt worden ist, wird daran zum einen deutlich, dass innerhalb der Europäischen Union kein Asylantrag unbeschieden bleiben darf, und zum anderen, dass dieser Ausnahmeregelung eine Regel zugrundeliegt, wonach – vorbehaltlich der in Kapitel III Dublin III-VO genannten Kriterien – ein Mitgliedstaat, in dem eine Person zuerst einen Asylantrag gestellt hat, regelmäßig vor einem anderen Mitgliedstaat für die materielle Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist und demzufolge – vorbehaltlich der in Kapitel III Dublin III-VO genannten Kriterien – ein anderer Mitgliedstaat grundsätzlich von dem ersten Mitgliedstaat in jeder Fallgestaltung die Übernahme des Asylantragstellers verlangen kann.
24Nunmehr ist allerdings die Beklagte für die Entscheidung über das (ausschließlich in Ungarn gestellte) Asylbegehren des Klägers zuständig, weil die Auffangzuständigkeit des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO einschlägig ist. Denn einer Überstellung des Klägers nach Ungarn stehen systemische Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegen, und eine weitere Prüfung, ob ein dritter Mitgliedstaat zuständig ist, verspricht nach Ablauf der Fristen für die Stellung von Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen keinen Erfolg.
25Die Dublin III-VO beruht auf der Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der GFK und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens gilt daher grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Europäischen Grundrechtecharta (GrCh) sowie mit der GFK und der EMRK steht. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine unwiderlegbare Vermutung. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten nicht vereinbar ist. Zwar genügt nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat und nicht jeder geringste Verstoß gegen die Richtlinien, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Ist jedoch ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 GrCh implizieren, so ist die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. In solchen Situationen obliegt es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat" im Sinne der Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden.
26Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 - Rs C-411/10 und C-493/10 -, juris; EGMR, Urteil vom 21.1.2011 - 30696/09 - M.S.S. / Belgien und Griechenland - und Urteil vom 4.11.2014 - 29217/12 - Tarakhel / Italien -.
27Der Begriff des systemischen Mangels ist weit zu verstehen. Mit „Asylverfahren und Aufnahmebedingungen" ist der Gesamtkomplex des Asylsystems im Zielstaat gemeint. Dieses umfasst den Zugang zum Asylverfahren, das Asylverfahren selbst, die Behandlung während des Asylverfahrens, die Handhabung der Anerkennungsvoraussetzungen, das Rechtsschutzsystem und auch die in der GFK und der Qualifikationsrichtlinie geregelte Behandlung nach der Anerkennung.
28Vgl. Lübbe. „Systemische Mängel" in Dublin-Verfahren, ZAR 2014, 105 ff.; Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182 ff.
29Systemische Mängel im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des EuGH sind dabei nicht auf flächendeckende gravierende Systemausfälle (wie etwa für Griechenland festgestellt) beschränkt, sondern erfassen generell solche, die im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und deshalb den Einzelnen vorhersehbar und regelhaft treffen. Auch tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem - aus welchen Gründen auch immer - faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weit gehend unwirksam wird, können einen systemischen Mangel darstellen. Nicht systemisch ist demgegenüber ein Mangel dann, wenn es lediglich in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK kommt.
30Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19.3.2014 - 10 B 6.14 - und vom 6.6.2014 - 10 B 35.14 -, juris.
31Nicht erforderlich ist, dass sich der systemische Mangel bzw. die strukturelle - systemische - Schwachstelle auf eine unüberschaubare Vielzahl, die Mehrheit aller Asylbewerber oder gar auf alle Asylbewerber auswirkt. Ein systemischer Mangel kann vielmehr auch dann vorliegen, wenn nur eine geringe Anzahl von Asylbewerbern betroffen ist, soweit dies vorhersehbar und regelhaft geschieht.
32Vgl. VGH BW, Urteile vom 18.3.2015 - A 11 S 2042/14 - und vom 10.11.2014 - A 11 S 1778/14 -; Lübbe, a. a. O.
33Im Falle des Vorliegens systemischer Mängel ist es ferner erforderlich, dass der einzelne Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, hiervon im Falle einer Überstellung in den Zielstaat selbst betroffen zu sein. Bei flächendeckenden systemischen Mängeln bedarf dies keiner besonderen Darlegung. Bei systemischen Mängeln, die sich nur auf Teilgruppen oder vereinzelt auswirken, müssen weitere besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen bzw. geltend gemacht werden, die eine Betroffenheit des Einzelnen beachtlich wahrscheinlich machen.
34Vgl. Lübbe, a. a. O.
35Bei der Beurteilung der Situation in einem Mitgliedstaat und der für einen Asylbewerber dort bestehenden tatsächlichen Risiken im Falle einer Überstellung sind Stellungnahmen des UNHCR ebenso heranzuziehen wie regelmäßige und übereinstimmende Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen sowie sonstige Berichte der europäischen Institutionen, insbesondere der Kommission.
36Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011, a. a. O., sowie vom 30.5.2013 - C-528/11 -, juris.
37Für die Rechtsfrage einer Verletzung des Art. 3 EMRK hat die Rechtsprechung des EGMR eine Orientierungs- und Leitfunktion.
38Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und nach Auswertung der aktuellen Auskunfts- und Erkenntnislage zu Ungarn steht es zur Überzeugung der Kammer fest, dass dem Kläger bei einer Überstellung nach Ungarn bereits aufgrund der dort bestehenden Inhaftierungspraxis die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Diesbezüglich schließt sich die Kammer der Rechtsprechung der
393. Kammer des VG Köln, Urteil vom 15.7.2015 - 3 K 2005/15.A -, NRWE,
40an sowie deren Begründung, die nachfolgend wiedergegeben wird.
41Asylsuchende unterliegen in Ungarn einem erheblichen Risiko, für einen längeren Zeitraum in Haft genommen zu werden. Dies gilt in besonderem Maße für den Personenkreis der nach der Dublin III-VO rücküberstellten Asylsuchenden, d. h. Personen, die bereits ein Asylverfahren in Ungarn durchgeführt hatten, das entweder noch nicht abgeschlossen oder mit negativem Ausgang beendet ist. Denn diese werden nach den Erkenntnissen des UNHCR
42vgl. Auskunft vom 30.9.2014 an das VG Bremen,
43mit Ausnahme von Familien oder besonders vulnerablen Personen bei Rückkehr nach Ungarn stets in Haft genommen. Diese Inhaftierungspraxis begegnet bereits deshalb Bedenken, weil nach den UNHCR-Richtlinien zur Inhaftierung von Flüchtlingen und Asylsuchenden Asylsuchende grundsätzlich nicht in Haft genommen werden sollten und Haft immer nur das letzte Mittel darstellen darf. Da Asylsuchende meist bereits traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, kann sie nämlich eine Inhaftierung mit besonderer Härte treffen.
44Vgl. UNHCR vom 30.9.2014 an das VG Bremen unter Hinweis auf UNHCR, Detention Guidelines, 2012.
45Diesen Anforderungen wird die in dem seit dem 1.7.2013 geltenden ungarischen Asylgesetz geregelte Möglichkeit einer Inhaftierung von Asylbewerbern bis zu sechs Monaten schon deshalb nicht gerecht, weil die dort genannten Gründe für eine Asylhaft sehr weit und teilweise vage formuliert sind und auch die Anordnung der Haft durch die Verwaltungsbehörde nach der Auskunft des UNHCR nicht mit Gründen versehen wird. Die ungarischen Behörden scheinen dabei bei Dublin-Rückkehrern generell eine Fluchtgefahr anzunehmen.
46UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf.
47Ein solches Vorgehen, bei dem Dublin-Rückkehrer regelmäßig inhaftiert werden, wird den europarechtlichen Vorgaben nicht im Ansatz gerecht. Zwar sieht die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 (Aufenthaltsrichtlinie) in Art. 8 Abs. 2 die Möglichkeit der Inhaftierung von Asylbewerbern unter anderem bei Fluchtgefahr vor. Die Normen des europäischen Flüchtlingsrechts stehen aber einer generellen Inhaftierung von Gruppen von Asylbewerbern eindeutig entgegen, vgl. etwa § 8 Abs. 1, 2 und 4 der Aufenthaltsrichtlinie und Art. 28 Dublin III-VO. Das von diesen Normen statuierte Erfordernis einer Einzelfallprüfung und der strikten Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird in Ungarn nach allen der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnissen systematisch missachtet. Die flächendeckende Inhaftierung verstößt dabei nicht nur gegen das Verbot der unrechtmäßigen Inhaftierung des Art. 5 EMRK, sondern begründet angesichts der regelmäßig langen Dauer der Inhaftierung und der Umstände in der Haft die Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK in Verbindung mit Art. 4 GrCh. Denn es gibt gegen die Verhängung von Asylhaft keinen effektiven Rechtsschutz des Betroffenen. Alternativen zur Haft, wie etwa das Hinterlegen einer Kaution, werden kaum in Erwägung gezogen. In der Praxis führt dies dazu, dass die Gründe für eine Inhaftierung mangels individualisierter Begründung häufig nicht nachvollziehbar sind und willkürlich erscheinen.
48UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf; Report des Kommissars für Menschenrechte des Europäischen Rates, Nils Muiznieks, vom 16.12.2014 über einen Besuch Ungarn im Juli 2014 (Muiznieks-Report), Rdnr. 155 f.
49Darüber hinaus ist die gerichtliche Überprüfung und Kontrolle von Haftgründen und Haftverlängerungen nach den vorliegenden Erkenntnissen völlig unzureichend. So verlängern die ungarischen Gerichte die Haftanordnungen aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung meist um die maximal mögliche Spanne von 60 Tagen. Dabei werden die Häftlinge dem Gericht in Gruppen vorgeführt, so dass für die Bearbeitung eines Einzelfalls meist weniger als drei Minuten zur Verfügung stehen.
50UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf.
51Dass bei dieser Verfahrensweise eine individuelle Prüfung von Haftgründen nicht möglich (und nach der herrschenden ungarischen Rechtsauffassung wohl auch gar nicht erforderlich) ist, liegt auf der Hand. Folge dieser Verfahrensweise ist es, dass die maximale Haftdauer in vielen Fällen voll ausgeschöpft wird.
52So PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
53Hinzu kommt, dass Asylsuchende nach den gesetzlichen Bestimmungen in Ungarn zwar Anspruch auf eine kostenlose Rechtsberatung haben, in der Praxis jedoch eine qualifizierte Beratung durch das staatliche Rechtshilfesystem aber nicht zur Verfügung steht. So ist in den Haftanstalten der Zugang zu einer Rechtsberatung praktisch nur über Vertragsanwälte des Hungarian Helsinki Committee (HHC) möglich, die die Einrichtungen einmal pro Woche besuchen, was zur Folge hat, dass nur eine Minderheit der inhaftierten Asylsuchenden Rechtsberatung erhält oder anwaltlich vertreten wird.
54UNHCR vom 30.9.2014 und PRO ASYL vom 31.10.2014, beide an das VG Düsseldorf.
55Diese Bedingungen führen dazu, dass ein Asylhäftling weit gehend rechtsschutzlos gestellt ist und zu einem reinen Objekt des Verfahrens der Haftanordnung sowie deren Überprüfung und Verlängerung herabgewürdigt wird.
56Schließlich entsprechen auch die Haftbedingungen nach den vorliegenden Erkenntnisquellen nicht den Mindeststandards an eine menschenwürdige Unterbringung und Behandlung. So wird dort vielfach schlecht geschultes Wach- und Betreuungspersonal eingesetzt. Auch ist eine angemessene medizinische Betreuung nicht gewährleistet. Eine Betreuung durch Psychologen findet nicht statt. Zudem erfüllen einige Hafteinrichtungen nicht die hygienischen Mindeststandards. Hinzu kommen Berichte über Misshandlungen und Schikanen sowie Beschwerden über brutale Übergriffe.
57UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf und vom 30.9.2014 an das VG Bremen; PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
58Die systematisch angewendete Praxis, Asylhäftlinge angeleint und in Handschellen bei auswärtigen Terminen (etwa bei Behörden- oder Arztbesuchen) vorzuführen, stellt bereits für sich genommen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar. Die erkennende Kammer schließt sich hierbei in vollem Umfang der Bewertung des UNHCR
59vgl. Auskünfte vom 9.5. und 30.9.2014 an das VG Düsseldorf,
60an. An dieser Einschätzung vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass eine derartige Behandlung bei Straftätern in Ungarn allgemein üblich ist. Denn abgesehen davon, dass es bereits fraglich erscheint, ob ein „Ausführen" von Strafgefangenen an einer Leine - zusätzlich zu einer Sicherung durch Handschellen - noch mit den Regelungen der EMRK vereinbar ist, sind Asylsuchende keine Straftäter, so dass sich eine Gleichbehandlung bereits aus diesem Grund verbietet. Hierauf weist auch der UNHCR in seinen
61Detention Guidelines a. a. O.,
62ausdrücklich hin. Danach sollen Asylsuchende in der Asylhaft mit Würde und entsprechend internationaler Standards behandelt werden. Insbesondere soll die Asylhaft keinen bestrafenden Charakter haben.
63Insgesamt lassen die vorstehend dargestellte Inhaftierungspraxis sowie die dabei herrschenden Haftbedingungen nach Überzeugung der Kammer nur den Schluss zu, dass das Asylverfahren bzw. die Aufnahmebedingungen in Ungarn jedenfalls im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung regelhaft derart defizitär sind, dass dem Kläger dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
64So unter Berücksichtigung der neueren Entwicklung im Ergebnis auch: VG Münster, Beschluss vom 7.7.2015 - 2 L 858/15.A -; VG Bremen, Beschluss vom 1.4.2015 - 3 V 145/15 -; VG München, Beschluss vom 20.2.2015 - M 24 S 15.50091 - und VG Berlin, Beschluss vom 15.1.2015 - 23 L 899.14 A - jeweils m. w. N. (alle juris); a. A. u.a. VG Düsseldorf, Urteil vom 20.3.2015 - 13 K 501/14.A; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 16.6.2015 - 7a L 1208/15.A -; BayVGH, Beschluss vom 12.6.2015 - 13a ZB 15.50097 - (alle juris).
65Dieser Einschätzung steht nicht der Umstand entgegen, dass der UNHCR trotz seiner Kritik an der Inhaftierungspraxis Ungarns kein Positionspapier herausgegeben hat, in dem die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgefordert werden, von Überstellungen Asylsuchender nach Ungarn gemäß der Dublin-Verordnung abzusehen. Denn der UNHCR hat in seiner
66Stellungnahme vom 30.9.2014 an das VG Bremen
67ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er derartige Empfehlungen bislang lediglich in Ausnahmekonstellationen ausgesprochen habe und aus der Tatsache des Fehlens einer Äußerung in einem UNHCR-Papier, ob bestimmte Mängel einer Überstellung in den betreffenden Staat entgegenstünden, nicht geschlossen werden könne, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehenden Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Dies sei deshalb der Fall, weil sich die betreffenden Papiere zumeist in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die betreffende Regierung richteten. Nach Auffassung des UNHCR ist es die Aufgabe der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat ausschließen.
68UNHCR vom 30.9.2014 an das VG Bremen.
69Ebenso wenig gebietet der Umstand, dass der EGMR mit
70Urteil vom 3.7.2014 (Mohammadi / Österreich, Nr. 71932/12)
71entschieden hat, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung ein Asylsuchender nicht mehr einer tatsächlichen und persönlichen Gefahr unterliege, bei einer Überstellung nach Ungarn im Rahmen der Dublin-Verordnung einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die Art. 3 EMRK verletzen würde. Denn diese Einschätzung beruhte im Wesentlichen auf der Erwartung, dass die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in Ungarn zu einer positiven Entwicklung des ungarischen Asylsystems führen würden. Diese Erwartungen haben sich indessen - wie die oben dargelegten aktuellen Erkenntnisse zur Inhaftierungspraxis in Ungarn sowie den dort herrschenden Haftbedingungen für Asylbewerber zeigen - nicht erfüllt.
72Unabhängig von der menschenrechtswidrigen Inhaftierungspraxis Ungarns bestehen systemische Mängel in dem oben beschriebenen Sinn zur Überzeugung der Kammer aber auch aufgrund der Entwicklungen der jüngsten Zeit. Denn in der ersten Jahreshälfte 2015 sind nach Angaben der Regierung bis zu 72000 Flüchtlinge nach Ungarn eingereist. Bis zum 14.7.2015 sollen es bis zu 78000 Flüchtlinge gewesen sein.
73Vgl. Pressemitteilung des ungarischen Ministry of Foreign Affairs and Trade vom 14.07.2015 „Steady migratory pressure necessitates border fence".
74Andere Quellen sprechen von 61000 Flüchtlingen.
75So die Pressemitteilung des UNHCR vom 2.7.2015, „UNHCR urges Hungary not to amend its asylum system in a rush, ignoring international standards".
76Die Aufnahmekapazitäten liegen bei maximal 2500 Plätzen für Flüchtlinge. Bei einem Verhältnis von bis zu 29 Flüchtlingen im Halbjahr für einen Aufnahmeplatz ist für die Kammer schon im Ansatz nicht mehr erkennbar, wie hier eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge gewährleistet sein soll.
77Vgl. zu einer ähnlichen Überlegung zu Italien bei einem zahlenmäßig noch deutlich günstigeren Verhältnis von ca. 35000 Aufnahmeplätzen und 7900 Flüchtlingen in den ersten zwei Monaten 2015 VG Düsseldorf, Urteil vom 20.5.2015 - 8 K 1694/15.A -, juris Rz. 40 ff.
78Dies gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass zahlreiche Flüchtlinge, soweit sie nicht inhaftiert werden, untertauchen und in weitere EU-Länder weiterreisen. Denn angesichts der enorm hohen Zahl, die sich binnen weniger Jahre vervielfacht hat, sind die Aufnahmekapazitäten völlig unzureichend. Es ist ausgeschlossen, dass Unterkunft und Verpflegung in einem Mindestansprüchen genügenden Sinne vorgehalten werden, um die häufig traumatisierten Flüchtlinge ausreichend zu versorgen. Viele Flüchtlinge werden dementsprechend auf der Straße leben, wo sie einer feindseligen Umgebung und einer zunehmenden Anzahl an rassistischen Übergriffen ausgesetzt sind.
79Dass das ungarische Asylsystem an systemischen Mängeln leidet, wird bestätigt durch die hinter den Missständen stehende Absicht der ungarischen Behörden. Deren Einstellung wird nicht nur durch das Fehlen zielgerichteter Maßnahmen zur Beseitigung des derzeit in Ungarn, vor allem an Budapester Bahnhöfen und an anderen ungarischen Orten herrschenden Flüchtlingschaos erkennbar, sondern zusätzlich durch die jüngsten Äußerungen des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán gegenüber Organen der Europäischen Union, wonach bestimmte Flüchtlingsgruppen kein Problem Ungarns darstellten und das Land von vornherein Flüchtlinge gewisser Herkunftsländer wegen deren nichtchristlicher Religionszugehörigkeit nicht aufzunehmen gewillt sei.
80Tagesschau.de vom 4.9.2015: „Zug steht still – Orbán als `Schande´ kritisiert“; DIE WELT, Internetauftritt vom 3.9.2015: „Ungarn voller Angst, Europäer voller Angst“; ZEIT ONLINE vom 3.9.2015: „Orbán nennt Flüchtlingskrise `ein deutsches Problem´“.
81Unabhängig von diesen Gründen bestehen nach Auffassung der Kammer auch aus einem weiteren Grund in Ungarn systemische Mängel des Asylverfahrens, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Kläger tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden. Diese betreffen sämtliche Asylbewerber, die auf dem Landweg über die so genannte Balkan-Route nach Ungarn gelangen. Das erfolgt ausschließlich über Serbien. Über 99 % aller Asylsuchenden gelangen über die serbisch-ungarische Grenze nach Ungarn.
82FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“; PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“.
83Das war nach seinen Angaben auch beim Kläger der Fall. Seit Jahresbeginn wurden knapp 100000 Migranten registriert, von denen praktisch alle in wohlhabendere Länder der EU weiterreisen wollen.
84FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“.
85Zum 1.8.2015 ist ein ungarisches Gesetz in Kraft getreten, das u.a. Serbien zum sicheren Drittstaat erklärt. Diese Änderung des Asylgesetzes ermöglicht voraussichtlich ab dem 15.9.2015,
86Pester Lloyd, Internetauftritt vom 2.9.2015: „Internierung, Kriminalisierung, Willkür: Was bedeutet Ungarns neues Grenzregime?“,
87die Ablehnung von Asylanträgen als unzulässig mit der Folge, dass in Ungarn die Anträge solcher Asylsuchender im Normalfall nicht mehr materiell geprüft werden und eine sofortige Abschiebung nach Serbien droht.
88DIE WELT, Internetauftritt vom 3.9.2015: „500 Flüchtlinge verweigern Fahrt in ungarisches Aufnahmelager“; Pester Lloyd, Internetauftritt vom 2.9.2015: „Internierung, Kriminalisierung, Willkür: Was bedeutet Ungarns neues Grenzregime?“; PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“; PRO ASYL, Internetauftritte vom 21.7.2015: „Mit Zelten in die Pampa: Ungarns Umgang mit Flüchtlingen“ und vom 7.7.2015: „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“; SPIEGEL ONLINE vom 6.7.2015: „Überlastetes Asylsystem: Ungarn verschärft Gesetz zur Aufnahme von Flüchtlingen“; Pester Lloyd, Internetauftritte vom 6.7.2015: „Gesetzesflut im ungarischen Parlament: Quasi-Aufhebung des Rechtes auf Asyl ...“ und vom 1.7.2015: „Regierungstreffen Serbien-Ungarn und neue Tiefpunkte der Flüchtlingspolitik“; Amnesty International: Europe´s Borderlands – Violations against Refugees and Migrants in Macedonia, Serbia and Hungary, Juli 2015, S. 61; ZEIT ONLINE vom 17.6.2015: „Ungarn will Flüchtlinge mit Grenzzaun aufhalten“; n-tv, Internetauftritt vom 17.6.2015: „Zaun gegen Migranten – Ungarn macht Grenze zu Serbien dicht“; Süddeutsche Zeitung, Internetauftritt vom 17.6.2015: „Ungarn will Flüchtlinge mit Vier-Meter-Zaun abhalten“.
89Von 2010 bis 2012 hatte Ungarn bereits Flüchtlinge völkerrechtswidrig nach Serbien abgeschoben, was zu scharfer Kritik der EU-Kommission geführt hatte.
90PRO ASYL, Internetauftritt vom 7.7.2015: „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“.
91Die Republik Serbien hat jedoch angekündigt, sie sei nicht gewillt, zigtausenden Flüchtlingen, die nicht weiterkämen, wochen- oder monatelang Unterkunft zu gewähren, weil das die Ressourcen des Landes nicht hergäben. Man werde auch keine Flüchtlingslager bauen.
92Pester Lloyd, Internetauftritt vom 21.8.2015.
93Serbien hat auch kein funktionierendes Asylsystem.
94Vgl. die Einzelheiten in: Amnesty International a. a. O., S. 35 - 45.
95Menschenrechtsorganisationen haben das Fehlen eines funktionierenden Schutzsystems in Serbien immer wieder kritisiert.
96PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“.
97Im April 2008 trat Serbiens Asylgesetz in Kraft.
98PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Amnesty International a. a. O., S. 36.
99Seither ist die Zahl der registrierten Asylsuchenden – also ohne diejenigen Personen, die Serbien lediglich „durchqueren“, ohne registriert zu werden – exponentiell gestiegen. Betrug sie im Jahr 2008 nur 77, im Jahr 2009 erst 275 und im Jahr 2010 noch 522, stieg sie im Jahr 2011 auf 3132 an, sank im Jahr 2012 etwas auf 2723, um im Jahr 2013 auf 5066 und im Jahr 2014 auf 16490 Personen anzuschwellen.
100Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Serbien (Stand: November 2014) vom 15.12.2014 (Lagebericht Serbien), S. 13; Amnesty International a. a. O., S. 36.
101Die Anerkennungsrate von Asylsuchenden als Flüchtlinge in Serbien ist äußerst gering.
102AA, Lagebericht Serbien, S. 13.
103Bis Ende 2014 wurden lediglich sechs Personen als Flüchtlinge anerkannt, zwölf erhielten einen subsidiären Schutzstatus. Bis Ende Mai 2015 wurde weiteren vier Flüchtlingen Asyl gewährt.
104PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Amnesty International a. a. O., S. 36.
105Die serbische Anerkennungsquote ist auch unter Herausrechnen der Personen, die letztlich keinen Asylantrag stellen oder ein laufendes Verfahren nicht abwarten und weiterreisen, gering. Denn im Jahr 2011 erhielt keiner der 3134 registrierten Antragsteller Asyl, im Jahr 2012 erhielten von 2723 Antragstellern lediglich drei Personen subsidiären internationalen Schutz, und im Jahr 2013 wurden bei insgesamt 5066 Antragstellern von 193 in den Blick genommenen Anträgen vier bestätigt, 13 verworfen oder abgewiesen und 176 nicht fortgeführt. Obwohl geschätzt wird, dass von den 16490 Personen, die im Jahr 2014 angaben, Asyl beantragen zu wollen, nur die Hälfte auch tatsächlich einen Antrag auf Asyl in Serbien gestellt hat, wurden nur 1350 Asylsuchende tatsächlich registriert, und von 388 eingereichten Anträgen wurden 307 nicht fortgesetzt, weil der jeweilige Antragsteller während des Verfahrens untertauchte. Die Asylbehörde befragte im Jahr 2014 17 von 18 Antragstellern, gab sechs Anträgen statt, wobei einer Person der Flüchtlingsstatus und fünf Personen subsidiärer Schutz gewährt wurde, wohingegen zwölf Anträge abgelehnt wurden und vier Anträge aus dem Jahr 2014 im Jahr 2015 noch in Bearbeitung waren. Obwohl die Flüchtlinge viele Gründe dafür hatten, weiterzureisen, anstatt in Serbien um Asyl nachzusuchen oder ein Asylverfahren abzuwarten, scheinen Unzulänglichkeiten im serbischen Asylsystem eine Rolle für solche Entscheidungen zu spielen.
106Amnesty International a. a. O., S. 36 f.
107Aus dem Kreis der registrierten potentiellen Asylbewerber hat deshalb nur ein kleiner Teil tatsächlich einen Asylantrag gestellt, weil der Prozess dafür in Serbien sehr komplex ist.
108AA, Lagebericht Serbien, S. 13.
109Asylbewerbern Rechtshilfe leistende Nichtregierungsorganisationen meinen, dass die serbische Politik der sicheren Herkunftsländer in großem Umfang fortgeführt wird. So wurden beispielsweise von 17 von der Asylbehörde im Jahr 2014 entschiedenen Fällen sieben in der Zeit von Januar bis April berücksichtigte Anträge zurückgewiesen, weil der jeweilige Asylbewerber aus einem sicheren Drittstaat nach Serbien gekommen war. Diesen Asylbewerbern wurde weder Asyl noch irgend eine andere Form von Schutz gewährt. Die Mehrheit der Berufungen wird üblicherweise ohne Rücksicht auf ihre Gründe abgewiesen. Das schließt Berufungen gegen erstinstanzliche Entscheidungen ein, die auf dem Konzept der sicheren Drittstaaten beruhen. Eine Begründung für die Zurückweisung der Berufung wird selten gegeben.
110Amnesty International a. a. O., S. 41 f.
111Zahlreichen Schutzsuchenden droht in Serbien die Zurückschiebung nach Mazedonien oder Griechenland.
112PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Pester Lloyd, Internetauftritt vom 1.7.2015: „Regierungstreffen Serbien-Ungarn und neue Tiefpunkte der Flüchtlingspolitik“.
113Im Jahr 2012 hatte der UNHCR die Republik Serbien beschuldigt, Massenabschiebungen von Flüchtlingen und Migranten nach Mazedonien durchzuführen. Der UNHCR hatte ferner vorgetragen, dass in einigen Fällen Flüchtlinge und Migranten, die von Ungarn nach Serbien abgeschoben worden waren, informell anstatt nach den Regeln des zwischen Serbien und Mazedonien abgeschlossenen Wiederaufnahmeabkommens nach Mazedonien verbracht worden waren. Im Mai 2015 äußerte das Committee against Torture (CAT) Befürchtungen hinsichtlich des erhöhten Risikos eines refoulement für Personen, die durch die serbischen Behörden nach Mazedonien verbracht worden sind.
114Amnesty International a. a. O., S. 33 f.
115Die ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien hat ebenfalls kein effektives Asylsystem, vielmehr besteht dort die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen und eines refoulement durch Abschiebungen nach Griechenland.
116Amnesty International a. a. O., S. 40 f.
117Der ohnehin schwache Rechtsstaat wird derzeit durch die autoritäre Politik der größten Regierungspartei erheblich in Frage gestellt.
118AA: Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien (Stand: August 2015) vom 12.8.2015, S. 4.
119Griechenland weist seinerseits systemische Mängel im Sinne der Rechtsprechung des EuGH auf.
120Abgesehen davon verstößt die Gefahr von Kettenabschiebungen gegen das Prinzip des non-refoulement und damit gegen Art. 18 GrCh in Verbindung mit Art. 33 Abs. 1 GFK, zumal gerade hier die Gefahr besteht, dass der Kläger von Serbien aus in seinen Herkunftsstaat, den Kosovo, abgeschoben wird, ohne dass zuvor sein Schutzgesuch geprüft worden ist. Insoweit ist es dem Gericht rechtlich auch verwehrt, die Erfolgsaussichten des Asylantrags des Klägers auf der Grundlage seiner bisherigen Angaben materiellrechtlich zu prüfen, weil es aus den eingangs dargelegten Gründen auch nicht „durchentscheiden“ darf.
121Es bedarf vor diesem Hintergrund keiner abschließenden Entscheidung, ob durch die jüngst verabschiedeten Gesetzesänderungen weitere systemische Mängel im ungarischen Asylsystem vorliegen.
122Vgl. UNHCR, UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste.
123Insbesondere die Gesetzesänderung, nach der ein Asylverfahren eingestellt werden kann, wenn Flüchtlinge für die Dauer von 48 Stunden nicht in der Aufnahmeeinrichtung, der sie zugewiesen worden sind, angetroffen werden, dürfte schon im Ansatz nicht mehr mit rechtstaatlichen Grundsätzen vereinbar sein. Dies gilt umso mehr, als die oben geschilderten chaotischen Zustände in den ungarischen Flüchtlingseinrichtungen eine solche Feststellung der Abwesenheit praktisch immer möglich machen werden.
124Unterbleiben kann ferner die rechtliche Einordnung der beabsichtigten Schaffung der Möglichkeit, die ungarische Armee an der Grenze einzusetzen.
125Pester Lloyd, Internetauftritt vom 1.9.2015: „Ungarn bereitet Militäreinsatz gegen Flüchtlinge vor: Opposition will Orbán vor Internationalen Strafgerichtshof bringen“.
126Ebenso wenig bedarf es einer Entscheidung, ob die Rücküberführung nach Ungarn derzeit faktisch überhaupt möglich ist. Nachdem die ungarische Regierung am 22.6.2015 angekündigt hatte, keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen, hat sie dies zwar schon am Folgetag revidiert. Weiterhin existieren jedoch Berichte, nach denen maximal zwölf Flüchtlinge täglich durch die ungarischen Behörden im Rahmen von Dublin-Rücküberstellungen aufgenommen werden. Bei mehreren Tausend Flüchtlingen, die allein Deutschland nach Ungarn zurücküberstellen möchte, ist sehr zweifelhaft, ob es im streitgegenständlichen Einzelfall überhaupt zu einer Rücküberstellung kommen wird.
127Dieser letztgenannte Umstand ist jedoch ein weiterer Grund dafür, dass die – hier allein streitbefangene – Anordnung, den Kläger nach Ungarn abzuschieben, rechtswidrig ist. Insoweit liegen die Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 AsylVfG nicht (mehr) vor. Nach dieser Norm ordnet das Bundesamt ohne vorherige Anordnung und Fristsetzung die Abschiebung eines Ausländers in den für das Asylverfahren zuständigen Staat an, „sobald feststeht“, dass sie durchgeführt werden kann. Der Gesetzgeber wollte mit § 34a Abs. 1 AsylVfG die Möglichkeit schaffen, für eine in der Regel nur kurzfristig durchgeführte durchführbare Rückführung ein verkürztes Verfahren zu schaffen. Die Abschiebungsanordnung ist deshalb nicht quasi auf Vorrat zulässig, sondern erst dann, wenn das Übernahmeverfahren positiv abgeschlossen ist, weil der andere Staat seine Übernahmebereitschaft auf die vorhergesehene Art und Weise verbindlich erklärt hat und die näheren Umstände der Überstellung wenigstens dem Grundsatz nach geklärt sind, etwa wenn zwischen dem jeweiligen Staat und der Bundesrepublik Deutschland ein funktionierendes, routiniertes und eingespieltes Übernahmeverfahren praktiziert wird, das die zuverlässige Prognose zulässt, die Übernahme werde in naher Zukunft abgeschlossen werden können. Das Bundesamt hat vor Erlass der Abschiebungsanordnung der Frage nachzugehen, ob der ersuchte Mitgliedstaat tatsächlich zur (Wieder-) Aufnahme bereit ist. Zudem ist – solange die Abschiebung eines Ausländers aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist – auch ein Vollzugshindernis im Sinne des § 60a AufenthG gegeben und hindert den Erlass einer Abschiebungsanordnung. Die tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung ist dann anzunehmen, wenn für einen vorausschaubaren Zeitraum die Abschiebung ausgeschlossen ist und erst recht, wenn die Abschiebungsmöglichkeit zeitlich völlig ungewiss ist. Unter Berücksichtigung der Auskünfte des Bundesamts gegenüber dem VG Oldenburg kann derzeit eine hinreichend zuverlässige Prognose, die Übernahme des Klägers durch Ungarn werde in naher Zukunft abgeschlossen sein, nicht erstellt werden. Ob und in welchem Umfang der ungarische Staat Asylsuchende im Rahmen des Überstellungsverfahrens aufnehmen wird, muss als offen angesehen werden. Auch die Zahlen, die das Bundesamt zu den im ersten Quartal 2015 aus Deutschland durchgeführten Überstellungen vorgelegt hat, wecken Bedenken daran, dass zwischen Ungarn und Deutschland ein funktionierendes, routiniertes und eingespieltes Übernahmeverfahren besteht. Zwar hat Ungarn in 2300 Fällen den Übernahmeersuchen der Bundesrepublik Deutschland formal entsprochen, tatsächliche Überstellungen erfolgten jedoch nur in einem Umfang von ca. 1,4 %. Die offensichtlichen Probleme beim Vollzug der in der Dublin III-Verordnung normierten Regelungen zur Aufnahme bzw. Wiederaufnahme von Asylsuchenden und der Überstellung sind keine bloße zeitliche Verzögerung aufgrund administrativer Vorkehrungen für eine an sich bereits dem Grunde nach ins Auge gefasste Abschiebung.
128Vgl. zu diesen Aspekten, Zahlen und weiteren Nachweisen: VG Oldenburg, Urteil vom 19.6.2015 - 13 A 1294/15 -.
129Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG.
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 17.3.2015 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
T a t b e s t a n d :
2Der am 00.00.0000 in Singar, Kreis Mosul geborene Kläger ist irakischer Staatsangehhöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste am 12.01.2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 23.02.2015 einen Asylantrag. Bei seiner Erstbefragung am 23.02.2015 gab er an, er habe den Irak am 31.12.2014 verlassen. Er sei über Syrien, die Türkei und unbekannte Länder nach Deutschland gereist. Er sei in die Bundesrepublik Deutschland gekommen, weil hier die Menschenrechte gewahrt würden. Er sei körperlich behindert und erhoffe sich in Deutschland bessere Möglichkeiten.
3Die anschließend durchgeführte EURODAC-Anfrage ergab Treffer für Ungarn und Österreich. Daraufhin teilte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) dem Kläger mit Schreiben vom 27.02.2015 mit, dass ein Dublin-Verfahren mit dem Ziel der Rückführung nach Ungarn eingeleitet werde. Unter demselben Datum richtete das Bundesamt ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 18 Abs. 1 b der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Dublin III-VO) unter Hinweis auf den dort am 10.01.2015 gestellten Asylantrag des Klägers an Ungarn. Am 12.03.2015 stimmte Ungarn der Rückführung des Klägers zu.
4Mit Bescheid vom 17.03.2015 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers ab und ordnete seine Abschiebung nach Ungarn an. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27 a AsylVfG unzulässig, da Ungarn aufgrund des bereits dort gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 b Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.
5In den Verwaltungsvorgängen des Bundesamtes ist kein Zustellungsnachweis enthalten.
6Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 02.04.2015 die vorliegende Klage erhoben, zu deren Begründung sein Prozessbevollmächtigter vorgetragen hat: Der Kläger habe bei einem Bombenattentat im Irak ein Bein und ein Auge verloren. Seitdem leide er unter einem Traumata, das ihn nachts nicht schlafen lasse. In Ungarn sei er medizinisch nicht ausreichend behandelt worden. Außerdem habe man ihn mehrere Tage lang in ein Gefängnis gesperrt. Bei einer Rückführung nach Ungarn müsse der Kläger mit erneuter Inhaftierung rechnen. Das ungarische Asylverfahren leide an systemischen Mängeln. Die Durchführung eines fairen Verfahrens sei dort nicht gewährleistet.
7Der Kläger beantragt,
8den Bescheid der Beklagten vom 17.03.2015 aufzuheben.
9Die Beklagte beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid.
12Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
13Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
14E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
15Die Kammer entscheidet im Einverständnis der Beteiligten über die Klage ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
16Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig und auch begründet.
17Der Bescheid der Beklagten vom 17.03.2015 ist im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylVfG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat den Asylantrag des Klägers zu Unrecht nach § 27 a AsylVfG als unzulässig abgelehnt und auf der Grundlage des § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung des Klägers nach Ungarn angeordnet.
18Gemäß § 27 a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In einem solchen Fall prüft die Beklagte den Asylantrag nicht, sondern ordnet die Abschiebung in den zuständigen Staat an (§ 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG).
19Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin III-VO).
20Danach bestand zwar gemäß Art. 18 Abs. 1 b Dublin III-VO eine Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des (erneuten) Asylantrags des Klägers, weil dieser zuvor dort einen Asylantrag gestellt hatte und die ungarischen Behörden einer Wiederaufnahme des Klägers zugestimmt hatten. Gleichwohl ist nunmehr die Beklagte aufgrund der Auffangzuständigkeit des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO für die Entscheidung über das Asylbegehren des Klägers zuständig, weil einer Überstellung nach Ungarn systemische Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegenstehen und eine weitere Prüfung nach einem zuständigen Mitgliedstaat nach Ablauf der Fristen für die Stellung von Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen keinen Erfolg verspricht.
21Die Dublin III-VO beruht auf der Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens gilt daher grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Europäischen Grundrechtecharta (im Folgenden: GrCh) sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine unwiderlegbare Vermutung. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten nicht vereinbar ist. Zwar genügt nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat und nicht jeder geringste Verstoß gegen die Richtlinien, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Ist jedoch ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 GrCh implizieren, so ist die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. In solchen Situationen obliegt es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ im Sinne der Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden.
22Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 – Rs C-411/10 und C-493/10, N.S. und M.E. –, juris; EGMR, Urteil vom 21.01.2011 – 30696/09 – M.S.S. / Belgien und Griechenland – und Urteil vom 04.11.2014 – 29217/12 – Tarakhel / Italien –.
23Der Begriff des systemischen Mangels ist weit zu verstehen. Mit „Asylverfahren und Aufnahmebedingungen“ ist der Gesamtkomplex des Asylsystems im Zielstaat gemeint. Dieses umfasst den Zugang zum Asylverfahren, das Asylverfahren selbst, die Behandlung während des Asylverfahrens, die Handhabung der Anerkennungsvoraussetzungen, das Rechtsschutzsystem und auch die in der Genfer Flüchtlingskonvention und der Qualifikationsrichtlinie geregelte Behandlung nach der Anerkennung.
24Vgl. Lübbe. „Systemische Mängel“ in Dublin-Verfahren, ZAR 2014, 105 ff; Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182 ff.
25Systemische Mängel im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des EuGH sind dabei nicht auf flächendeckende gravierende Systemausfälle (wie etwa für Griechenland festgestellt) beschränkt, sondern erfassen generell solche, die im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und deshalb den Einzelnen vorhersehbar und regelhaft treffen. Auch tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem – aus welchen Gründen auch immer – faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weitgehend unwirksam wird, können einen systemischen Mangel darstellen. Nicht systemisch ist demgegenüber ein Mangel dann, wenn es lediglich in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK kommt.
26Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19.03.2014 – 10 B 6.14 – und vom 06.06.2014 – 10 B 35.14 –; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.11.2014 – A 11 S 1778/14 –, alle: juris.
27Nicht erforderlich ist, dass sich der systemische Mangel bzw. die strukturelle – systemische – Schwachstelle auf eine unüberschaubare Vielzahl, die Mehrheit aller Asylbewerber oder gar auf alle Asylbewerber auswirkt. Ein systemischer Mangel kann vielmehr auch dann vorliegen, wenn nur eine geringe Anzahl von Asylbewerbern betroffen ist, soweit dies vorhersehbar und regelhaft geschieht.
28Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 18.03.2015 – A 11 S 2042/14 – und vom 10.11.2014 – A 11 S 1778/14 –, juris; Lübbe, a. a. O..
29Im Falle des Vorliegens systemischer Mängel ist es ferner erforderlich, dass der einzelne Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, hiervon im Falle einer Überstellung in den Zielstaat selbst betroffen zu sein. Bei flächendeckenden systemischen Mängeln bedarf dies keiner besonderen Darlegung. Bei systemischen Mängeln, die sich nur auf Teilgruppen oder vereinzelt auswirken, müssen weitere besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen bzw. geltend gemacht werden, die eine Betroffenheit des Einzelnen beachtlich wahrscheinlich machen.
30Vgl. Lübbe, a. a. O.
31Bei der Beurteilung der Situation in einem Mitgliedstaat und der für einen Asylbewerber dort bestehenden tatsächlichen Risiken im Falle einer Überstellung sind Stellungnahmen des UNHCR ebenso heranzuziehen wie regelmäßige und übereinstimmende Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen sowie sonstige Berichte der europäischen Institutionen, insbesondere der Kommission.
32Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011, a. a. O., sowie vom 30.05.2013 – C-528/11 –, juris.
33Für die Rechtsfrage einer Verletzung des Art. 3 EMRK hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) eine Orientierungs- und Leitfunktion.
34Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und nach Auswertung der aktuellen Auskunfts- und Erkenntnislage zu Ungarn steht es zur Überzeugung der Kammer fest, dass dem Kläger bei einer Überstellung nach Ungarn bereits aufgrund der dort bestehenden Inhaftierungspraxis die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
35Asylsuchende unterliegen in Ungarn einem erheblichen Risiko, für einen längeren Zeitraum in Haft genommen zu werden. Dies gilt in besonderem Maße für den Personenkreis der nach der Dublin III-VO rücküberstellten Asylsuchenden, d. h. Personen, die bereits ein Asylverfahren in Ungarn durchgeführt hatten, das entweder noch nicht abgeschlossen oder mit negativem Ausgang beendet ist. Denn diese werden nach den Erkenntnissen des UNHCR
36vgl. Auskunft vom 30.09.2014 an das VG Bremen
37mit Ausnahme von Familien oder besonders vulnerablen Personen bei Rückkehr nach Ungarn stets in Haft genommen.
38Diese Inhaftierungspraxis begegnet bereits deshalb Bedenken, weil nach den UNHCR-Richtlinien zur Inhaftierung von Flüchtlingen und Asylsuchenden Asylsuchende grundsätzlich nicht in Haft genommen werden sollten und Haft immer nur das letzte Mittel darstellen darf. Da Asylsuchende meist bereits traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, kann sie nämlich eine Inhaftierung mit besonderer Härte treffen.
39Vgl. UNHCR vom 30.09.2014 an das VG Bremen unter Hinweis auf UNHCR, Detention Guidelines, 2012.
40Diesen Anforderungen wird die in dem seit dem 01.07.2013 geltenden ungarischen Asylgesetz geregelte Möglichkeit einer Inhaftierung von Asylbewerbern bis zu sechs Monaten schon deshalb nicht gerecht, weil die dort genannten Gründe für eine Asylhaft sehr weit und teilweise vage formuliert sind und auch die Anordnung der Haft durch die Verwaltungsbehörde nach der Auskunft des UNHCR nicht mit Gründen versehen wird. Die ungarischen Behörden scheinen dabei bei Dublin-Rückkehrern generell eine Fluchtgefahr anzunehmen,
41vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf.
42Ein solches Vorgehen, bei dem Dublin-Rückkehrer regelmäßig inhaftiert werden, wird den europarechtlichen Vorgaben nicht im Ansatz gerecht. Zwar sieht die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Aufenthaltsrichtlinie) in Art. 8 Abs. 2 die Möglichkeit der Inhaftierung von Asylbewerbern unter anderem bei Fluchtgefahr vor. Die Normen des europäischen Flüchtlingsrechts stehen aber einer generellen Inhaftierung von Gruppen von Asylbewerbern eindeutig entgegen, vgl. etwa § 8 Abs. 1, 2 und 4 der Aufenthaltsrichtlinie und Art. 28 Dublin III-VO. Das von diesen Normen statuierte Erfordernis einer Einzelfallprüfung und der strikten Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird in Ungarn nach allen der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnissen systematisch missachtet. Die flächendeckende Inhaftierung verstößt dabei nicht nur gegen das Verbot der unrechtmäßigen Inhaftierung des Art. 5 EMRK, sondern begründet angesichts der regelmäßig langen Dauer der Inhaftierung und der Umstände in der Haft die Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK in Verbindung mit Art. 4 GrCh.
43Denn es gibt gegen die Verhängung von Asylhaft keinen effektiven Rechtsschutz des Betroffenen. Alternativen zur Haft, wie etwa das Hinterlegen einer Kaution, werden kaum in Erwägung gezogen. In der Praxis führt dies dazu, dass die Gründe für eine Inhaftierung mangels individualisierter Begründung häufig nicht nachvollziehbar sind und willkürlich erscheinen.
44Vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf; Report des Kommissars für Menschenrechte des Europäischen Rates, Nils Muiznieks, vom 16.12.2014 über einen Besuch Ungarn im Juli 2014 (Muiznieks-Report), Rdnr. 155 f.
45Darüber hinaus ist die gerichtliche Überprüfung und Kontrolle von Haftgründen und Haftverlängerungen nach den vorliegenden Erkenntnissen völlig unzureichend. So verlängern die ungarischen Gerichte die Haftanordnungen aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung meist um die maximal mögliche Spanne von 60 Tagen. Dabei werden die Häftlinge dem Gericht in Gruppen vorgeführt, so dass für die Bearbeitung eines Einzelfalls meist weniger als drei Minuten zur Verfügung stehen.
46Vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf
47Dass bei dieser Verfahrensweise eine individuelle Prüfung von Haftgründen nicht möglich (und nach der herrschenden ungarischen Rechtsauffassung wohl auch gar nicht erforderlich) ist, liegt auf der Hand. Folge dieser Verfahrensweise ist es, dass die maximale Haftdauer in vielen Fällen voll ausgeschöpft wird.
48So PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
49Hinzu kommt, dass Asylsuchende nach den gesetzlichen Bestimmungen in Ungarn zwar Anspruch auf eine kostenlose Rechtsberatung haben, in der Praxis jedoch eine qualifizierte Beratung durch das staatliche Rechtshilfesystem aber nicht zur Verfügung steht. So ist in den Haftanstalten der Zugang zu einer Rechtsberatung praktisch nur über Vertragsanwälte des Hungarian Helsinki Committee (HHC) möglich, die die Einrichtungen einmal pro Woche besuchen, was zur Folge hat, dass nur eine Minderheit der inhaftierten Asylsuchenden Rechtsberatung erhält oder anwaltlich vertreten wird.
50Vgl. UNHCR vom 30.09.2014 und PRO ASYL vom 31.10.2014, beide an das VG Düsseldorf.
51Diese Bedingungen führen dazu, dass ein Asylhäftling weitgehend rechtsschutzlos gestellt ist und zu einem reinen Objekt des Verfahrens der Haftanordnung sowie deren Überprüfung und Verlängerung herabgewürdigt wird.
52Schließlich entsprechen auch die Haftbedingungen nach den vorliegenden Erkenntnisquellen nicht den Mindeststandards an eine menschenwürdige Unterbringung und Behandlung. So wird dort vielfach schlecht geschultes Wach- und Betreuungspersonal eingesetzt. Auch ist eine angemessene medizinische Betreuung nicht gewährleistet. Eine Betreuung durch Psychologen findet nicht statt. Zudem erfüllen einige Hafteinrichtungen nicht die hygienischen Mindeststandards. Hinzu kommen Berichte über Misshandlungen und Schikanen sowie Beschwerden über brutale Übergriffe.
53Vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf und vom 30.09.2014 an das VG Bremen; PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
54Die systematisch angewendete Praxis, Asylhäftlinge angeleint und in Handschellen bei auswärtigen Terminen (etwa bei Behörden- oder Arztbesuchen) vorzuführen, stellt bereits für sich genommen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar. Die erkennende Kammer schließt sich hierbei in vollem Umfang der Bewertung des UNHCR
55vgl. Auskünfte vom 09.05. und 30.09.2014 an das VG Düsseldorf
56an. An dieser Einschätzung vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass eine derartige Behandlung bei Straftätern in Ungarn allgemein üblich ist. Denn abgesehen davon, dass es bereits fraglich erscheint, ob ein „Ausführen“ von Strafgefangenen an einer Leine – zusätzlich zu einer Sicherung durch Handschellen – noch mit den Regelungen der EMRK vereinbar ist, sind Asylsuchende keine Straftäter, so dass sich eine Gleichbehandlung bereits aus diesem Grund verbietet. Hierauf weist auch der UNHCR in seinen Detention Guidelines (a.a.O.) ausdrücklich hin. Danach sollen Asylsuchende in der Asylhaft mit Würde und entsprechend internationaler Standards behandelt werden. Insbesondere soll die Asylhaft keinen bestrafenden Charakter haben.
57Insgesamt lassen die vorstehend dargestellte Inhaftierungspraxis sowie die dabei herrschenden Haftbedingungen nach Überzeugung der Kammer nur den Schluss zu, dass das Asylverfahren bzw. die Aufnahmebedingungen in Ungarn jedenfalls im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung regelhaft derart defizitär sind, dass dem Kläger dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
58So unter Berücksichtigung der neueren Entwicklung im Ergebnis auch: VG Münster, Beschluss vom 07.07.2015 – 2 L 858/15.A –, VG Bremen, Beschluss vom 01.04.2015 – 3 V 145/15 –, VG München, Beschluss vom 20.02.2015 – M 24 S 15.50091 – und VG Berlin, Beschluss vom 15.01.2015 – 23 L 899.14 A – jeweils m. w. N., alle juris; a. A. u.a. VG Düsseldorf, Urteil vom 20.03.2015 – 13 K 501/14.A – (nicht rechtskräftig), VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 16.06.2015 – 7a L 1208/15.A –, BayVGH, Beschluss vom 12.06.2015 – 13a ZB 15.50097 – alle juris.
59Dieser Einschätzung steht nicht der Umstand entgegen, dass der UNHCR trotz seiner Kritik an der Inhaftierungspraxis Ungarns kein Positionspapier herausgegeben hat, in dem die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgefordert werden, von Überstellungen Asylsuchender nach Ungarn gemäß der Dublin-Verordnung abzusehen. Denn der UNHCR hat in seiner Stellungnahme vom 30.09.2014 an das VG Bremen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er derartige Empfehlungen bislang lediglich in Ausnahmekonstellationen ausgesprochen habe und aus der Tatsache des Fehlens einer Äußerung in einem UNHCR-Papier, ob bestimmte Mängel einer Überstellung in den betreffenden Staat entgegenstünden, nicht geschlossen werden könne, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehenden Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Dies sei deshalb der Fall, weil sich die betreffenden Papiere zumeist in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die betreffende Regierung richteten. Nach Auffassung des UNHCR ist es die Aufgabe der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat ausschließen.
60So UNHCR vom 30.09.2014 an das VG Bremen.
61Ebenso wenig gebietet der Umstand, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Urteil vom 03.07.2014 (Mohammadi / Österreich, Nr. 71932/12) entschieden hat, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung ein Asylsuchender nicht mehr einer tatsächlichen und persönlichen Gefahr unterliege, bei einer Überstellung nach Ungarn im Rahmen der Dublin-Verordnung einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die Art. 3 EMRK verletzen würde. Denn diese Einschätzung beruhte im Wesentlichen auf der Erwartung, dass die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in Ungarn zu einer positiven Entwicklung des ungarischen Asylsystems führen würden. Diese Erwartungen haben sich indessen – wie die oben dargelegten aktuellen Erkenntnisse zur Inhaftierungspraxis in Ungarn sowie den dort herrschenden Haftbedingungen für Asylbewerber zeigen – nicht erfüllt.
62Unabhängig von der menschenrechtswidrigen Inhaftierungspraxis Ungarns bestehen systemische Mängel in dem oben beschriebenen Sinn zur Überzeugung der Kammer aber auch aufgrund der Entwicklungen der jüngsten Zeit.
63Denn in der ersten Jahreshälfte 2015 sind nach Angaben der Regierung bis zu 72.000 Flüchtlinge nach Ungarn eingereist. Bis zum 14.07.2015 sollen es bis zu 78.000 Flüchtlinge gewesen sein,
64vgl. Pressemitteilung des ungarischen Minstry of Foreign Affairs and Trade vom 14.07.2015 „Steady migratory pressure necessitates border fence”
65Andere Quellen sprechen von 61.000 Flüchtlingen.
66So die Pressemitteilung des UNHCR vom 02.07.2015, „UNHCR urges Hungary not to amend its asylum system in a rush, ignoring international standards“.
67Die Aufnahmekapazitäten liegen bei maximal 2.500 Plätzen für Flüchtlinge. Bei einem Verhältnis von bis zu 29 Flüchtlingen im Halbjahr für einen Aufnahmeplatz ist für die Kammer schon im Ansatz nicht mehr erkennbar, wie hier eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge gewährleistet sein soll,
68vgl. zu einer ähnlichen Überlegung zu Italien bei einem zahlenmäßig noch deutlich günstigeren Verhältnis von ca. 35.000 Aufnahmeplätzen und 7.900 Flüchtlingen in den ersten zwei Monaten 2015 VG Düsseldorf, Urteil vom 20.05.2015 – 8 K 1694/15.A – juris Rz. 40 ff.
69Dies gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass zahlreiche Flüchtlinge, soweit sie nicht inhaftiert werden, untertauchen und in weitere EU-Länder weiterreisen. Denn angesichts der enorm hohen Zahl, die sich binnen weniger Jahre vervielfacht hat, sind die Aufnahmekapazitäten völlig unzureichend. Es ist ausgeschlossen, dass Unterkunft und Verpflegung in einem Mindestansprüchen genügenden Sinne vorgehalten werden, um die häufig traumatisierten Flüchtlinge ausreichend zu versorgen. Viele Flüchtlinge werden dementsprechend auf der Straße leben, wo sie einer feindseligen Umgebung und einer zunehmenden Anzahl an rassistischen Übergriffen ausgesetzt sind.
70Es bedarf vor diesem Hintergrund keiner abschließenden Entscheidung, ob durch die jüngst verabschiedeten Gesetzesänderungen weitere systemische Mängel im ungarischen Asylsystem vorliegen,
71vgl. UNHCR, UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste.
72Insbesondere die Gesetzesänderung, nach der ein Asylverfahren eingestellt werden kann, wenn Flüchtlinge für die Dauer von 48 Stunden nicht in der Aufnahmeeinrichtung, der sie zugewiesen worden sind, angetroffen werden, dürfte schon im Ansatz nicht mehr mit rechtstaatlichen Grundsätzen vereinbar sein. Dies gilt umso mehr, als die oben geschilderten chaotischen Zustände in den ungarischen Flüchtlingseinrichtungen eine solche Feststellung der Abwesenheit praktisch immer möglich machen werden.
73Ebenso wenig bedarf es einer Entscheidung, ob die Rücküberführung nach Ungarn derzeit faktisch überhaupt möglich ist. Nachdem die ungarische Regierung am 22.06.2015 angekündigt hatte, keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen, hat sie dies zwar schon am Folgetag revidiert. Weiterhin existieren jedoch Berichte, nach denen maximal zwölf Flüchtlinge täglich durch die ungarischen Behörden im Rahmen von Dublin-Rücküberstellungen aufgenommen werden. Bei mehreren Tausend Flüchtlingen, die allein Deutschland nach Ungarn zurücküberstellen möchte, ist sehr zweifelhaft, ob es im streitgegenständlichen Einzelfall überhaupt zu einer Rücküberstellung kommen wird.
74Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG.
Tenor
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 31.7.2015 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
T a t b e s t a n d
2Der am 00.0.0000 in Vate im Kosovo geborene Kläger ist kosovarischer Staatsangehöriger albanischer Volks- und muslimischer Religionszugehörigkeit. Er reiste im Februar 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der ihn am 15.2.2015 aufgreifenden Bundespolizei teilte er mit, Asyl beantragen zu wollen und einen Asylantrag in Ungarn, falls er einen gestellt habe, hiermit zurückziehen zu wollen. Er wolle in Deutschland arbeiten und mit dem verdienten Geld seine Familie im Kosovo unterstützen. Ihm hätten im Kosovo die Mandeln entnommen werden müssen, wozu ihm das Geld gefehlt habe. Gegenüber der Ausländerbehörde der Stadt Köln verneinte er am 17.2.2015, in Deutschland einen Asylantrag stellen zu wollen. Er gab weiter an, am 15.2.2015 aus seinem Heimatland ausgereist und über Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland gereist zu sein, weil er zu Hause aus wirtschaftlichen Gründen keine Lebensperspektive habe.
3Die EURODAC-Anfrage ergab einen Treffer für Ungarn. Daraufhin richtete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 27.2.2015 ein Wiederaufnahmegesuch unter Hinweis auf den dort am 8.2.2015 gestellten Asylantrag des Klägers an Ungarn. Am 12.3.2015 stimmte Ungarn der Rückführung des Klägers nach Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Dublin III-VO) zu.
4Mit Bescheid vom 31.7.2015 ordnete das Bundesamt die Abschiebung des Klägers nach Ungarn an. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, da Ungarn aufgrund des bereits dort gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.
5Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 12.8.2015 die vorliegende Klage erhoben, zu deren Begründung er vorträgt, das ungarische Asylverfahren leide an systemischen Mängeln.
6Der Kläger beantragt,
7den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 31.7.2015 aufzuheben.
8Die Beklagte beantragt,
9die Klage abzuweisen.
10Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid.
11Auf den gegen die Abschiebungsanordnung gerichteten Eilantrag des Klägers vom12.8.2015 hin hat der Einzelrichter im Verfahren 18 L 2015/15. A mit Beschluss vom 17.8.2015 die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage angeordnet.
12E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
13Der Einzelrichter entscheidet im Einverständnis der Beteiligten über die Klage ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO). Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig,
14vgl. OVG NRW, Urteil vom 7.3.2014 - 1 A 21/12.A -, juris,
15und auch begründet. Der angefochtene Bescheid ist im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG entscheidungserheblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat zu Unrecht auf der Grundlage des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung des Klägers nach Ungarn angeordnet. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a) an, wenn er dorthin abgeschoben werden soll, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.
16Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staats ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin III-VO).
17Danach bestand gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO eine Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des Asylantrags des Klägers, weil dieser zuvor dort einen Asylantrag gestellt hatte und die ungarischen Behörden einer Wiederaufnahme des Klägers zugestimmt hatten.
18Insoweit ist es unerheblich, dass der Kläger in Deutschland keinen Asylantrag gestellt hat. In einem solchen Fall ist Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO einschlägig. Danach kann ein Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich eine Person im Sinne des Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO ohne Aufenthaltstitel aufhält und bei dem kein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, die Person wieder aufzunehmen, wenn er der Auffassung ist, dass der andere Mitgliedstaat gemäß Art. 20 Abs. 5 und Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO zuständig ist.
19Die Voraussetzungen des Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO sind erfüllt. Denn der Kläger ist ein Antragsteller, der während der Prüfung seines Antrags im zuständigen Mitgliedstaat (hier: in Ungarn) sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (hier: in Deutschland) ohne Aufenthaltstitel aufhält.
20Gemäß Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO müssen die Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO (nach Auffassung des ersuchenden Mitgliedstaats, hier: Deutschlands) zusätzlich erfüllt sein, weil diese nach dem deutschen, englischen, französischen und niederländischen Wortlaut des Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO („und“/„and“/„et“/„en“) kumulativ und nicht lediglich alternativ aufgeführt sind. Dass diese Formulierung in Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO nicht lediglich sprachlich verunglückt ist, folgt aus dem Gegenschluss der nachfolgenden, die Buchstaben b, c, d des Art. 18 Dublin III-VO betreffenden Formulierung des Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO. Nach dem Wortlaut sämtlicher oben genannter Sprachen („oder“/„or“/„ou“/„of“) werden die Buchstaben b, c, d des Art. 18 Dublin III-VO in Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO nämlich eindeutig alternativ aufgeführt. Nach Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO ist der Mitgliedstaat, bei dem der erste Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde (hier: Ungarn), gehalten, einen Antragsteller, der sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (hier: in Deutschland) aufhält, nachdem er seinen ersten Antrag noch während des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zurückgezogen hat, nach den Bestimmungen der Art. 23, 24 und 29 Dublin III-VO wieder aufzunehmen, um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zum Abschluss zu bringen.
21Hier braucht indes nicht entschieden zu werden, ob die Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO erfüllt sind. Wenn die Erklärung des Klägers gegenüber der Bundespolizei in Rosenheim, den Asylantrag zurücknehmen zu wollen, auch gegenüber den ungarischen Behörden gelten sollte, sind die Voraussetzungen auch des Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO erfüllt. Das selbe könnte dann gelten, wenn das Verfahren in Ungarn deshalb als zurückgezogen gelten sollte, weil der Kläger Ungarn noch vor einer dortigen Asylentscheidung verlassen hat.
22Hat der Kläger dagegen den in Ungarn gestellten Asylantrag nicht zurückgezogen, gelten Art. 20 Abs. 5 und 24 Abs. 1 Dublin III-VO über ihren Wortlaut hinaus erst recht. Art. 20 Abs. 5 und 24 Abs. 1 Dublin III-VO gelten gerade dann, wenn eine Person in einem Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat und sodann in einen anderen Mitgliedstaat ausgereist ist, ohne dass er in dem anderen Mitgliedstaat einen weiteren Asylantrag gestellt und ohne dass er den im ersten Mitgliedstaat gestellten Asylantrag zurückgenommen hat. Denn die Art. 20 Abs. 5, 21, 23 und 24 Dublin III-VO sollen als umfassendes Gesamtsystem sicherstellen, dass der zuständige Mitgliedstaat einen in einen anderen Mitgliedstaat ausgereisten Antragsteller von diesem anderen Mitgliedstaat aufnimmt oder wieder aufnimmt, um das Verfahren des Antragstellers fortzusetzen bzw. zum Abschluss zu bringen.
23Dass das System der Dublin III-VO für jede Fallgestaltung gilt und deshalb grundsätzlich auch in einem Fall wie dem vorliegenden ein Mitgliedstaat die Übernahme eines Asylantragstellers durch einen anderen Mitgliedstaat verlangen kann, wird letztlich aus Art. 3 Abs. 2 Satz 3 Dublin III-VO deutlich. Danach wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat, wenn keine Überstellung an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden kann, etwa weil in allen oder auch nur einem dieser Mitgliedstaaten systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO bestehen. Folgt aus dieser Ausnahmeregelung des Art. 3 Abs. 2 Satz 3 Dublin III-VO, dass nach der Dublin III-VO auf jeden Fall ein Mitgliedstaat für die materielle Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, auch wenn der Antrag ausschließlich in einem anderen Mitgliedstaat gestellt worden ist, wird daran zum einen deutlich, dass innerhalb der Europäischen Union kein Asylantrag unbeschieden bleiben darf, und zum anderen, dass dieser Ausnahmeregelung eine Regel zugrundeliegt, wonach – vorbehaltlich der in Kapitel III Dublin III-VO genannten Kriterien – ein Mitgliedstaat, in dem eine Person zuerst einen Asylantrag gestellt hat, regelmäßig vor einem anderen Mitgliedstaat für die materielle Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist und demzufolge – vorbehaltlich der in Kapitel III Dublin III-VO genannten Kriterien – ein anderer Mitgliedstaat grundsätzlich von dem ersten Mitgliedstaat in jeder Fallgestaltung die Übernahme des Asylantragstellers verlangen kann.
24Nunmehr ist allerdings die Beklagte für die Entscheidung über das (ausschließlich in Ungarn gestellte) Asylbegehren des Klägers zuständig, weil die Auffangzuständigkeit des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO einschlägig ist. Denn einer Überstellung des Klägers nach Ungarn stehen systemische Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegen, und eine weitere Prüfung, ob ein dritter Mitgliedstaat zuständig ist, verspricht nach Ablauf der Fristen für die Stellung von Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen keinen Erfolg.
25Die Dublin III-VO beruht auf der Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der GFK und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens gilt daher grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Europäischen Grundrechtecharta (GrCh) sowie mit der GFK und der EMRK steht. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine unwiderlegbare Vermutung. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten nicht vereinbar ist. Zwar genügt nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat und nicht jeder geringste Verstoß gegen die Richtlinien, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Ist jedoch ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 GrCh implizieren, so ist die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. In solchen Situationen obliegt es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat" im Sinne der Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden.
26Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 - Rs C-411/10 und C-493/10 -, juris; EGMR, Urteil vom 21.1.2011 - 30696/09 - M.S.S. / Belgien und Griechenland - und Urteil vom 4.11.2014 - 29217/12 - Tarakhel / Italien -.
27Der Begriff des systemischen Mangels ist weit zu verstehen. Mit „Asylverfahren und Aufnahmebedingungen" ist der Gesamtkomplex des Asylsystems im Zielstaat gemeint. Dieses umfasst den Zugang zum Asylverfahren, das Asylverfahren selbst, die Behandlung während des Asylverfahrens, die Handhabung der Anerkennungsvoraussetzungen, das Rechtsschutzsystem und auch die in der GFK und der Qualifikationsrichtlinie geregelte Behandlung nach der Anerkennung.
28Vgl. Lübbe. „Systemische Mängel" in Dublin-Verfahren, ZAR 2014, 105 ff.; Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182 ff.
29Systemische Mängel im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des EuGH sind dabei nicht auf flächendeckende gravierende Systemausfälle (wie etwa für Griechenland festgestellt) beschränkt, sondern erfassen generell solche, die im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und deshalb den Einzelnen vorhersehbar und regelhaft treffen. Auch tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem - aus welchen Gründen auch immer - faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weit gehend unwirksam wird, können einen systemischen Mangel darstellen. Nicht systemisch ist demgegenüber ein Mangel dann, wenn es lediglich in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK kommt.
30Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19.3.2014 - 10 B 6.14 - und vom 6.6.2014 - 10 B 35.14 -, juris.
31Nicht erforderlich ist, dass sich der systemische Mangel bzw. die strukturelle - systemische - Schwachstelle auf eine unüberschaubare Vielzahl, die Mehrheit aller Asylbewerber oder gar auf alle Asylbewerber auswirkt. Ein systemischer Mangel kann vielmehr auch dann vorliegen, wenn nur eine geringe Anzahl von Asylbewerbern betroffen ist, soweit dies vorhersehbar und regelhaft geschieht.
32Vgl. VGH BW, Urteile vom 18.3.2015 - A 11 S 2042/14 - und vom 10.11.2014 - A 11 S 1778/14 -; Lübbe, a. a. O.
33Im Falle des Vorliegens systemischer Mängel ist es ferner erforderlich, dass der einzelne Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, hiervon im Falle einer Überstellung in den Zielstaat selbst betroffen zu sein. Bei flächendeckenden systemischen Mängeln bedarf dies keiner besonderen Darlegung. Bei systemischen Mängeln, die sich nur auf Teilgruppen oder vereinzelt auswirken, müssen weitere besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen bzw. geltend gemacht werden, die eine Betroffenheit des Einzelnen beachtlich wahrscheinlich machen.
34Vgl. Lübbe, a. a. O.
35Bei der Beurteilung der Situation in einem Mitgliedstaat und der für einen Asylbewerber dort bestehenden tatsächlichen Risiken im Falle einer Überstellung sind Stellungnahmen des UNHCR ebenso heranzuziehen wie regelmäßige und übereinstimmende Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen sowie sonstige Berichte der europäischen Institutionen, insbesondere der Kommission.
36Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011, a. a. O., sowie vom 30.5.2013 - C-528/11 -, juris.
37Für die Rechtsfrage einer Verletzung des Art. 3 EMRK hat die Rechtsprechung des EGMR eine Orientierungs- und Leitfunktion.
38Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und nach Auswertung der aktuellen Auskunfts- und Erkenntnislage zu Ungarn steht es zur Überzeugung der Kammer fest, dass dem Kläger bei einer Überstellung nach Ungarn bereits aufgrund der dort bestehenden Inhaftierungspraxis die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Diesbezüglich schließt sich die Kammer der Rechtsprechung der
393. Kammer des VG Köln, Urteil vom 15.7.2015 - 3 K 2005/15.A -, NRWE,
40an sowie deren Begründung, die nachfolgend wiedergegeben wird.
41Asylsuchende unterliegen in Ungarn einem erheblichen Risiko, für einen längeren Zeitraum in Haft genommen zu werden. Dies gilt in besonderem Maße für den Personenkreis der nach der Dublin III-VO rücküberstellten Asylsuchenden, d. h. Personen, die bereits ein Asylverfahren in Ungarn durchgeführt hatten, das entweder noch nicht abgeschlossen oder mit negativem Ausgang beendet ist. Denn diese werden nach den Erkenntnissen des UNHCR
42vgl. Auskunft vom 30.9.2014 an das VG Bremen,
43mit Ausnahme von Familien oder besonders vulnerablen Personen bei Rückkehr nach Ungarn stets in Haft genommen. Diese Inhaftierungspraxis begegnet bereits deshalb Bedenken, weil nach den UNHCR-Richtlinien zur Inhaftierung von Flüchtlingen und Asylsuchenden Asylsuchende grundsätzlich nicht in Haft genommen werden sollten und Haft immer nur das letzte Mittel darstellen darf. Da Asylsuchende meist bereits traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, kann sie nämlich eine Inhaftierung mit besonderer Härte treffen.
44Vgl. UNHCR vom 30.9.2014 an das VG Bremen unter Hinweis auf UNHCR, Detention Guidelines, 2012.
45Diesen Anforderungen wird die in dem seit dem 1.7.2013 geltenden ungarischen Asylgesetz geregelte Möglichkeit einer Inhaftierung von Asylbewerbern bis zu sechs Monaten schon deshalb nicht gerecht, weil die dort genannten Gründe für eine Asylhaft sehr weit und teilweise vage formuliert sind und auch die Anordnung der Haft durch die Verwaltungsbehörde nach der Auskunft des UNHCR nicht mit Gründen versehen wird. Die ungarischen Behörden scheinen dabei bei Dublin-Rückkehrern generell eine Fluchtgefahr anzunehmen.
46UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf.
47Ein solches Vorgehen, bei dem Dublin-Rückkehrer regelmäßig inhaftiert werden, wird den europarechtlichen Vorgaben nicht im Ansatz gerecht. Zwar sieht die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 (Aufenthaltsrichtlinie) in Art. 8 Abs. 2 die Möglichkeit der Inhaftierung von Asylbewerbern unter anderem bei Fluchtgefahr vor. Die Normen des europäischen Flüchtlingsrechts stehen aber einer generellen Inhaftierung von Gruppen von Asylbewerbern eindeutig entgegen, vgl. etwa § 8 Abs. 1, 2 und 4 der Aufenthaltsrichtlinie und Art. 28 Dublin III-VO. Das von diesen Normen statuierte Erfordernis einer Einzelfallprüfung und der strikten Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird in Ungarn nach allen der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnissen systematisch missachtet. Die flächendeckende Inhaftierung verstößt dabei nicht nur gegen das Verbot der unrechtmäßigen Inhaftierung des Art. 5 EMRK, sondern begründet angesichts der regelmäßig langen Dauer der Inhaftierung und der Umstände in der Haft die Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK in Verbindung mit Art. 4 GrCh. Denn es gibt gegen die Verhängung von Asylhaft keinen effektiven Rechtsschutz des Betroffenen. Alternativen zur Haft, wie etwa das Hinterlegen einer Kaution, werden kaum in Erwägung gezogen. In der Praxis führt dies dazu, dass die Gründe für eine Inhaftierung mangels individualisierter Begründung häufig nicht nachvollziehbar sind und willkürlich erscheinen.
48UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf; Report des Kommissars für Menschenrechte des Europäischen Rates, Nils Muiznieks, vom 16.12.2014 über einen Besuch Ungarn im Juli 2014 (Muiznieks-Report), Rdnr. 155 f.
49Darüber hinaus ist die gerichtliche Überprüfung und Kontrolle von Haftgründen und Haftverlängerungen nach den vorliegenden Erkenntnissen völlig unzureichend. So verlängern die ungarischen Gerichte die Haftanordnungen aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung meist um die maximal mögliche Spanne von 60 Tagen. Dabei werden die Häftlinge dem Gericht in Gruppen vorgeführt, so dass für die Bearbeitung eines Einzelfalls meist weniger als drei Minuten zur Verfügung stehen.
50UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf.
51Dass bei dieser Verfahrensweise eine individuelle Prüfung von Haftgründen nicht möglich (und nach der herrschenden ungarischen Rechtsauffassung wohl auch gar nicht erforderlich) ist, liegt auf der Hand. Folge dieser Verfahrensweise ist es, dass die maximale Haftdauer in vielen Fällen voll ausgeschöpft wird.
52So PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
53Hinzu kommt, dass Asylsuchende nach den gesetzlichen Bestimmungen in Ungarn zwar Anspruch auf eine kostenlose Rechtsberatung haben, in der Praxis jedoch eine qualifizierte Beratung durch das staatliche Rechtshilfesystem aber nicht zur Verfügung steht. So ist in den Haftanstalten der Zugang zu einer Rechtsberatung praktisch nur über Vertragsanwälte des Hungarian Helsinki Committee (HHC) möglich, die die Einrichtungen einmal pro Woche besuchen, was zur Folge hat, dass nur eine Minderheit der inhaftierten Asylsuchenden Rechtsberatung erhält oder anwaltlich vertreten wird.
54UNHCR vom 30.9.2014 und PRO ASYL vom 31.10.2014, beide an das VG Düsseldorf.
55Diese Bedingungen führen dazu, dass ein Asylhäftling weit gehend rechtsschutzlos gestellt ist und zu einem reinen Objekt des Verfahrens der Haftanordnung sowie deren Überprüfung und Verlängerung herabgewürdigt wird.
56Schließlich entsprechen auch die Haftbedingungen nach den vorliegenden Erkenntnisquellen nicht den Mindeststandards an eine menschenwürdige Unterbringung und Behandlung. So wird dort vielfach schlecht geschultes Wach- und Betreuungspersonal eingesetzt. Auch ist eine angemessene medizinische Betreuung nicht gewährleistet. Eine Betreuung durch Psychologen findet nicht statt. Zudem erfüllen einige Hafteinrichtungen nicht die hygienischen Mindeststandards. Hinzu kommen Berichte über Misshandlungen und Schikanen sowie Beschwerden über brutale Übergriffe.
57UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf und vom 30.9.2014 an das VG Bremen; PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
58Die systematisch angewendete Praxis, Asylhäftlinge angeleint und in Handschellen bei auswärtigen Terminen (etwa bei Behörden- oder Arztbesuchen) vorzuführen, stellt bereits für sich genommen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar. Die erkennende Kammer schließt sich hierbei in vollem Umfang der Bewertung des UNHCR
59vgl. Auskünfte vom 9.5. und 30.9.2014 an das VG Düsseldorf,
60an. An dieser Einschätzung vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass eine derartige Behandlung bei Straftätern in Ungarn allgemein üblich ist. Denn abgesehen davon, dass es bereits fraglich erscheint, ob ein „Ausführen" von Strafgefangenen an einer Leine - zusätzlich zu einer Sicherung durch Handschellen - noch mit den Regelungen der EMRK vereinbar ist, sind Asylsuchende keine Straftäter, so dass sich eine Gleichbehandlung bereits aus diesem Grund verbietet. Hierauf weist auch der UNHCR in seinen
61Detention Guidelines a. a. O.,
62ausdrücklich hin. Danach sollen Asylsuchende in der Asylhaft mit Würde und entsprechend internationaler Standards behandelt werden. Insbesondere soll die Asylhaft keinen bestrafenden Charakter haben.
63Insgesamt lassen die vorstehend dargestellte Inhaftierungspraxis sowie die dabei herrschenden Haftbedingungen nach Überzeugung der Kammer nur den Schluss zu, dass das Asylverfahren bzw. die Aufnahmebedingungen in Ungarn jedenfalls im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung regelhaft derart defizitär sind, dass dem Kläger dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
64So unter Berücksichtigung der neueren Entwicklung im Ergebnis auch: VG Münster, Beschluss vom 7.7.2015 - 2 L 858/15.A -; VG Bremen, Beschluss vom 1.4.2015 - 3 V 145/15 -; VG München, Beschluss vom 20.2.2015 - M 24 S 15.50091 - und VG Berlin, Beschluss vom 15.1.2015 - 23 L 899.14 A - jeweils m. w. N. (alle juris); a. A. u.a. VG Düsseldorf, Urteil vom 20.3.2015 - 13 K 501/14.A; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 16.6.2015 - 7a L 1208/15.A -; BayVGH, Beschluss vom 12.6.2015 - 13a ZB 15.50097 - (alle juris).
65Dieser Einschätzung steht nicht der Umstand entgegen, dass der UNHCR trotz seiner Kritik an der Inhaftierungspraxis Ungarns kein Positionspapier herausgegeben hat, in dem die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgefordert werden, von Überstellungen Asylsuchender nach Ungarn gemäß der Dublin-Verordnung abzusehen. Denn der UNHCR hat in seiner
66Stellungnahme vom 30.9.2014 an das VG Bremen
67ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er derartige Empfehlungen bislang lediglich in Ausnahmekonstellationen ausgesprochen habe und aus der Tatsache des Fehlens einer Äußerung in einem UNHCR-Papier, ob bestimmte Mängel einer Überstellung in den betreffenden Staat entgegenstünden, nicht geschlossen werden könne, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehenden Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Dies sei deshalb der Fall, weil sich die betreffenden Papiere zumeist in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die betreffende Regierung richteten. Nach Auffassung des UNHCR ist es die Aufgabe der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat ausschließen.
68UNHCR vom 30.9.2014 an das VG Bremen.
69Ebenso wenig gebietet der Umstand, dass der EGMR mit
70Urteil vom 3.7.2014 (Mohammadi / Österreich, Nr. 71932/12)
71entschieden hat, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung ein Asylsuchender nicht mehr einer tatsächlichen und persönlichen Gefahr unterliege, bei einer Überstellung nach Ungarn im Rahmen der Dublin-Verordnung einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die Art. 3 EMRK verletzen würde. Denn diese Einschätzung beruhte im Wesentlichen auf der Erwartung, dass die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in Ungarn zu einer positiven Entwicklung des ungarischen Asylsystems führen würden. Diese Erwartungen haben sich indessen - wie die oben dargelegten aktuellen Erkenntnisse zur Inhaftierungspraxis in Ungarn sowie den dort herrschenden Haftbedingungen für Asylbewerber zeigen - nicht erfüllt.
72Unabhängig von der menschenrechtswidrigen Inhaftierungspraxis Ungarns bestehen systemische Mängel in dem oben beschriebenen Sinn zur Überzeugung der Kammer aber auch aufgrund der Entwicklungen der jüngsten Zeit. Denn in der ersten Jahreshälfte 2015 sind nach Angaben der Regierung bis zu 72000 Flüchtlinge nach Ungarn eingereist. Bis zum 14.7.2015 sollen es bis zu 78000 Flüchtlinge gewesen sein.
73Vgl. Pressemitteilung des ungarischen Ministry of Foreign Affairs and Trade vom 14.07.2015 „Steady migratory pressure necessitates border fence".
74Andere Quellen sprechen von 61000 Flüchtlingen.
75So die Pressemitteilung des UNHCR vom 2.7.2015, „UNHCR urges Hungary not to amend its asylum system in a rush, ignoring international standards".
76Die Aufnahmekapazitäten liegen bei maximal 2500 Plätzen für Flüchtlinge. Bei einem Verhältnis von bis zu 29 Flüchtlingen im Halbjahr für einen Aufnahmeplatz ist für die Kammer schon im Ansatz nicht mehr erkennbar, wie hier eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge gewährleistet sein soll.
77Vgl. zu einer ähnlichen Überlegung zu Italien bei einem zahlenmäßig noch deutlich günstigeren Verhältnis von ca. 35000 Aufnahmeplätzen und 7900 Flüchtlingen in den ersten zwei Monaten 2015 VG Düsseldorf, Urteil vom 20.5.2015 - 8 K 1694/15.A -, juris Rz. 40 ff.
78Dies gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass zahlreiche Flüchtlinge, soweit sie nicht inhaftiert werden, untertauchen und in weitere EU-Länder weiterreisen. Denn angesichts der enorm hohen Zahl, die sich binnen weniger Jahre vervielfacht hat, sind die Aufnahmekapazitäten völlig unzureichend. Es ist ausgeschlossen, dass Unterkunft und Verpflegung in einem Mindestansprüchen genügenden Sinne vorgehalten werden, um die häufig traumatisierten Flüchtlinge ausreichend zu versorgen. Viele Flüchtlinge werden dementsprechend auf der Straße leben, wo sie einer feindseligen Umgebung und einer zunehmenden Anzahl an rassistischen Übergriffen ausgesetzt sind.
79Dass das ungarische Asylsystem an systemischen Mängeln leidet, wird bestätigt durch die hinter den Missständen stehende Absicht der ungarischen Behörden. Deren Einstellung wird nicht nur durch das Fehlen zielgerichteter Maßnahmen zur Beseitigung des derzeit in Ungarn, vor allem an Budapester Bahnhöfen und an anderen ungarischen Orten herrschenden Flüchtlingschaos erkennbar, sondern zusätzlich durch die jüngsten Äußerungen des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán gegenüber Organen der Europäischen Union, wonach bestimmte Flüchtlingsgruppen kein Problem Ungarns darstellten und das Land von vornherein Flüchtlinge gewisser Herkunftsländer wegen deren nichtchristlicher Religionszugehörigkeit nicht aufzunehmen gewillt sei.
80Tagesschau.de vom 4.9.2015: „Zug steht still – Orbán als `Schande´ kritisiert“; DIE WELT, Internetauftritt vom 3.9.2015: „Ungarn voller Angst, Europäer voller Angst“; ZEIT ONLINE vom 3.9.2015: „Orbán nennt Flüchtlingskrise `ein deutsches Problem´“.
81Unabhängig von diesen Gründen bestehen nach Auffassung der Kammer auch aus einem weiteren Grund in Ungarn systemische Mängel des Asylverfahrens, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Kläger tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden. Diese betreffen sämtliche Asylbewerber, die auf dem Landweg über die so genannte Balkan-Route nach Ungarn gelangen. Das erfolgt ausschließlich über Serbien. Über 99 % aller Asylsuchenden gelangen über die serbisch-ungarische Grenze nach Ungarn.
82FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“; PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“.
83Das war nach seinen Angaben auch beim Kläger der Fall. Seit Jahresbeginn wurden knapp 100000 Migranten registriert, von denen praktisch alle in wohlhabendere Länder der EU weiterreisen wollen.
84FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“.
85Zum 1.8.2015 ist ein ungarisches Gesetz in Kraft getreten, das u.a. Serbien zum sicheren Drittstaat erklärt. Diese Änderung des Asylgesetzes ermöglicht voraussichtlich ab dem 15.9.2015,
86Pester Lloyd, Internetauftritt vom 2.9.2015: „Internierung, Kriminalisierung, Willkür: Was bedeutet Ungarns neues Grenzregime?“,
87die Ablehnung von Asylanträgen als unzulässig mit der Folge, dass in Ungarn die Anträge solcher Asylsuchender im Normalfall nicht mehr materiell geprüft werden und eine sofortige Abschiebung nach Serbien droht.
88DIE WELT, Internetauftritt vom 3.9.2015: „500 Flüchtlinge verweigern Fahrt in ungarisches Aufnahmelager“; Pester Lloyd, Internetauftritt vom 2.9.2015: „Internierung, Kriminalisierung, Willkür: Was bedeutet Ungarns neues Grenzregime?“; PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“; PRO ASYL, Internetauftritte vom 21.7.2015: „Mit Zelten in die Pampa: Ungarns Umgang mit Flüchtlingen“ und vom 7.7.2015: „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“; SPIEGEL ONLINE vom 6.7.2015: „Überlastetes Asylsystem: Ungarn verschärft Gesetz zur Aufnahme von Flüchtlingen“; Pester Lloyd, Internetauftritte vom 6.7.2015: „Gesetzesflut im ungarischen Parlament: Quasi-Aufhebung des Rechtes auf Asyl ...“ und vom 1.7.2015: „Regierungstreffen Serbien-Ungarn und neue Tiefpunkte der Flüchtlingspolitik“; Amnesty International: Europe´s Borderlands – Violations against Refugees and Migrants in Macedonia, Serbia and Hungary, Juli 2015, S. 61; ZEIT ONLINE vom 17.6.2015: „Ungarn will Flüchtlinge mit Grenzzaun aufhalten“; n-tv, Internetauftritt vom 17.6.2015: „Zaun gegen Migranten – Ungarn macht Grenze zu Serbien dicht“; Süddeutsche Zeitung, Internetauftritt vom 17.6.2015: „Ungarn will Flüchtlinge mit Vier-Meter-Zaun abhalten“.
89Von 2010 bis 2012 hatte Ungarn bereits Flüchtlinge völkerrechtswidrig nach Serbien abgeschoben, was zu scharfer Kritik der EU-Kommission geführt hatte.
90PRO ASYL, Internetauftritt vom 7.7.2015: „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“.
91Die Republik Serbien hat jedoch angekündigt, sie sei nicht gewillt, zigtausenden Flüchtlingen, die nicht weiterkämen, wochen- oder monatelang Unterkunft zu gewähren, weil das die Ressourcen des Landes nicht hergäben. Man werde auch keine Flüchtlingslager bauen.
92Pester Lloyd, Internetauftritt vom 21.8.2015.
93Serbien hat auch kein funktionierendes Asylsystem.
94Vgl. die Einzelheiten in: Amnesty International a. a. O., S. 35 - 45.
95Menschenrechtsorganisationen haben das Fehlen eines funktionierenden Schutzsystems in Serbien immer wieder kritisiert.
96PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“.
97Im April 2008 trat Serbiens Asylgesetz in Kraft.
98PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Amnesty International a. a. O., S. 36.
99Seither ist die Zahl der registrierten Asylsuchenden – also ohne diejenigen Personen, die Serbien lediglich „durchqueren“, ohne registriert zu werden – exponentiell gestiegen. Betrug sie im Jahr 2008 nur 77, im Jahr 2009 erst 275 und im Jahr 2010 noch 522, stieg sie im Jahr 2011 auf 3132 an, sank im Jahr 2012 etwas auf 2723, um im Jahr 2013 auf 5066 und im Jahr 2014 auf 16490 Personen anzuschwellen.
100Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Serbien (Stand: November 2014) vom 15.12.2014 (Lagebericht Serbien), S. 13; Amnesty International a. a. O., S. 36.
101Die Anerkennungsrate von Asylsuchenden als Flüchtlinge in Serbien ist äußerst gering.
102AA, Lagebericht Serbien, S. 13.
103Bis Ende 2014 wurden lediglich sechs Personen als Flüchtlinge anerkannt, zwölf erhielten einen subsidiären Schutzstatus. Bis Ende Mai 2015 wurde weiteren vier Flüchtlingen Asyl gewährt.
104PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Amnesty International a. a. O., S. 36.
105Die serbische Anerkennungsquote ist auch unter Herausrechnen der Personen, die letztlich keinen Asylantrag stellen oder ein laufendes Verfahren nicht abwarten und weiterreisen, gering. Denn im Jahr 2011 erhielt keiner der 3134 registrierten Antragsteller Asyl, im Jahr 2012 erhielten von 2723 Antragstellern lediglich drei Personen subsidiären internationalen Schutz, und im Jahr 2013 wurden bei insgesamt 5066 Antragstellern von 193 in den Blick genommenen Anträgen vier bestätigt, 13 verworfen oder abgewiesen und 176 nicht fortgeführt. Obwohl geschätzt wird, dass von den 16490 Personen, die im Jahr 2014 angaben, Asyl beantragen zu wollen, nur die Hälfte auch tatsächlich einen Antrag auf Asyl in Serbien gestellt hat, wurden nur 1350 Asylsuchende tatsächlich registriert, und von 388 eingereichten Anträgen wurden 307 nicht fortgesetzt, weil der jeweilige Antragsteller während des Verfahrens untertauchte. Die Asylbehörde befragte im Jahr 2014 17 von 18 Antragstellern, gab sechs Anträgen statt, wobei einer Person der Flüchtlingsstatus und fünf Personen subsidiärer Schutz gewährt wurde, wohingegen zwölf Anträge abgelehnt wurden und vier Anträge aus dem Jahr 2014 im Jahr 2015 noch in Bearbeitung waren. Obwohl die Flüchtlinge viele Gründe dafür hatten, weiterzureisen, anstatt in Serbien um Asyl nachzusuchen oder ein Asylverfahren abzuwarten, scheinen Unzulänglichkeiten im serbischen Asylsystem eine Rolle für solche Entscheidungen zu spielen.
106Amnesty International a. a. O., S. 36 f.
107Aus dem Kreis der registrierten potentiellen Asylbewerber hat deshalb nur ein kleiner Teil tatsächlich einen Asylantrag gestellt, weil der Prozess dafür in Serbien sehr komplex ist.
108AA, Lagebericht Serbien, S. 13.
109Asylbewerbern Rechtshilfe leistende Nichtregierungsorganisationen meinen, dass die serbische Politik der sicheren Herkunftsländer in großem Umfang fortgeführt wird. So wurden beispielsweise von 17 von der Asylbehörde im Jahr 2014 entschiedenen Fällen sieben in der Zeit von Januar bis April berücksichtigte Anträge zurückgewiesen, weil der jeweilige Asylbewerber aus einem sicheren Drittstaat nach Serbien gekommen war. Diesen Asylbewerbern wurde weder Asyl noch irgend eine andere Form von Schutz gewährt. Die Mehrheit der Berufungen wird üblicherweise ohne Rücksicht auf ihre Gründe abgewiesen. Das schließt Berufungen gegen erstinstanzliche Entscheidungen ein, die auf dem Konzept der sicheren Drittstaaten beruhen. Eine Begründung für die Zurückweisung der Berufung wird selten gegeben.
110Amnesty International a. a. O., S. 41 f.
111Zahlreichen Schutzsuchenden droht in Serbien die Zurückschiebung nach Mazedonien oder Griechenland.
112PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Pester Lloyd, Internetauftritt vom 1.7.2015: „Regierungstreffen Serbien-Ungarn und neue Tiefpunkte der Flüchtlingspolitik“.
113Im Jahr 2012 hatte der UNHCR die Republik Serbien beschuldigt, Massenabschiebungen von Flüchtlingen und Migranten nach Mazedonien durchzuführen. Der UNHCR hatte ferner vorgetragen, dass in einigen Fällen Flüchtlinge und Migranten, die von Ungarn nach Serbien abgeschoben worden waren, informell anstatt nach den Regeln des zwischen Serbien und Mazedonien abgeschlossenen Wiederaufnahmeabkommens nach Mazedonien verbracht worden waren. Im Mai 2015 äußerte das Committee against Torture (CAT) Befürchtungen hinsichtlich des erhöhten Risikos eines refoulement für Personen, die durch die serbischen Behörden nach Mazedonien verbracht worden sind.
114Amnesty International a. a. O., S. 33 f.
115Die ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien hat ebenfalls kein effektives Asylsystem, vielmehr besteht dort die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen und eines refoulement durch Abschiebungen nach Griechenland.
116Amnesty International a. a. O., S. 40 f.
117Der ohnehin schwache Rechtsstaat wird derzeit durch die autoritäre Politik der größten Regierungspartei erheblich in Frage gestellt.
118AA: Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien (Stand: August 2015) vom 12.8.2015, S. 4.
119Griechenland weist seinerseits systemische Mängel im Sinne der Rechtsprechung des EuGH auf.
120Abgesehen davon verstößt die Gefahr von Kettenabschiebungen gegen das Prinzip des non-refoulement und damit gegen Art. 18 GrCh in Verbindung mit Art. 33 Abs. 1 GFK, zumal gerade hier die Gefahr besteht, dass der Kläger von Serbien aus in seinen Herkunftsstaat, den Kosovo, abgeschoben wird, ohne dass zuvor sein Schutzgesuch geprüft worden ist. Insoweit ist es dem Gericht rechtlich auch verwehrt, die Erfolgsaussichten des Asylantrags des Klägers auf der Grundlage seiner bisherigen Angaben materiellrechtlich zu prüfen, weil es aus den eingangs dargelegten Gründen auch nicht „durchentscheiden“ darf.
121Es bedarf vor diesem Hintergrund keiner abschließenden Entscheidung, ob durch die jüngst verabschiedeten Gesetzesänderungen weitere systemische Mängel im ungarischen Asylsystem vorliegen.
122Vgl. UNHCR, UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste.
123Insbesondere die Gesetzesänderung, nach der ein Asylverfahren eingestellt werden kann, wenn Flüchtlinge für die Dauer von 48 Stunden nicht in der Aufnahmeeinrichtung, der sie zugewiesen worden sind, angetroffen werden, dürfte schon im Ansatz nicht mehr mit rechtstaatlichen Grundsätzen vereinbar sein. Dies gilt umso mehr, als die oben geschilderten chaotischen Zustände in den ungarischen Flüchtlingseinrichtungen eine solche Feststellung der Abwesenheit praktisch immer möglich machen werden.
124Unterbleiben kann ferner die rechtliche Einordnung der beabsichtigten Schaffung der Möglichkeit, die ungarische Armee an der Grenze einzusetzen.
125Pester Lloyd, Internetauftritt vom 1.9.2015: „Ungarn bereitet Militäreinsatz gegen Flüchtlinge vor: Opposition will Orbán vor Internationalen Strafgerichtshof bringen“.
126Ebenso wenig bedarf es einer Entscheidung, ob die Rücküberführung nach Ungarn derzeit faktisch überhaupt möglich ist. Nachdem die ungarische Regierung am 22.6.2015 angekündigt hatte, keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen, hat sie dies zwar schon am Folgetag revidiert. Weiterhin existieren jedoch Berichte, nach denen maximal zwölf Flüchtlinge täglich durch die ungarischen Behörden im Rahmen von Dublin-Rücküberstellungen aufgenommen werden. Bei mehreren Tausend Flüchtlingen, die allein Deutschland nach Ungarn zurücküberstellen möchte, ist sehr zweifelhaft, ob es im streitgegenständlichen Einzelfall überhaupt zu einer Rücküberstellung kommen wird.
127Dieser letztgenannte Umstand ist jedoch ein weiterer Grund dafür, dass die – hier allein streitbefangene – Anordnung, den Kläger nach Ungarn abzuschieben, rechtswidrig ist. Insoweit liegen die Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 AsylVfG nicht (mehr) vor. Nach dieser Norm ordnet das Bundesamt ohne vorherige Anordnung und Fristsetzung die Abschiebung eines Ausländers in den für das Asylverfahren zuständigen Staat an, „sobald feststeht“, dass sie durchgeführt werden kann. Der Gesetzgeber wollte mit § 34a Abs. 1 AsylVfG die Möglichkeit schaffen, für eine in der Regel nur kurzfristig durchgeführte durchführbare Rückführung ein verkürztes Verfahren zu schaffen. Die Abschiebungsanordnung ist deshalb nicht quasi auf Vorrat zulässig, sondern erst dann, wenn das Übernahmeverfahren positiv abgeschlossen ist, weil der andere Staat seine Übernahmebereitschaft auf die vorhergesehene Art und Weise verbindlich erklärt hat und die näheren Umstände der Überstellung wenigstens dem Grundsatz nach geklärt sind, etwa wenn zwischen dem jeweiligen Staat und der Bundesrepublik Deutschland ein funktionierendes, routiniertes und eingespieltes Übernahmeverfahren praktiziert wird, das die zuverlässige Prognose zulässt, die Übernahme werde in naher Zukunft abgeschlossen werden können. Das Bundesamt hat vor Erlass der Abschiebungsanordnung der Frage nachzugehen, ob der ersuchte Mitgliedstaat tatsächlich zur (Wieder-) Aufnahme bereit ist. Zudem ist – solange die Abschiebung eines Ausländers aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist – auch ein Vollzugshindernis im Sinne des § 60a AufenthG gegeben und hindert den Erlass einer Abschiebungsanordnung. Die tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung ist dann anzunehmen, wenn für einen vorausschaubaren Zeitraum die Abschiebung ausgeschlossen ist und erst recht, wenn die Abschiebungsmöglichkeit zeitlich völlig ungewiss ist. Unter Berücksichtigung der Auskünfte des Bundesamts gegenüber dem VG Oldenburg kann derzeit eine hinreichend zuverlässige Prognose, die Übernahme des Klägers durch Ungarn werde in naher Zukunft abgeschlossen sein, nicht erstellt werden. Ob und in welchem Umfang der ungarische Staat Asylsuchende im Rahmen des Überstellungsverfahrens aufnehmen wird, muss als offen angesehen werden. Auch die Zahlen, die das Bundesamt zu den im ersten Quartal 2015 aus Deutschland durchgeführten Überstellungen vorgelegt hat, wecken Bedenken daran, dass zwischen Ungarn und Deutschland ein funktionierendes, routiniertes und eingespieltes Übernahmeverfahren besteht. Zwar hat Ungarn in 2300 Fällen den Übernahmeersuchen der Bundesrepublik Deutschland formal entsprochen, tatsächliche Überstellungen erfolgten jedoch nur in einem Umfang von ca. 1,4 %. Die offensichtlichen Probleme beim Vollzug der in der Dublin III-Verordnung normierten Regelungen zur Aufnahme bzw. Wiederaufnahme von Asylsuchenden und der Überstellung sind keine bloße zeitliche Verzögerung aufgrund administrativer Vorkehrungen für eine an sich bereits dem Grunde nach ins Auge gefasste Abschiebung.
128Vgl. zu diesen Aspekten, Zahlen und weiteren Nachweisen: VG Oldenburg, Urteil vom 19.6.2015 - 13 A 1294/15 -.
129Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG.
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 17.3.2015 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
T a t b e s t a n d :
2Der am 00.00.0000 in Singar, Kreis Mosul geborene Kläger ist irakischer Staatsangehhöriger kurdischer Volkszugehörigkeit. Er reiste am 12.01.2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 23.02.2015 einen Asylantrag. Bei seiner Erstbefragung am 23.02.2015 gab er an, er habe den Irak am 31.12.2014 verlassen. Er sei über Syrien, die Türkei und unbekannte Länder nach Deutschland gereist. Er sei in die Bundesrepublik Deutschland gekommen, weil hier die Menschenrechte gewahrt würden. Er sei körperlich behindert und erhoffe sich in Deutschland bessere Möglichkeiten.
3Die anschließend durchgeführte EURODAC-Anfrage ergab Treffer für Ungarn und Österreich. Daraufhin teilte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) dem Kläger mit Schreiben vom 27.02.2015 mit, dass ein Dublin-Verfahren mit dem Ziel der Rückführung nach Ungarn eingeleitet werde. Unter demselben Datum richtete das Bundesamt ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 18 Abs. 1 b der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Dublin III-VO) unter Hinweis auf den dort am 10.01.2015 gestellten Asylantrag des Klägers an Ungarn. Am 12.03.2015 stimmte Ungarn der Rückführung des Klägers zu.
4Mit Bescheid vom 17.03.2015 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers ab und ordnete seine Abschiebung nach Ungarn an. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27 a AsylVfG unzulässig, da Ungarn aufgrund des bereits dort gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 b Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.
5In den Verwaltungsvorgängen des Bundesamtes ist kein Zustellungsnachweis enthalten.
6Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 02.04.2015 die vorliegende Klage erhoben, zu deren Begründung sein Prozessbevollmächtigter vorgetragen hat: Der Kläger habe bei einem Bombenattentat im Irak ein Bein und ein Auge verloren. Seitdem leide er unter einem Traumata, das ihn nachts nicht schlafen lasse. In Ungarn sei er medizinisch nicht ausreichend behandelt worden. Außerdem habe man ihn mehrere Tage lang in ein Gefängnis gesperrt. Bei einer Rückführung nach Ungarn müsse der Kläger mit erneuter Inhaftierung rechnen. Das ungarische Asylverfahren leide an systemischen Mängeln. Die Durchführung eines fairen Verfahrens sei dort nicht gewährleistet.
7Der Kläger beantragt,
8den Bescheid der Beklagten vom 17.03.2015 aufzuheben.
9Die Beklagte beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid.
12Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
13Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
14E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
15Die Kammer entscheidet im Einverständnis der Beteiligten über die Klage ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
16Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig und auch begründet.
17Der Bescheid der Beklagten vom 17.03.2015 ist im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylVfG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat den Asylantrag des Klägers zu Unrecht nach § 27 a AsylVfG als unzulässig abgelehnt und auf der Grundlage des § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung des Klägers nach Ungarn angeordnet.
18Gemäß § 27 a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In einem solchen Fall prüft die Beklagte den Asylantrag nicht, sondern ordnet die Abschiebung in den zuständigen Staat an (§ 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG).
19Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin III-VO).
20Danach bestand zwar gemäß Art. 18 Abs. 1 b Dublin III-VO eine Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des (erneuten) Asylantrags des Klägers, weil dieser zuvor dort einen Asylantrag gestellt hatte und die ungarischen Behörden einer Wiederaufnahme des Klägers zugestimmt hatten. Gleichwohl ist nunmehr die Beklagte aufgrund der Auffangzuständigkeit des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO für die Entscheidung über das Asylbegehren des Klägers zuständig, weil einer Überstellung nach Ungarn systemische Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegenstehen und eine weitere Prüfung nach einem zuständigen Mitgliedstaat nach Ablauf der Fristen für die Stellung von Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen keinen Erfolg verspricht.
21Die Dublin III-VO beruht auf der Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens gilt daher grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Europäischen Grundrechtecharta (im Folgenden: GrCh) sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine unwiderlegbare Vermutung. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten nicht vereinbar ist. Zwar genügt nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat und nicht jeder geringste Verstoß gegen die Richtlinien, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Ist jedoch ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 GrCh implizieren, so ist die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. In solchen Situationen obliegt es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat“ im Sinne der Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden.
22Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 – Rs C-411/10 und C-493/10, N.S. und M.E. –, juris; EGMR, Urteil vom 21.01.2011 – 30696/09 – M.S.S. / Belgien und Griechenland – und Urteil vom 04.11.2014 – 29217/12 – Tarakhel / Italien –.
23Der Begriff des systemischen Mangels ist weit zu verstehen. Mit „Asylverfahren und Aufnahmebedingungen“ ist der Gesamtkomplex des Asylsystems im Zielstaat gemeint. Dieses umfasst den Zugang zum Asylverfahren, das Asylverfahren selbst, die Behandlung während des Asylverfahrens, die Handhabung der Anerkennungsvoraussetzungen, das Rechtsschutzsystem und auch die in der Genfer Flüchtlingskonvention und der Qualifikationsrichtlinie geregelte Behandlung nach der Anerkennung.
24Vgl. Lübbe. „Systemische Mängel“ in Dublin-Verfahren, ZAR 2014, 105 ff; Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182 ff.
25Systemische Mängel im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des EuGH sind dabei nicht auf flächendeckende gravierende Systemausfälle (wie etwa für Griechenland festgestellt) beschränkt, sondern erfassen generell solche, die im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und deshalb den Einzelnen vorhersehbar und regelhaft treffen. Auch tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem – aus welchen Gründen auch immer – faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weitgehend unwirksam wird, können einen systemischen Mangel darstellen. Nicht systemisch ist demgegenüber ein Mangel dann, wenn es lediglich in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK kommt.
26Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19.03.2014 – 10 B 6.14 – und vom 06.06.2014 – 10 B 35.14 –; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.11.2014 – A 11 S 1778/14 –, alle: juris.
27Nicht erforderlich ist, dass sich der systemische Mangel bzw. die strukturelle – systemische – Schwachstelle auf eine unüberschaubare Vielzahl, die Mehrheit aller Asylbewerber oder gar auf alle Asylbewerber auswirkt. Ein systemischer Mangel kann vielmehr auch dann vorliegen, wenn nur eine geringe Anzahl von Asylbewerbern betroffen ist, soweit dies vorhersehbar und regelhaft geschieht.
28Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteile vom 18.03.2015 – A 11 S 2042/14 – und vom 10.11.2014 – A 11 S 1778/14 –, juris; Lübbe, a. a. O..
29Im Falle des Vorliegens systemischer Mängel ist es ferner erforderlich, dass der einzelne Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, hiervon im Falle einer Überstellung in den Zielstaat selbst betroffen zu sein. Bei flächendeckenden systemischen Mängeln bedarf dies keiner besonderen Darlegung. Bei systemischen Mängeln, die sich nur auf Teilgruppen oder vereinzelt auswirken, müssen weitere besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen bzw. geltend gemacht werden, die eine Betroffenheit des Einzelnen beachtlich wahrscheinlich machen.
30Vgl. Lübbe, a. a. O.
31Bei der Beurteilung der Situation in einem Mitgliedstaat und der für einen Asylbewerber dort bestehenden tatsächlichen Risiken im Falle einer Überstellung sind Stellungnahmen des UNHCR ebenso heranzuziehen wie regelmäßige und übereinstimmende Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen sowie sonstige Berichte der europäischen Institutionen, insbesondere der Kommission.
32Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011, a. a. O., sowie vom 30.05.2013 – C-528/11 –, juris.
33Für die Rechtsfrage einer Verletzung des Art. 3 EMRK hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) eine Orientierungs- und Leitfunktion.
34Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und nach Auswertung der aktuellen Auskunfts- und Erkenntnislage zu Ungarn steht es zur Überzeugung der Kammer fest, dass dem Kläger bei einer Überstellung nach Ungarn bereits aufgrund der dort bestehenden Inhaftierungspraxis die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.
35Asylsuchende unterliegen in Ungarn einem erheblichen Risiko, für einen längeren Zeitraum in Haft genommen zu werden. Dies gilt in besonderem Maße für den Personenkreis der nach der Dublin III-VO rücküberstellten Asylsuchenden, d. h. Personen, die bereits ein Asylverfahren in Ungarn durchgeführt hatten, das entweder noch nicht abgeschlossen oder mit negativem Ausgang beendet ist. Denn diese werden nach den Erkenntnissen des UNHCR
36vgl. Auskunft vom 30.09.2014 an das VG Bremen
37mit Ausnahme von Familien oder besonders vulnerablen Personen bei Rückkehr nach Ungarn stets in Haft genommen.
38Diese Inhaftierungspraxis begegnet bereits deshalb Bedenken, weil nach den UNHCR-Richtlinien zur Inhaftierung von Flüchtlingen und Asylsuchenden Asylsuchende grundsätzlich nicht in Haft genommen werden sollten und Haft immer nur das letzte Mittel darstellen darf. Da Asylsuchende meist bereits traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, kann sie nämlich eine Inhaftierung mit besonderer Härte treffen.
39Vgl. UNHCR vom 30.09.2014 an das VG Bremen unter Hinweis auf UNHCR, Detention Guidelines, 2012.
40Diesen Anforderungen wird die in dem seit dem 01.07.2013 geltenden ungarischen Asylgesetz geregelte Möglichkeit einer Inhaftierung von Asylbewerbern bis zu sechs Monaten schon deshalb nicht gerecht, weil die dort genannten Gründe für eine Asylhaft sehr weit und teilweise vage formuliert sind und auch die Anordnung der Haft durch die Verwaltungsbehörde nach der Auskunft des UNHCR nicht mit Gründen versehen wird. Die ungarischen Behörden scheinen dabei bei Dublin-Rückkehrern generell eine Fluchtgefahr anzunehmen,
41vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf.
42Ein solches Vorgehen, bei dem Dublin-Rückkehrer regelmäßig inhaftiert werden, wird den europarechtlichen Vorgaben nicht im Ansatz gerecht. Zwar sieht die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Aufenthaltsrichtlinie) in Art. 8 Abs. 2 die Möglichkeit der Inhaftierung von Asylbewerbern unter anderem bei Fluchtgefahr vor. Die Normen des europäischen Flüchtlingsrechts stehen aber einer generellen Inhaftierung von Gruppen von Asylbewerbern eindeutig entgegen, vgl. etwa § 8 Abs. 1, 2 und 4 der Aufenthaltsrichtlinie und Art. 28 Dublin III-VO. Das von diesen Normen statuierte Erfordernis einer Einzelfallprüfung und der strikten Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird in Ungarn nach allen der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnissen systematisch missachtet. Die flächendeckende Inhaftierung verstößt dabei nicht nur gegen das Verbot der unrechtmäßigen Inhaftierung des Art. 5 EMRK, sondern begründet angesichts der regelmäßig langen Dauer der Inhaftierung und der Umstände in der Haft die Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK in Verbindung mit Art. 4 GrCh.
43Denn es gibt gegen die Verhängung von Asylhaft keinen effektiven Rechtsschutz des Betroffenen. Alternativen zur Haft, wie etwa das Hinterlegen einer Kaution, werden kaum in Erwägung gezogen. In der Praxis führt dies dazu, dass die Gründe für eine Inhaftierung mangels individualisierter Begründung häufig nicht nachvollziehbar sind und willkürlich erscheinen.
44Vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf; Report des Kommissars für Menschenrechte des Europäischen Rates, Nils Muiznieks, vom 16.12.2014 über einen Besuch Ungarn im Juli 2014 (Muiznieks-Report), Rdnr. 155 f.
45Darüber hinaus ist die gerichtliche Überprüfung und Kontrolle von Haftgründen und Haftverlängerungen nach den vorliegenden Erkenntnissen völlig unzureichend. So verlängern die ungarischen Gerichte die Haftanordnungen aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung meist um die maximal mögliche Spanne von 60 Tagen. Dabei werden die Häftlinge dem Gericht in Gruppen vorgeführt, so dass für die Bearbeitung eines Einzelfalls meist weniger als drei Minuten zur Verfügung stehen.
46Vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf
47Dass bei dieser Verfahrensweise eine individuelle Prüfung von Haftgründen nicht möglich (und nach der herrschenden ungarischen Rechtsauffassung wohl auch gar nicht erforderlich) ist, liegt auf der Hand. Folge dieser Verfahrensweise ist es, dass die maximale Haftdauer in vielen Fällen voll ausgeschöpft wird.
48So PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
49Hinzu kommt, dass Asylsuchende nach den gesetzlichen Bestimmungen in Ungarn zwar Anspruch auf eine kostenlose Rechtsberatung haben, in der Praxis jedoch eine qualifizierte Beratung durch das staatliche Rechtshilfesystem aber nicht zur Verfügung steht. So ist in den Haftanstalten der Zugang zu einer Rechtsberatung praktisch nur über Vertragsanwälte des Hungarian Helsinki Committee (HHC) möglich, die die Einrichtungen einmal pro Woche besuchen, was zur Folge hat, dass nur eine Minderheit der inhaftierten Asylsuchenden Rechtsberatung erhält oder anwaltlich vertreten wird.
50Vgl. UNHCR vom 30.09.2014 und PRO ASYL vom 31.10.2014, beide an das VG Düsseldorf.
51Diese Bedingungen führen dazu, dass ein Asylhäftling weitgehend rechtsschutzlos gestellt ist und zu einem reinen Objekt des Verfahrens der Haftanordnung sowie deren Überprüfung und Verlängerung herabgewürdigt wird.
52Schließlich entsprechen auch die Haftbedingungen nach den vorliegenden Erkenntnisquellen nicht den Mindeststandards an eine menschenwürdige Unterbringung und Behandlung. So wird dort vielfach schlecht geschultes Wach- und Betreuungspersonal eingesetzt. Auch ist eine angemessene medizinische Betreuung nicht gewährleistet. Eine Betreuung durch Psychologen findet nicht statt. Zudem erfüllen einige Hafteinrichtungen nicht die hygienischen Mindeststandards. Hinzu kommen Berichte über Misshandlungen und Schikanen sowie Beschwerden über brutale Übergriffe.
53Vgl. UNHCR vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf und vom 30.09.2014 an das VG Bremen; PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
54Die systematisch angewendete Praxis, Asylhäftlinge angeleint und in Handschellen bei auswärtigen Terminen (etwa bei Behörden- oder Arztbesuchen) vorzuführen, stellt bereits für sich genommen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar. Die erkennende Kammer schließt sich hierbei in vollem Umfang der Bewertung des UNHCR
55vgl. Auskünfte vom 09.05. und 30.09.2014 an das VG Düsseldorf
56an. An dieser Einschätzung vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass eine derartige Behandlung bei Straftätern in Ungarn allgemein üblich ist. Denn abgesehen davon, dass es bereits fraglich erscheint, ob ein „Ausführen“ von Strafgefangenen an einer Leine – zusätzlich zu einer Sicherung durch Handschellen – noch mit den Regelungen der EMRK vereinbar ist, sind Asylsuchende keine Straftäter, so dass sich eine Gleichbehandlung bereits aus diesem Grund verbietet. Hierauf weist auch der UNHCR in seinen Detention Guidelines (a.a.O.) ausdrücklich hin. Danach sollen Asylsuchende in der Asylhaft mit Würde und entsprechend internationaler Standards behandelt werden. Insbesondere soll die Asylhaft keinen bestrafenden Charakter haben.
57Insgesamt lassen die vorstehend dargestellte Inhaftierungspraxis sowie die dabei herrschenden Haftbedingungen nach Überzeugung der Kammer nur den Schluss zu, dass das Asylverfahren bzw. die Aufnahmebedingungen in Ungarn jedenfalls im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung regelhaft derart defizitär sind, dass dem Kläger dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
58So unter Berücksichtigung der neueren Entwicklung im Ergebnis auch: VG Münster, Beschluss vom 07.07.2015 – 2 L 858/15.A –, VG Bremen, Beschluss vom 01.04.2015 – 3 V 145/15 –, VG München, Beschluss vom 20.02.2015 – M 24 S 15.50091 – und VG Berlin, Beschluss vom 15.01.2015 – 23 L 899.14 A – jeweils m. w. N., alle juris; a. A. u.a. VG Düsseldorf, Urteil vom 20.03.2015 – 13 K 501/14.A – (nicht rechtskräftig), VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 16.06.2015 – 7a L 1208/15.A –, BayVGH, Beschluss vom 12.06.2015 – 13a ZB 15.50097 – alle juris.
59Dieser Einschätzung steht nicht der Umstand entgegen, dass der UNHCR trotz seiner Kritik an der Inhaftierungspraxis Ungarns kein Positionspapier herausgegeben hat, in dem die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgefordert werden, von Überstellungen Asylsuchender nach Ungarn gemäß der Dublin-Verordnung abzusehen. Denn der UNHCR hat in seiner Stellungnahme vom 30.09.2014 an das VG Bremen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er derartige Empfehlungen bislang lediglich in Ausnahmekonstellationen ausgesprochen habe und aus der Tatsache des Fehlens einer Äußerung in einem UNHCR-Papier, ob bestimmte Mängel einer Überstellung in den betreffenden Staat entgegenstünden, nicht geschlossen werden könne, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehenden Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Dies sei deshalb der Fall, weil sich die betreffenden Papiere zumeist in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die betreffende Regierung richteten. Nach Auffassung des UNHCR ist es die Aufgabe der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat ausschließen.
60So UNHCR vom 30.09.2014 an das VG Bremen.
61Ebenso wenig gebietet der Umstand, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Urteil vom 03.07.2014 (Mohammadi / Österreich, Nr. 71932/12) entschieden hat, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung ein Asylsuchender nicht mehr einer tatsächlichen und persönlichen Gefahr unterliege, bei einer Überstellung nach Ungarn im Rahmen der Dublin-Verordnung einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die Art. 3 EMRK verletzen würde. Denn diese Einschätzung beruhte im Wesentlichen auf der Erwartung, dass die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in Ungarn zu einer positiven Entwicklung des ungarischen Asylsystems führen würden. Diese Erwartungen haben sich indessen – wie die oben dargelegten aktuellen Erkenntnisse zur Inhaftierungspraxis in Ungarn sowie den dort herrschenden Haftbedingungen für Asylbewerber zeigen – nicht erfüllt.
62Unabhängig von der menschenrechtswidrigen Inhaftierungspraxis Ungarns bestehen systemische Mängel in dem oben beschriebenen Sinn zur Überzeugung der Kammer aber auch aufgrund der Entwicklungen der jüngsten Zeit.
63Denn in der ersten Jahreshälfte 2015 sind nach Angaben der Regierung bis zu 72.000 Flüchtlinge nach Ungarn eingereist. Bis zum 14.07.2015 sollen es bis zu 78.000 Flüchtlinge gewesen sein,
64vgl. Pressemitteilung des ungarischen Minstry of Foreign Affairs and Trade vom 14.07.2015 „Steady migratory pressure necessitates border fence”
65Andere Quellen sprechen von 61.000 Flüchtlingen.
66So die Pressemitteilung des UNHCR vom 02.07.2015, „UNHCR urges Hungary not to amend its asylum system in a rush, ignoring international standards“.
67Die Aufnahmekapazitäten liegen bei maximal 2.500 Plätzen für Flüchtlinge. Bei einem Verhältnis von bis zu 29 Flüchtlingen im Halbjahr für einen Aufnahmeplatz ist für die Kammer schon im Ansatz nicht mehr erkennbar, wie hier eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge gewährleistet sein soll,
68vgl. zu einer ähnlichen Überlegung zu Italien bei einem zahlenmäßig noch deutlich günstigeren Verhältnis von ca. 35.000 Aufnahmeplätzen und 7.900 Flüchtlingen in den ersten zwei Monaten 2015 VG Düsseldorf, Urteil vom 20.05.2015 – 8 K 1694/15.A – juris Rz. 40 ff.
69Dies gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass zahlreiche Flüchtlinge, soweit sie nicht inhaftiert werden, untertauchen und in weitere EU-Länder weiterreisen. Denn angesichts der enorm hohen Zahl, die sich binnen weniger Jahre vervielfacht hat, sind die Aufnahmekapazitäten völlig unzureichend. Es ist ausgeschlossen, dass Unterkunft und Verpflegung in einem Mindestansprüchen genügenden Sinne vorgehalten werden, um die häufig traumatisierten Flüchtlinge ausreichend zu versorgen. Viele Flüchtlinge werden dementsprechend auf der Straße leben, wo sie einer feindseligen Umgebung und einer zunehmenden Anzahl an rassistischen Übergriffen ausgesetzt sind.
70Es bedarf vor diesem Hintergrund keiner abschließenden Entscheidung, ob durch die jüngst verabschiedeten Gesetzesänderungen weitere systemische Mängel im ungarischen Asylsystem vorliegen,
71vgl. UNHCR, UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste.
72Insbesondere die Gesetzesänderung, nach der ein Asylverfahren eingestellt werden kann, wenn Flüchtlinge für die Dauer von 48 Stunden nicht in der Aufnahmeeinrichtung, der sie zugewiesen worden sind, angetroffen werden, dürfte schon im Ansatz nicht mehr mit rechtstaatlichen Grundsätzen vereinbar sein. Dies gilt umso mehr, als die oben geschilderten chaotischen Zustände in den ungarischen Flüchtlingseinrichtungen eine solche Feststellung der Abwesenheit praktisch immer möglich machen werden.
73Ebenso wenig bedarf es einer Entscheidung, ob die Rücküberführung nach Ungarn derzeit faktisch überhaupt möglich ist. Nachdem die ungarische Regierung am 22.06.2015 angekündigt hatte, keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen, hat sie dies zwar schon am Folgetag revidiert. Weiterhin existieren jedoch Berichte, nach denen maximal zwölf Flüchtlinge täglich durch die ungarischen Behörden im Rahmen von Dublin-Rücküberstellungen aufgenommen werden. Bei mehreren Tausend Flüchtlingen, die allein Deutschland nach Ungarn zurücküberstellen möchte, ist sehr zweifelhaft, ob es im streitgegenständlichen Einzelfall überhaupt zu einer Rücküberstellung kommen wird.
74Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG.
Tenor
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 31.7.2015 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
T a t b e s t a n d
2Der am 00.0.0000 in Vate im Kosovo geborene Kläger ist kosovarischer Staatsangehöriger albanischer Volks- und muslimischer Religionszugehörigkeit. Er reiste im Februar 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der ihn am 15.2.2015 aufgreifenden Bundespolizei teilte er mit, Asyl beantragen zu wollen und einen Asylantrag in Ungarn, falls er einen gestellt habe, hiermit zurückziehen zu wollen. Er wolle in Deutschland arbeiten und mit dem verdienten Geld seine Familie im Kosovo unterstützen. Ihm hätten im Kosovo die Mandeln entnommen werden müssen, wozu ihm das Geld gefehlt habe. Gegenüber der Ausländerbehörde der Stadt Köln verneinte er am 17.2.2015, in Deutschland einen Asylantrag stellen zu wollen. Er gab weiter an, am 15.2.2015 aus seinem Heimatland ausgereist und über Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland gereist zu sein, weil er zu Hause aus wirtschaftlichen Gründen keine Lebensperspektive habe.
3Die EURODAC-Anfrage ergab einen Treffer für Ungarn. Daraufhin richtete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 27.2.2015 ein Wiederaufnahmegesuch unter Hinweis auf den dort am 8.2.2015 gestellten Asylantrag des Klägers an Ungarn. Am 12.3.2015 stimmte Ungarn der Rückführung des Klägers nach Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Dublin III-VO) zu.
4Mit Bescheid vom 31.7.2015 ordnete das Bundesamt die Abschiebung des Klägers nach Ungarn an. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, da Ungarn aufgrund des bereits dort gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.
5Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 12.8.2015 die vorliegende Klage erhoben, zu deren Begründung er vorträgt, das ungarische Asylverfahren leide an systemischen Mängeln.
6Der Kläger beantragt,
7den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 31.7.2015 aufzuheben.
8Die Beklagte beantragt,
9die Klage abzuweisen.
10Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid.
11Auf den gegen die Abschiebungsanordnung gerichteten Eilantrag des Klägers vom12.8.2015 hin hat der Einzelrichter im Verfahren 18 L 2015/15. A mit Beschluss vom 17.8.2015 die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage angeordnet.
12E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
13Der Einzelrichter entscheidet im Einverständnis der Beteiligten über die Klage ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO). Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig,
14vgl. OVG NRW, Urteil vom 7.3.2014 - 1 A 21/12.A -, juris,
15und auch begründet. Der angefochtene Bescheid ist im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG entscheidungserheblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat zu Unrecht auf der Grundlage des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung des Klägers nach Ungarn angeordnet. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a) an, wenn er dorthin abgeschoben werden soll, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.
16Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staats ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin III-VO).
17Danach bestand gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO eine Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des Asylantrags des Klägers, weil dieser zuvor dort einen Asylantrag gestellt hatte und die ungarischen Behörden einer Wiederaufnahme des Klägers zugestimmt hatten.
18Insoweit ist es unerheblich, dass der Kläger in Deutschland keinen Asylantrag gestellt hat. In einem solchen Fall ist Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO einschlägig. Danach kann ein Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich eine Person im Sinne des Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO ohne Aufenthaltstitel aufhält und bei dem kein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, die Person wieder aufzunehmen, wenn er der Auffassung ist, dass der andere Mitgliedstaat gemäß Art. 20 Abs. 5 und Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO zuständig ist.
19Die Voraussetzungen des Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO sind erfüllt. Denn der Kläger ist ein Antragsteller, der während der Prüfung seines Antrags im zuständigen Mitgliedstaat (hier: in Ungarn) sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (hier: in Deutschland) ohne Aufenthaltstitel aufhält.
20Gemäß Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO müssen die Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO (nach Auffassung des ersuchenden Mitgliedstaats, hier: Deutschlands) zusätzlich erfüllt sein, weil diese nach dem deutschen, englischen, französischen und niederländischen Wortlaut des Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO („und“/„and“/„et“/„en“) kumulativ und nicht lediglich alternativ aufgeführt sind. Dass diese Formulierung in Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO nicht lediglich sprachlich verunglückt ist, folgt aus dem Gegenschluss der nachfolgenden, die Buchstaben b, c, d des Art. 18 Dublin III-VO betreffenden Formulierung des Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO. Nach dem Wortlaut sämtlicher oben genannter Sprachen („oder“/„or“/„ou“/„of“) werden die Buchstaben b, c, d des Art. 18 Dublin III-VO in Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO nämlich eindeutig alternativ aufgeführt. Nach Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO ist der Mitgliedstaat, bei dem der erste Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde (hier: Ungarn), gehalten, einen Antragsteller, der sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (hier: in Deutschland) aufhält, nachdem er seinen ersten Antrag noch während des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zurückgezogen hat, nach den Bestimmungen der Art. 23, 24 und 29 Dublin III-VO wieder aufzunehmen, um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zum Abschluss zu bringen.
21Hier braucht indes nicht entschieden zu werden, ob die Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO erfüllt sind. Wenn die Erklärung des Klägers gegenüber der Bundespolizei in Rosenheim, den Asylantrag zurücknehmen zu wollen, auch gegenüber den ungarischen Behörden gelten sollte, sind die Voraussetzungen auch des Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO erfüllt. Das selbe könnte dann gelten, wenn das Verfahren in Ungarn deshalb als zurückgezogen gelten sollte, weil der Kläger Ungarn noch vor einer dortigen Asylentscheidung verlassen hat.
22Hat der Kläger dagegen den in Ungarn gestellten Asylantrag nicht zurückgezogen, gelten Art. 20 Abs. 5 und 24 Abs. 1 Dublin III-VO über ihren Wortlaut hinaus erst recht. Art. 20 Abs. 5 und 24 Abs. 1 Dublin III-VO gelten gerade dann, wenn eine Person in einem Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat und sodann in einen anderen Mitgliedstaat ausgereist ist, ohne dass er in dem anderen Mitgliedstaat einen weiteren Asylantrag gestellt und ohne dass er den im ersten Mitgliedstaat gestellten Asylantrag zurückgenommen hat. Denn die Art. 20 Abs. 5, 21, 23 und 24 Dublin III-VO sollen als umfassendes Gesamtsystem sicherstellen, dass der zuständige Mitgliedstaat einen in einen anderen Mitgliedstaat ausgereisten Antragsteller von diesem anderen Mitgliedstaat aufnimmt oder wieder aufnimmt, um das Verfahren des Antragstellers fortzusetzen bzw. zum Abschluss zu bringen.
23Dass das System der Dublin III-VO für jede Fallgestaltung gilt und deshalb grundsätzlich auch in einem Fall wie dem vorliegenden ein Mitgliedstaat die Übernahme eines Asylantragstellers durch einen anderen Mitgliedstaat verlangen kann, wird letztlich aus Art. 3 Abs. 2 Satz 3 Dublin III-VO deutlich. Danach wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat, wenn keine Überstellung an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden kann, etwa weil in allen oder auch nur einem dieser Mitgliedstaaten systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO bestehen. Folgt aus dieser Ausnahmeregelung des Art. 3 Abs. 2 Satz 3 Dublin III-VO, dass nach der Dublin III-VO auf jeden Fall ein Mitgliedstaat für die materielle Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, auch wenn der Antrag ausschließlich in einem anderen Mitgliedstaat gestellt worden ist, wird daran zum einen deutlich, dass innerhalb der Europäischen Union kein Asylantrag unbeschieden bleiben darf, und zum anderen, dass dieser Ausnahmeregelung eine Regel zugrundeliegt, wonach – vorbehaltlich der in Kapitel III Dublin III-VO genannten Kriterien – ein Mitgliedstaat, in dem eine Person zuerst einen Asylantrag gestellt hat, regelmäßig vor einem anderen Mitgliedstaat für die materielle Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist und demzufolge – vorbehaltlich der in Kapitel III Dublin III-VO genannten Kriterien – ein anderer Mitgliedstaat grundsätzlich von dem ersten Mitgliedstaat in jeder Fallgestaltung die Übernahme des Asylantragstellers verlangen kann.
24Nunmehr ist allerdings die Beklagte für die Entscheidung über das (ausschließlich in Ungarn gestellte) Asylbegehren des Klägers zuständig, weil die Auffangzuständigkeit des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO einschlägig ist. Denn einer Überstellung des Klägers nach Ungarn stehen systemische Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegen, und eine weitere Prüfung, ob ein dritter Mitgliedstaat zuständig ist, verspricht nach Ablauf der Fristen für die Stellung von Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen keinen Erfolg.
25Die Dublin III-VO beruht auf der Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der GFK und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens gilt daher grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Europäischen Grundrechtecharta (GrCh) sowie mit der GFK und der EMRK steht. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine unwiderlegbare Vermutung. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten nicht vereinbar ist. Zwar genügt nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat und nicht jeder geringste Verstoß gegen die Richtlinien, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Ist jedoch ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 GrCh implizieren, so ist die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. In solchen Situationen obliegt es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat" im Sinne der Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden.
26Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 - Rs C-411/10 und C-493/10 -, juris; EGMR, Urteil vom 21.1.2011 - 30696/09 - M.S.S. / Belgien und Griechenland - und Urteil vom 4.11.2014 - 29217/12 - Tarakhel / Italien -.
27Der Begriff des systemischen Mangels ist weit zu verstehen. Mit „Asylverfahren und Aufnahmebedingungen" ist der Gesamtkomplex des Asylsystems im Zielstaat gemeint. Dieses umfasst den Zugang zum Asylverfahren, das Asylverfahren selbst, die Behandlung während des Asylverfahrens, die Handhabung der Anerkennungsvoraussetzungen, das Rechtsschutzsystem und auch die in der GFK und der Qualifikationsrichtlinie geregelte Behandlung nach der Anerkennung.
28Vgl. Lübbe. „Systemische Mängel" in Dublin-Verfahren, ZAR 2014, 105 ff.; Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182 ff.
29Systemische Mängel im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des EuGH sind dabei nicht auf flächendeckende gravierende Systemausfälle (wie etwa für Griechenland festgestellt) beschränkt, sondern erfassen generell solche, die im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und deshalb den Einzelnen vorhersehbar und regelhaft treffen. Auch tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem - aus welchen Gründen auch immer - faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weit gehend unwirksam wird, können einen systemischen Mangel darstellen. Nicht systemisch ist demgegenüber ein Mangel dann, wenn es lediglich in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK kommt.
30Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19.3.2014 - 10 B 6.14 - und vom 6.6.2014 - 10 B 35.14 -, juris.
31Nicht erforderlich ist, dass sich der systemische Mangel bzw. die strukturelle - systemische - Schwachstelle auf eine unüberschaubare Vielzahl, die Mehrheit aller Asylbewerber oder gar auf alle Asylbewerber auswirkt. Ein systemischer Mangel kann vielmehr auch dann vorliegen, wenn nur eine geringe Anzahl von Asylbewerbern betroffen ist, soweit dies vorhersehbar und regelhaft geschieht.
32Vgl. VGH BW, Urteile vom 18.3.2015 - A 11 S 2042/14 - und vom 10.11.2014 - A 11 S 1778/14 -; Lübbe, a. a. O.
33Im Falle des Vorliegens systemischer Mängel ist es ferner erforderlich, dass der einzelne Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, hiervon im Falle einer Überstellung in den Zielstaat selbst betroffen zu sein. Bei flächendeckenden systemischen Mängeln bedarf dies keiner besonderen Darlegung. Bei systemischen Mängeln, die sich nur auf Teilgruppen oder vereinzelt auswirken, müssen weitere besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen bzw. geltend gemacht werden, die eine Betroffenheit des Einzelnen beachtlich wahrscheinlich machen.
34Vgl. Lübbe, a. a. O.
35Bei der Beurteilung der Situation in einem Mitgliedstaat und der für einen Asylbewerber dort bestehenden tatsächlichen Risiken im Falle einer Überstellung sind Stellungnahmen des UNHCR ebenso heranzuziehen wie regelmäßige und übereinstimmende Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen sowie sonstige Berichte der europäischen Institutionen, insbesondere der Kommission.
36Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011, a. a. O., sowie vom 30.5.2013 - C-528/11 -, juris.
37Für die Rechtsfrage einer Verletzung des Art. 3 EMRK hat die Rechtsprechung des EGMR eine Orientierungs- und Leitfunktion.
38Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und nach Auswertung der aktuellen Auskunfts- und Erkenntnislage zu Ungarn steht es zur Überzeugung der Kammer fest, dass dem Kläger bei einer Überstellung nach Ungarn bereits aufgrund der dort bestehenden Inhaftierungspraxis die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Diesbezüglich schließt sich die Kammer der Rechtsprechung der
393. Kammer des VG Köln, Urteil vom 15.7.2015 - 3 K 2005/15.A -, NRWE,
40an sowie deren Begründung, die nachfolgend wiedergegeben wird.
41Asylsuchende unterliegen in Ungarn einem erheblichen Risiko, für einen längeren Zeitraum in Haft genommen zu werden. Dies gilt in besonderem Maße für den Personenkreis der nach der Dublin III-VO rücküberstellten Asylsuchenden, d. h. Personen, die bereits ein Asylverfahren in Ungarn durchgeführt hatten, das entweder noch nicht abgeschlossen oder mit negativem Ausgang beendet ist. Denn diese werden nach den Erkenntnissen des UNHCR
42vgl. Auskunft vom 30.9.2014 an das VG Bremen,
43mit Ausnahme von Familien oder besonders vulnerablen Personen bei Rückkehr nach Ungarn stets in Haft genommen. Diese Inhaftierungspraxis begegnet bereits deshalb Bedenken, weil nach den UNHCR-Richtlinien zur Inhaftierung von Flüchtlingen und Asylsuchenden Asylsuchende grundsätzlich nicht in Haft genommen werden sollten und Haft immer nur das letzte Mittel darstellen darf. Da Asylsuchende meist bereits traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, kann sie nämlich eine Inhaftierung mit besonderer Härte treffen.
44Vgl. UNHCR vom 30.9.2014 an das VG Bremen unter Hinweis auf UNHCR, Detention Guidelines, 2012.
45Diesen Anforderungen wird die in dem seit dem 1.7.2013 geltenden ungarischen Asylgesetz geregelte Möglichkeit einer Inhaftierung von Asylbewerbern bis zu sechs Monaten schon deshalb nicht gerecht, weil die dort genannten Gründe für eine Asylhaft sehr weit und teilweise vage formuliert sind und auch die Anordnung der Haft durch die Verwaltungsbehörde nach der Auskunft des UNHCR nicht mit Gründen versehen wird. Die ungarischen Behörden scheinen dabei bei Dublin-Rückkehrern generell eine Fluchtgefahr anzunehmen.
46UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf.
47Ein solches Vorgehen, bei dem Dublin-Rückkehrer regelmäßig inhaftiert werden, wird den europarechtlichen Vorgaben nicht im Ansatz gerecht. Zwar sieht die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 (Aufenthaltsrichtlinie) in Art. 8 Abs. 2 die Möglichkeit der Inhaftierung von Asylbewerbern unter anderem bei Fluchtgefahr vor. Die Normen des europäischen Flüchtlingsrechts stehen aber einer generellen Inhaftierung von Gruppen von Asylbewerbern eindeutig entgegen, vgl. etwa § 8 Abs. 1, 2 und 4 der Aufenthaltsrichtlinie und Art. 28 Dublin III-VO. Das von diesen Normen statuierte Erfordernis einer Einzelfallprüfung und der strikten Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird in Ungarn nach allen der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnissen systematisch missachtet. Die flächendeckende Inhaftierung verstößt dabei nicht nur gegen das Verbot der unrechtmäßigen Inhaftierung des Art. 5 EMRK, sondern begründet angesichts der regelmäßig langen Dauer der Inhaftierung und der Umstände in der Haft die Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK in Verbindung mit Art. 4 GrCh. Denn es gibt gegen die Verhängung von Asylhaft keinen effektiven Rechtsschutz des Betroffenen. Alternativen zur Haft, wie etwa das Hinterlegen einer Kaution, werden kaum in Erwägung gezogen. In der Praxis führt dies dazu, dass die Gründe für eine Inhaftierung mangels individualisierter Begründung häufig nicht nachvollziehbar sind und willkürlich erscheinen.
48UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf; Report des Kommissars für Menschenrechte des Europäischen Rates, Nils Muiznieks, vom 16.12.2014 über einen Besuch Ungarn im Juli 2014 (Muiznieks-Report), Rdnr. 155 f.
49Darüber hinaus ist die gerichtliche Überprüfung und Kontrolle von Haftgründen und Haftverlängerungen nach den vorliegenden Erkenntnissen völlig unzureichend. So verlängern die ungarischen Gerichte die Haftanordnungen aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung meist um die maximal mögliche Spanne von 60 Tagen. Dabei werden die Häftlinge dem Gericht in Gruppen vorgeführt, so dass für die Bearbeitung eines Einzelfalls meist weniger als drei Minuten zur Verfügung stehen.
50UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf.
51Dass bei dieser Verfahrensweise eine individuelle Prüfung von Haftgründen nicht möglich (und nach der herrschenden ungarischen Rechtsauffassung wohl auch gar nicht erforderlich) ist, liegt auf der Hand. Folge dieser Verfahrensweise ist es, dass die maximale Haftdauer in vielen Fällen voll ausgeschöpft wird.
52So PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
53Hinzu kommt, dass Asylsuchende nach den gesetzlichen Bestimmungen in Ungarn zwar Anspruch auf eine kostenlose Rechtsberatung haben, in der Praxis jedoch eine qualifizierte Beratung durch das staatliche Rechtshilfesystem aber nicht zur Verfügung steht. So ist in den Haftanstalten der Zugang zu einer Rechtsberatung praktisch nur über Vertragsanwälte des Hungarian Helsinki Committee (HHC) möglich, die die Einrichtungen einmal pro Woche besuchen, was zur Folge hat, dass nur eine Minderheit der inhaftierten Asylsuchenden Rechtsberatung erhält oder anwaltlich vertreten wird.
54UNHCR vom 30.9.2014 und PRO ASYL vom 31.10.2014, beide an das VG Düsseldorf.
55Diese Bedingungen führen dazu, dass ein Asylhäftling weit gehend rechtsschutzlos gestellt ist und zu einem reinen Objekt des Verfahrens der Haftanordnung sowie deren Überprüfung und Verlängerung herabgewürdigt wird.
56Schließlich entsprechen auch die Haftbedingungen nach den vorliegenden Erkenntnisquellen nicht den Mindeststandards an eine menschenwürdige Unterbringung und Behandlung. So wird dort vielfach schlecht geschultes Wach- und Betreuungspersonal eingesetzt. Auch ist eine angemessene medizinische Betreuung nicht gewährleistet. Eine Betreuung durch Psychologen findet nicht statt. Zudem erfüllen einige Hafteinrichtungen nicht die hygienischen Mindeststandards. Hinzu kommen Berichte über Misshandlungen und Schikanen sowie Beschwerden über brutale Übergriffe.
57UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf und vom 30.9.2014 an das VG Bremen; PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
58Die systematisch angewendete Praxis, Asylhäftlinge angeleint und in Handschellen bei auswärtigen Terminen (etwa bei Behörden- oder Arztbesuchen) vorzuführen, stellt bereits für sich genommen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar. Die erkennende Kammer schließt sich hierbei in vollem Umfang der Bewertung des UNHCR
59vgl. Auskünfte vom 9.5. und 30.9.2014 an das VG Düsseldorf,
60an. An dieser Einschätzung vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass eine derartige Behandlung bei Straftätern in Ungarn allgemein üblich ist. Denn abgesehen davon, dass es bereits fraglich erscheint, ob ein „Ausführen" von Strafgefangenen an einer Leine - zusätzlich zu einer Sicherung durch Handschellen - noch mit den Regelungen der EMRK vereinbar ist, sind Asylsuchende keine Straftäter, so dass sich eine Gleichbehandlung bereits aus diesem Grund verbietet. Hierauf weist auch der UNHCR in seinen
61Detention Guidelines a. a. O.,
62ausdrücklich hin. Danach sollen Asylsuchende in der Asylhaft mit Würde und entsprechend internationaler Standards behandelt werden. Insbesondere soll die Asylhaft keinen bestrafenden Charakter haben.
63Insgesamt lassen die vorstehend dargestellte Inhaftierungspraxis sowie die dabei herrschenden Haftbedingungen nach Überzeugung der Kammer nur den Schluss zu, dass das Asylverfahren bzw. die Aufnahmebedingungen in Ungarn jedenfalls im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung regelhaft derart defizitär sind, dass dem Kläger dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
64So unter Berücksichtigung der neueren Entwicklung im Ergebnis auch: VG Münster, Beschluss vom 7.7.2015 - 2 L 858/15.A -; VG Bremen, Beschluss vom 1.4.2015 - 3 V 145/15 -; VG München, Beschluss vom 20.2.2015 - M 24 S 15.50091 - und VG Berlin, Beschluss vom 15.1.2015 - 23 L 899.14 A - jeweils m. w. N. (alle juris); a. A. u.a. VG Düsseldorf, Urteil vom 20.3.2015 - 13 K 501/14.A; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 16.6.2015 - 7a L 1208/15.A -; BayVGH, Beschluss vom 12.6.2015 - 13a ZB 15.50097 - (alle juris).
65Dieser Einschätzung steht nicht der Umstand entgegen, dass der UNHCR trotz seiner Kritik an der Inhaftierungspraxis Ungarns kein Positionspapier herausgegeben hat, in dem die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgefordert werden, von Überstellungen Asylsuchender nach Ungarn gemäß der Dublin-Verordnung abzusehen. Denn der UNHCR hat in seiner
66Stellungnahme vom 30.9.2014 an das VG Bremen
67ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er derartige Empfehlungen bislang lediglich in Ausnahmekonstellationen ausgesprochen habe und aus der Tatsache des Fehlens einer Äußerung in einem UNHCR-Papier, ob bestimmte Mängel einer Überstellung in den betreffenden Staat entgegenstünden, nicht geschlossen werden könne, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehenden Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Dies sei deshalb der Fall, weil sich die betreffenden Papiere zumeist in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die betreffende Regierung richteten. Nach Auffassung des UNHCR ist es die Aufgabe der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat ausschließen.
68UNHCR vom 30.9.2014 an das VG Bremen.
69Ebenso wenig gebietet der Umstand, dass der EGMR mit
70Urteil vom 3.7.2014 (Mohammadi / Österreich, Nr. 71932/12)
71entschieden hat, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung ein Asylsuchender nicht mehr einer tatsächlichen und persönlichen Gefahr unterliege, bei einer Überstellung nach Ungarn im Rahmen der Dublin-Verordnung einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die Art. 3 EMRK verletzen würde. Denn diese Einschätzung beruhte im Wesentlichen auf der Erwartung, dass die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in Ungarn zu einer positiven Entwicklung des ungarischen Asylsystems führen würden. Diese Erwartungen haben sich indessen - wie die oben dargelegten aktuellen Erkenntnisse zur Inhaftierungspraxis in Ungarn sowie den dort herrschenden Haftbedingungen für Asylbewerber zeigen - nicht erfüllt.
72Unabhängig von der menschenrechtswidrigen Inhaftierungspraxis Ungarns bestehen systemische Mängel in dem oben beschriebenen Sinn zur Überzeugung der Kammer aber auch aufgrund der Entwicklungen der jüngsten Zeit. Denn in der ersten Jahreshälfte 2015 sind nach Angaben der Regierung bis zu 72000 Flüchtlinge nach Ungarn eingereist. Bis zum 14.7.2015 sollen es bis zu 78000 Flüchtlinge gewesen sein.
73Vgl. Pressemitteilung des ungarischen Ministry of Foreign Affairs and Trade vom 14.07.2015 „Steady migratory pressure necessitates border fence".
74Andere Quellen sprechen von 61000 Flüchtlingen.
75So die Pressemitteilung des UNHCR vom 2.7.2015, „UNHCR urges Hungary not to amend its asylum system in a rush, ignoring international standards".
76Die Aufnahmekapazitäten liegen bei maximal 2500 Plätzen für Flüchtlinge. Bei einem Verhältnis von bis zu 29 Flüchtlingen im Halbjahr für einen Aufnahmeplatz ist für die Kammer schon im Ansatz nicht mehr erkennbar, wie hier eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge gewährleistet sein soll.
77Vgl. zu einer ähnlichen Überlegung zu Italien bei einem zahlenmäßig noch deutlich günstigeren Verhältnis von ca. 35000 Aufnahmeplätzen und 7900 Flüchtlingen in den ersten zwei Monaten 2015 VG Düsseldorf, Urteil vom 20.5.2015 - 8 K 1694/15.A -, juris Rz. 40 ff.
78Dies gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass zahlreiche Flüchtlinge, soweit sie nicht inhaftiert werden, untertauchen und in weitere EU-Länder weiterreisen. Denn angesichts der enorm hohen Zahl, die sich binnen weniger Jahre vervielfacht hat, sind die Aufnahmekapazitäten völlig unzureichend. Es ist ausgeschlossen, dass Unterkunft und Verpflegung in einem Mindestansprüchen genügenden Sinne vorgehalten werden, um die häufig traumatisierten Flüchtlinge ausreichend zu versorgen. Viele Flüchtlinge werden dementsprechend auf der Straße leben, wo sie einer feindseligen Umgebung und einer zunehmenden Anzahl an rassistischen Übergriffen ausgesetzt sind.
79Dass das ungarische Asylsystem an systemischen Mängeln leidet, wird bestätigt durch die hinter den Missständen stehende Absicht der ungarischen Behörden. Deren Einstellung wird nicht nur durch das Fehlen zielgerichteter Maßnahmen zur Beseitigung des derzeit in Ungarn, vor allem an Budapester Bahnhöfen und an anderen ungarischen Orten herrschenden Flüchtlingschaos erkennbar, sondern zusätzlich durch die jüngsten Äußerungen des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán gegenüber Organen der Europäischen Union, wonach bestimmte Flüchtlingsgruppen kein Problem Ungarns darstellten und das Land von vornherein Flüchtlinge gewisser Herkunftsländer wegen deren nichtchristlicher Religionszugehörigkeit nicht aufzunehmen gewillt sei.
80Tagesschau.de vom 4.9.2015: „Zug steht still – Orbán als `Schande´ kritisiert“; DIE WELT, Internetauftritt vom 3.9.2015: „Ungarn voller Angst, Europäer voller Angst“; ZEIT ONLINE vom 3.9.2015: „Orbán nennt Flüchtlingskrise `ein deutsches Problem´“.
81Unabhängig von diesen Gründen bestehen nach Auffassung der Kammer auch aus einem weiteren Grund in Ungarn systemische Mängel des Asylverfahrens, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Kläger tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden. Diese betreffen sämtliche Asylbewerber, die auf dem Landweg über die so genannte Balkan-Route nach Ungarn gelangen. Das erfolgt ausschließlich über Serbien. Über 99 % aller Asylsuchenden gelangen über die serbisch-ungarische Grenze nach Ungarn.
82FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“; PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“.
83Das war nach seinen Angaben auch beim Kläger der Fall. Seit Jahresbeginn wurden knapp 100000 Migranten registriert, von denen praktisch alle in wohlhabendere Länder der EU weiterreisen wollen.
84FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“.
85Zum 1.8.2015 ist ein ungarisches Gesetz in Kraft getreten, das u.a. Serbien zum sicheren Drittstaat erklärt. Diese Änderung des Asylgesetzes ermöglicht voraussichtlich ab dem 15.9.2015,
86Pester Lloyd, Internetauftritt vom 2.9.2015: „Internierung, Kriminalisierung, Willkür: Was bedeutet Ungarns neues Grenzregime?“,
87die Ablehnung von Asylanträgen als unzulässig mit der Folge, dass in Ungarn die Anträge solcher Asylsuchender im Normalfall nicht mehr materiell geprüft werden und eine sofortige Abschiebung nach Serbien droht.
88DIE WELT, Internetauftritt vom 3.9.2015: „500 Flüchtlinge verweigern Fahrt in ungarisches Aufnahmelager“; Pester Lloyd, Internetauftritt vom 2.9.2015: „Internierung, Kriminalisierung, Willkür: Was bedeutet Ungarns neues Grenzregime?“; PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“; PRO ASYL, Internetauftritte vom 21.7.2015: „Mit Zelten in die Pampa: Ungarns Umgang mit Flüchtlingen“ und vom 7.7.2015: „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“; SPIEGEL ONLINE vom 6.7.2015: „Überlastetes Asylsystem: Ungarn verschärft Gesetz zur Aufnahme von Flüchtlingen“; Pester Lloyd, Internetauftritte vom 6.7.2015: „Gesetzesflut im ungarischen Parlament: Quasi-Aufhebung des Rechtes auf Asyl ...“ und vom 1.7.2015: „Regierungstreffen Serbien-Ungarn und neue Tiefpunkte der Flüchtlingspolitik“; Amnesty International: Europe´s Borderlands – Violations against Refugees and Migrants in Macedonia, Serbia and Hungary, Juli 2015, S. 61; ZEIT ONLINE vom 17.6.2015: „Ungarn will Flüchtlinge mit Grenzzaun aufhalten“; n-tv, Internetauftritt vom 17.6.2015: „Zaun gegen Migranten – Ungarn macht Grenze zu Serbien dicht“; Süddeutsche Zeitung, Internetauftritt vom 17.6.2015: „Ungarn will Flüchtlinge mit Vier-Meter-Zaun abhalten“.
89Von 2010 bis 2012 hatte Ungarn bereits Flüchtlinge völkerrechtswidrig nach Serbien abgeschoben, was zu scharfer Kritik der EU-Kommission geführt hatte.
90PRO ASYL, Internetauftritt vom 7.7.2015: „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“.
91Die Republik Serbien hat jedoch angekündigt, sie sei nicht gewillt, zigtausenden Flüchtlingen, die nicht weiterkämen, wochen- oder monatelang Unterkunft zu gewähren, weil das die Ressourcen des Landes nicht hergäben. Man werde auch keine Flüchtlingslager bauen.
92Pester Lloyd, Internetauftritt vom 21.8.2015.
93Serbien hat auch kein funktionierendes Asylsystem.
94Vgl. die Einzelheiten in: Amnesty International a. a. O., S. 35 - 45.
95Menschenrechtsorganisationen haben das Fehlen eines funktionierenden Schutzsystems in Serbien immer wieder kritisiert.
96PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“.
97Im April 2008 trat Serbiens Asylgesetz in Kraft.
98PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Amnesty International a. a. O., S. 36.
99Seither ist die Zahl der registrierten Asylsuchenden – also ohne diejenigen Personen, die Serbien lediglich „durchqueren“, ohne registriert zu werden – exponentiell gestiegen. Betrug sie im Jahr 2008 nur 77, im Jahr 2009 erst 275 und im Jahr 2010 noch 522, stieg sie im Jahr 2011 auf 3132 an, sank im Jahr 2012 etwas auf 2723, um im Jahr 2013 auf 5066 und im Jahr 2014 auf 16490 Personen anzuschwellen.
100Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Serbien (Stand: November 2014) vom 15.12.2014 (Lagebericht Serbien), S. 13; Amnesty International a. a. O., S. 36.
101Die Anerkennungsrate von Asylsuchenden als Flüchtlinge in Serbien ist äußerst gering.
102AA, Lagebericht Serbien, S. 13.
103Bis Ende 2014 wurden lediglich sechs Personen als Flüchtlinge anerkannt, zwölf erhielten einen subsidiären Schutzstatus. Bis Ende Mai 2015 wurde weiteren vier Flüchtlingen Asyl gewährt.
104PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Amnesty International a. a. O., S. 36.
105Die serbische Anerkennungsquote ist auch unter Herausrechnen der Personen, die letztlich keinen Asylantrag stellen oder ein laufendes Verfahren nicht abwarten und weiterreisen, gering. Denn im Jahr 2011 erhielt keiner der 3134 registrierten Antragsteller Asyl, im Jahr 2012 erhielten von 2723 Antragstellern lediglich drei Personen subsidiären internationalen Schutz, und im Jahr 2013 wurden bei insgesamt 5066 Antragstellern von 193 in den Blick genommenen Anträgen vier bestätigt, 13 verworfen oder abgewiesen und 176 nicht fortgeführt. Obwohl geschätzt wird, dass von den 16490 Personen, die im Jahr 2014 angaben, Asyl beantragen zu wollen, nur die Hälfte auch tatsächlich einen Antrag auf Asyl in Serbien gestellt hat, wurden nur 1350 Asylsuchende tatsächlich registriert, und von 388 eingereichten Anträgen wurden 307 nicht fortgesetzt, weil der jeweilige Antragsteller während des Verfahrens untertauchte. Die Asylbehörde befragte im Jahr 2014 17 von 18 Antragstellern, gab sechs Anträgen statt, wobei einer Person der Flüchtlingsstatus und fünf Personen subsidiärer Schutz gewährt wurde, wohingegen zwölf Anträge abgelehnt wurden und vier Anträge aus dem Jahr 2014 im Jahr 2015 noch in Bearbeitung waren. Obwohl die Flüchtlinge viele Gründe dafür hatten, weiterzureisen, anstatt in Serbien um Asyl nachzusuchen oder ein Asylverfahren abzuwarten, scheinen Unzulänglichkeiten im serbischen Asylsystem eine Rolle für solche Entscheidungen zu spielen.
106Amnesty International a. a. O., S. 36 f.
107Aus dem Kreis der registrierten potentiellen Asylbewerber hat deshalb nur ein kleiner Teil tatsächlich einen Asylantrag gestellt, weil der Prozess dafür in Serbien sehr komplex ist.
108AA, Lagebericht Serbien, S. 13.
109Asylbewerbern Rechtshilfe leistende Nichtregierungsorganisationen meinen, dass die serbische Politik der sicheren Herkunftsländer in großem Umfang fortgeführt wird. So wurden beispielsweise von 17 von der Asylbehörde im Jahr 2014 entschiedenen Fällen sieben in der Zeit von Januar bis April berücksichtigte Anträge zurückgewiesen, weil der jeweilige Asylbewerber aus einem sicheren Drittstaat nach Serbien gekommen war. Diesen Asylbewerbern wurde weder Asyl noch irgend eine andere Form von Schutz gewährt. Die Mehrheit der Berufungen wird üblicherweise ohne Rücksicht auf ihre Gründe abgewiesen. Das schließt Berufungen gegen erstinstanzliche Entscheidungen ein, die auf dem Konzept der sicheren Drittstaaten beruhen. Eine Begründung für die Zurückweisung der Berufung wird selten gegeben.
110Amnesty International a. a. O., S. 41 f.
111Zahlreichen Schutzsuchenden droht in Serbien die Zurückschiebung nach Mazedonien oder Griechenland.
112PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Pester Lloyd, Internetauftritt vom 1.7.2015: „Regierungstreffen Serbien-Ungarn und neue Tiefpunkte der Flüchtlingspolitik“.
113Im Jahr 2012 hatte der UNHCR die Republik Serbien beschuldigt, Massenabschiebungen von Flüchtlingen und Migranten nach Mazedonien durchzuführen. Der UNHCR hatte ferner vorgetragen, dass in einigen Fällen Flüchtlinge und Migranten, die von Ungarn nach Serbien abgeschoben worden waren, informell anstatt nach den Regeln des zwischen Serbien und Mazedonien abgeschlossenen Wiederaufnahmeabkommens nach Mazedonien verbracht worden waren. Im Mai 2015 äußerte das Committee against Torture (CAT) Befürchtungen hinsichtlich des erhöhten Risikos eines refoulement für Personen, die durch die serbischen Behörden nach Mazedonien verbracht worden sind.
114Amnesty International a. a. O., S. 33 f.
115Die ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien hat ebenfalls kein effektives Asylsystem, vielmehr besteht dort die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen und eines refoulement durch Abschiebungen nach Griechenland.
116Amnesty International a. a. O., S. 40 f.
117Der ohnehin schwache Rechtsstaat wird derzeit durch die autoritäre Politik der größten Regierungspartei erheblich in Frage gestellt.
118AA: Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien (Stand: August 2015) vom 12.8.2015, S. 4.
119Griechenland weist seinerseits systemische Mängel im Sinne der Rechtsprechung des EuGH auf.
120Abgesehen davon verstößt die Gefahr von Kettenabschiebungen gegen das Prinzip des non-refoulement und damit gegen Art. 18 GrCh in Verbindung mit Art. 33 Abs. 1 GFK, zumal gerade hier die Gefahr besteht, dass der Kläger von Serbien aus in seinen Herkunftsstaat, den Kosovo, abgeschoben wird, ohne dass zuvor sein Schutzgesuch geprüft worden ist. Insoweit ist es dem Gericht rechtlich auch verwehrt, die Erfolgsaussichten des Asylantrags des Klägers auf der Grundlage seiner bisherigen Angaben materiellrechtlich zu prüfen, weil es aus den eingangs dargelegten Gründen auch nicht „durchentscheiden“ darf.
121Es bedarf vor diesem Hintergrund keiner abschließenden Entscheidung, ob durch die jüngst verabschiedeten Gesetzesänderungen weitere systemische Mängel im ungarischen Asylsystem vorliegen.
122Vgl. UNHCR, UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste.
123Insbesondere die Gesetzesänderung, nach der ein Asylverfahren eingestellt werden kann, wenn Flüchtlinge für die Dauer von 48 Stunden nicht in der Aufnahmeeinrichtung, der sie zugewiesen worden sind, angetroffen werden, dürfte schon im Ansatz nicht mehr mit rechtstaatlichen Grundsätzen vereinbar sein. Dies gilt umso mehr, als die oben geschilderten chaotischen Zustände in den ungarischen Flüchtlingseinrichtungen eine solche Feststellung der Abwesenheit praktisch immer möglich machen werden.
124Unterbleiben kann ferner die rechtliche Einordnung der beabsichtigten Schaffung der Möglichkeit, die ungarische Armee an der Grenze einzusetzen.
125Pester Lloyd, Internetauftritt vom 1.9.2015: „Ungarn bereitet Militäreinsatz gegen Flüchtlinge vor: Opposition will Orbán vor Internationalen Strafgerichtshof bringen“.
126Ebenso wenig bedarf es einer Entscheidung, ob die Rücküberführung nach Ungarn derzeit faktisch überhaupt möglich ist. Nachdem die ungarische Regierung am 22.6.2015 angekündigt hatte, keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen, hat sie dies zwar schon am Folgetag revidiert. Weiterhin existieren jedoch Berichte, nach denen maximal zwölf Flüchtlinge täglich durch die ungarischen Behörden im Rahmen von Dublin-Rücküberstellungen aufgenommen werden. Bei mehreren Tausend Flüchtlingen, die allein Deutschland nach Ungarn zurücküberstellen möchte, ist sehr zweifelhaft, ob es im streitgegenständlichen Einzelfall überhaupt zu einer Rücküberstellung kommen wird.
127Dieser letztgenannte Umstand ist jedoch ein weiterer Grund dafür, dass die – hier allein streitbefangene – Anordnung, den Kläger nach Ungarn abzuschieben, rechtswidrig ist. Insoweit liegen die Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 AsylVfG nicht (mehr) vor. Nach dieser Norm ordnet das Bundesamt ohne vorherige Anordnung und Fristsetzung die Abschiebung eines Ausländers in den für das Asylverfahren zuständigen Staat an, „sobald feststeht“, dass sie durchgeführt werden kann. Der Gesetzgeber wollte mit § 34a Abs. 1 AsylVfG die Möglichkeit schaffen, für eine in der Regel nur kurzfristig durchgeführte durchführbare Rückführung ein verkürztes Verfahren zu schaffen. Die Abschiebungsanordnung ist deshalb nicht quasi auf Vorrat zulässig, sondern erst dann, wenn das Übernahmeverfahren positiv abgeschlossen ist, weil der andere Staat seine Übernahmebereitschaft auf die vorhergesehene Art und Weise verbindlich erklärt hat und die näheren Umstände der Überstellung wenigstens dem Grundsatz nach geklärt sind, etwa wenn zwischen dem jeweiligen Staat und der Bundesrepublik Deutschland ein funktionierendes, routiniertes und eingespieltes Übernahmeverfahren praktiziert wird, das die zuverlässige Prognose zulässt, die Übernahme werde in naher Zukunft abgeschlossen werden können. Das Bundesamt hat vor Erlass der Abschiebungsanordnung der Frage nachzugehen, ob der ersuchte Mitgliedstaat tatsächlich zur (Wieder-) Aufnahme bereit ist. Zudem ist – solange die Abschiebung eines Ausländers aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist – auch ein Vollzugshindernis im Sinne des § 60a AufenthG gegeben und hindert den Erlass einer Abschiebungsanordnung. Die tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung ist dann anzunehmen, wenn für einen vorausschaubaren Zeitraum die Abschiebung ausgeschlossen ist und erst recht, wenn die Abschiebungsmöglichkeit zeitlich völlig ungewiss ist. Unter Berücksichtigung der Auskünfte des Bundesamts gegenüber dem VG Oldenburg kann derzeit eine hinreichend zuverlässige Prognose, die Übernahme des Klägers durch Ungarn werde in naher Zukunft abgeschlossen sein, nicht erstellt werden. Ob und in welchem Umfang der ungarische Staat Asylsuchende im Rahmen des Überstellungsverfahrens aufnehmen wird, muss als offen angesehen werden. Auch die Zahlen, die das Bundesamt zu den im ersten Quartal 2015 aus Deutschland durchgeführten Überstellungen vorgelegt hat, wecken Bedenken daran, dass zwischen Ungarn und Deutschland ein funktionierendes, routiniertes und eingespieltes Übernahmeverfahren besteht. Zwar hat Ungarn in 2300 Fällen den Übernahmeersuchen der Bundesrepublik Deutschland formal entsprochen, tatsächliche Überstellungen erfolgten jedoch nur in einem Umfang von ca. 1,4 %. Die offensichtlichen Probleme beim Vollzug der in der Dublin III-Verordnung normierten Regelungen zur Aufnahme bzw. Wiederaufnahme von Asylsuchenden und der Überstellung sind keine bloße zeitliche Verzögerung aufgrund administrativer Vorkehrungen für eine an sich bereits dem Grunde nach ins Auge gefasste Abschiebung.
128Vgl. zu diesen Aspekten, Zahlen und weiteren Nachweisen: VG Oldenburg, Urteil vom 19.6.2015 - 13 A 1294/15 -.
129Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG.
(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.
(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.
(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
Tenor
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14.10.2013 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des - gerichtskostenfreien - Verfahrens.
Tatbestand
| |||
| |||
| |||
| |||
| |||
| |||
| |||
| |||
| |||
| |||
| |||
|
Entscheidungsgründe
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
|
Gründe
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
| ||||
|
Tenor
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 31.7.2015 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
1
T a t b e s t a n d
2Der am 00.0.0000 in Vate im Kosovo geborene Kläger ist kosovarischer Staatsangehöriger albanischer Volks- und muslimischer Religionszugehörigkeit. Er reiste im Februar 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der ihn am 15.2.2015 aufgreifenden Bundespolizei teilte er mit, Asyl beantragen zu wollen und einen Asylantrag in Ungarn, falls er einen gestellt habe, hiermit zurückziehen zu wollen. Er wolle in Deutschland arbeiten und mit dem verdienten Geld seine Familie im Kosovo unterstützen. Ihm hätten im Kosovo die Mandeln entnommen werden müssen, wozu ihm das Geld gefehlt habe. Gegenüber der Ausländerbehörde der Stadt Köln verneinte er am 17.2.2015, in Deutschland einen Asylantrag stellen zu wollen. Er gab weiter an, am 15.2.2015 aus seinem Heimatland ausgereist und über Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland gereist zu sein, weil er zu Hause aus wirtschaftlichen Gründen keine Lebensperspektive habe.
3Die EURODAC-Anfrage ergab einen Treffer für Ungarn. Daraufhin richtete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 27.2.2015 ein Wiederaufnahmegesuch unter Hinweis auf den dort am 8.2.2015 gestellten Asylantrag des Klägers an Ungarn. Am 12.3.2015 stimmte Ungarn der Rückführung des Klägers nach Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Dublin III-VO) zu.
4Mit Bescheid vom 31.7.2015 ordnete das Bundesamt die Abschiebung des Klägers nach Ungarn an. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 27a AsylVfG unzulässig, da Ungarn aufgrund des bereits dort gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich.
5Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 12.8.2015 die vorliegende Klage erhoben, zu deren Begründung er vorträgt, das ungarische Asylverfahren leide an systemischen Mängeln.
6Der Kläger beantragt,
7den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 31.7.2015 aufzuheben.
8Die Beklagte beantragt,
9die Klage abzuweisen.
10Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid.
11Auf den gegen die Abschiebungsanordnung gerichteten Eilantrag des Klägers vom12.8.2015 hin hat der Einzelrichter im Verfahren 18 L 2015/15. A mit Beschluss vom 17.8.2015 die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage angeordnet.
12E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
13Der Einzelrichter entscheidet im Einverständnis der Beteiligten über die Klage ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO). Die Klage ist als Anfechtungsklage zulässig,
14vgl. OVG NRW, Urteil vom 7.3.2014 - 1 A 21/12.A -, juris,
15und auch begründet. Der angefochtene Bescheid ist im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG entscheidungserheblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat zu Unrecht auf der Grundlage des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG die Abschiebung des Klägers nach Ungarn angeordnet. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a) an, wenn er dorthin abgeschoben werden soll, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.
16Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staats ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin III-VO).
17Danach bestand gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO eine Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung des Asylantrags des Klägers, weil dieser zuvor dort einen Asylantrag gestellt hatte und die ungarischen Behörden einer Wiederaufnahme des Klägers zugestimmt hatten.
18Insoweit ist es unerheblich, dass der Kläger in Deutschland keinen Asylantrag gestellt hat. In einem solchen Fall ist Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO einschlägig. Danach kann ein Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich eine Person im Sinne des Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO ohne Aufenthaltstitel aufhält und bei dem kein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, die Person wieder aufzunehmen, wenn er der Auffassung ist, dass der andere Mitgliedstaat gemäß Art. 20 Abs. 5 und Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO zuständig ist.
19Die Voraussetzungen des Art. 18 Abs. 1 Buchstabe b Dublin III-VO sind erfüllt. Denn der Kläger ist ein Antragsteller, der während der Prüfung seines Antrags im zuständigen Mitgliedstaat (hier: in Ungarn) sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (hier: in Deutschland) ohne Aufenthaltstitel aufhält.
20Gemäß Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO müssen die Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO (nach Auffassung des ersuchenden Mitgliedstaats, hier: Deutschlands) zusätzlich erfüllt sein, weil diese nach dem deutschen, englischen, französischen und niederländischen Wortlaut des Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO („und“/„and“/„et“/„en“) kumulativ und nicht lediglich alternativ aufgeführt sind. Dass diese Formulierung in Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO nicht lediglich sprachlich verunglückt ist, folgt aus dem Gegenschluss der nachfolgenden, die Buchstaben b, c, d des Art. 18 Dublin III-VO betreffenden Formulierung des Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO. Nach dem Wortlaut sämtlicher oben genannter Sprachen („oder“/„or“/„ou“/„of“) werden die Buchstaben b, c, d des Art. 18 Dublin III-VO in Art. 24 Abs. 1 Dublin III-VO nämlich eindeutig alternativ aufgeführt. Nach Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO ist der Mitgliedstaat, bei dem der erste Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde (hier: Ungarn), gehalten, einen Antragsteller, der sich ohne Aufenthaltstitel im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (hier: in Deutschland) aufhält, nachdem er seinen ersten Antrag noch während des Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zurückgezogen hat, nach den Bestimmungen der Art. 23, 24 und 29 Dublin III-VO wieder aufzunehmen, um das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zum Abschluss zu bringen.
21Hier braucht indes nicht entschieden zu werden, ob die Voraussetzungen des Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO erfüllt sind. Wenn die Erklärung des Klägers gegenüber der Bundespolizei in Rosenheim, den Asylantrag zurücknehmen zu wollen, auch gegenüber den ungarischen Behörden gelten sollte, sind die Voraussetzungen auch des Art. 20 Abs. 5 Dublin III-VO erfüllt. Das selbe könnte dann gelten, wenn das Verfahren in Ungarn deshalb als zurückgezogen gelten sollte, weil der Kläger Ungarn noch vor einer dortigen Asylentscheidung verlassen hat.
22Hat der Kläger dagegen den in Ungarn gestellten Asylantrag nicht zurückgezogen, gelten Art. 20 Abs. 5 und 24 Abs. 1 Dublin III-VO über ihren Wortlaut hinaus erst recht. Art. 20 Abs. 5 und 24 Abs. 1 Dublin III-VO gelten gerade dann, wenn eine Person in einem Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat und sodann in einen anderen Mitgliedstaat ausgereist ist, ohne dass er in dem anderen Mitgliedstaat einen weiteren Asylantrag gestellt und ohne dass er den im ersten Mitgliedstaat gestellten Asylantrag zurückgenommen hat. Denn die Art. 20 Abs. 5, 21, 23 und 24 Dublin III-VO sollen als umfassendes Gesamtsystem sicherstellen, dass der zuständige Mitgliedstaat einen in einen anderen Mitgliedstaat ausgereisten Antragsteller von diesem anderen Mitgliedstaat aufnimmt oder wieder aufnimmt, um das Verfahren des Antragstellers fortzusetzen bzw. zum Abschluss zu bringen.
23Dass das System der Dublin III-VO für jede Fallgestaltung gilt und deshalb grundsätzlich auch in einem Fall wie dem vorliegenden ein Mitgliedstaat die Übernahme eines Asylantragstellers durch einen anderen Mitgliedstaat verlangen kann, wird letztlich aus Art. 3 Abs. 2 Satz 3 Dublin III-VO deutlich. Danach wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat, wenn keine Überstellung an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden kann, etwa weil in allen oder auch nur einem dieser Mitgliedstaaten systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO bestehen. Folgt aus dieser Ausnahmeregelung des Art. 3 Abs. 2 Satz 3 Dublin III-VO, dass nach der Dublin III-VO auf jeden Fall ein Mitgliedstaat für die materielle Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, auch wenn der Antrag ausschließlich in einem anderen Mitgliedstaat gestellt worden ist, wird daran zum einen deutlich, dass innerhalb der Europäischen Union kein Asylantrag unbeschieden bleiben darf, und zum anderen, dass dieser Ausnahmeregelung eine Regel zugrundeliegt, wonach – vorbehaltlich der in Kapitel III Dublin III-VO genannten Kriterien – ein Mitgliedstaat, in dem eine Person zuerst einen Asylantrag gestellt hat, regelmäßig vor einem anderen Mitgliedstaat für die materielle Prüfung des Asylbegehrens zuständig ist und demzufolge – vorbehaltlich der in Kapitel III Dublin III-VO genannten Kriterien – ein anderer Mitgliedstaat grundsätzlich von dem ersten Mitgliedstaat in jeder Fallgestaltung die Übernahme des Asylantragstellers verlangen kann.
24Nunmehr ist allerdings die Beklagte für die Entscheidung über das (ausschließlich in Ungarn gestellte) Asylbegehren des Klägers zuständig, weil die Auffangzuständigkeit des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO einschlägig ist. Denn einer Überstellung des Klägers nach Ungarn stehen systemische Mängel des dortigen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegen, und eine weitere Prüfung, ob ein dritter Mitgliedstaat zuständig ist, verspricht nach Ablauf der Fristen für die Stellung von Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen keinen Erfolg.
25Die Dublin III-VO beruht auf der Annahme, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der GFK und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Aufgrund dieses Prinzips des gegenseitigen Vertrauens gilt daher grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Europäischen Grundrechtecharta (GrCh) sowie mit der GFK und der EMRK steht. Allerdings handelt es sich dabei nicht um eine unwiderlegbare Vermutung. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten nicht vereinbar ist. Zwar genügt nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat und nicht jeder geringste Verstoß gegen die Richtlinien, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln. Ist jedoch ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 GrCh implizieren, so ist die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar. In solchen Situationen obliegt es den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den „zuständigen Mitgliedstaat" im Sinne der Verordnung zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden.
26Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011 - Rs C-411/10 und C-493/10 -, juris; EGMR, Urteil vom 21.1.2011 - 30696/09 - M.S.S. / Belgien und Griechenland - und Urteil vom 4.11.2014 - 29217/12 - Tarakhel / Italien -.
27Der Begriff des systemischen Mangels ist weit zu verstehen. Mit „Asylverfahren und Aufnahmebedingungen" ist der Gesamtkomplex des Asylsystems im Zielstaat gemeint. Dieses umfasst den Zugang zum Asylverfahren, das Asylverfahren selbst, die Behandlung während des Asylverfahrens, die Handhabung der Anerkennungsvoraussetzungen, das Rechtsschutzsystem und auch die in der GFK und der Qualifikationsrichtlinie geregelte Behandlung nach der Anerkennung.
28Vgl. Lübbe. „Systemische Mängel" in Dublin-Verfahren, ZAR 2014, 105 ff.; Bank/Hruschka, ZAR 2012, 182 ff.
29Systemische Mängel im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung des EuGH sind dabei nicht auf flächendeckende gravierende Systemausfälle (wie etwa für Griechenland festgestellt) beschränkt, sondern erfassen generell solche, die im Rechtssystem des zuständigen Mitgliedstaats angelegt sind oder dessen Vollzugspraxis strukturell prägen und deshalb den Einzelnen vorhersehbar und regelhaft treffen. Auch tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem - aus welchen Gründen auch immer - faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weit gehend unwirksam wird, können einen systemischen Mangel darstellen. Nicht systemisch ist demgegenüber ein Mangel dann, wenn es lediglich in Einzelfällen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK kommt.
30Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 19.3.2014 - 10 B 6.14 - und vom 6.6.2014 - 10 B 35.14 -, juris.
31Nicht erforderlich ist, dass sich der systemische Mangel bzw. die strukturelle - systemische - Schwachstelle auf eine unüberschaubare Vielzahl, die Mehrheit aller Asylbewerber oder gar auf alle Asylbewerber auswirkt. Ein systemischer Mangel kann vielmehr auch dann vorliegen, wenn nur eine geringe Anzahl von Asylbewerbern betroffen ist, soweit dies vorhersehbar und regelhaft geschieht.
32Vgl. VGH BW, Urteile vom 18.3.2015 - A 11 S 2042/14 - und vom 10.11.2014 - A 11 S 1778/14 -; Lübbe, a. a. O.
33Im Falle des Vorliegens systemischer Mängel ist es ferner erforderlich, dass der einzelne Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, hiervon im Falle einer Überstellung in den Zielstaat selbst betroffen zu sein. Bei flächendeckenden systemischen Mängeln bedarf dies keiner besonderen Darlegung. Bei systemischen Mängeln, die sich nur auf Teilgruppen oder vereinzelt auswirken, müssen weitere besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen bzw. geltend gemacht werden, die eine Betroffenheit des Einzelnen beachtlich wahrscheinlich machen.
34Vgl. Lübbe, a. a. O.
35Bei der Beurteilung der Situation in einem Mitgliedstaat und der für einen Asylbewerber dort bestehenden tatsächlichen Risiken im Falle einer Überstellung sind Stellungnahmen des UNHCR ebenso heranzuziehen wie regelmäßige und übereinstimmende Berichte von internationalen Nichtregierungsorganisationen sowie sonstige Berichte der europäischen Institutionen, insbesondere der Kommission.
36Vgl. EuGH, Urteil vom 21.12.2011, a. a. O., sowie vom 30.5.2013 - C-528/11 -, juris.
37Für die Rechtsfrage einer Verletzung des Art. 3 EMRK hat die Rechtsprechung des EGMR eine Orientierungs- und Leitfunktion.
38Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und nach Auswertung der aktuellen Auskunfts- und Erkenntnislage zu Ungarn steht es zur Überzeugung der Kammer fest, dass dem Kläger bei einer Überstellung nach Ungarn bereits aufgrund der dort bestehenden Inhaftierungspraxis die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der EMRK mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Diesbezüglich schließt sich die Kammer der Rechtsprechung der
393. Kammer des VG Köln, Urteil vom 15.7.2015 - 3 K 2005/15.A -, NRWE,
40an sowie deren Begründung, die nachfolgend wiedergegeben wird.
41Asylsuchende unterliegen in Ungarn einem erheblichen Risiko, für einen längeren Zeitraum in Haft genommen zu werden. Dies gilt in besonderem Maße für den Personenkreis der nach der Dublin III-VO rücküberstellten Asylsuchenden, d. h. Personen, die bereits ein Asylverfahren in Ungarn durchgeführt hatten, das entweder noch nicht abgeschlossen oder mit negativem Ausgang beendet ist. Denn diese werden nach den Erkenntnissen des UNHCR
42vgl. Auskunft vom 30.9.2014 an das VG Bremen,
43mit Ausnahme von Familien oder besonders vulnerablen Personen bei Rückkehr nach Ungarn stets in Haft genommen. Diese Inhaftierungspraxis begegnet bereits deshalb Bedenken, weil nach den UNHCR-Richtlinien zur Inhaftierung von Flüchtlingen und Asylsuchenden Asylsuchende grundsätzlich nicht in Haft genommen werden sollten und Haft immer nur das letzte Mittel darstellen darf. Da Asylsuchende meist bereits traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, kann sie nämlich eine Inhaftierung mit besonderer Härte treffen.
44Vgl. UNHCR vom 30.9.2014 an das VG Bremen unter Hinweis auf UNHCR, Detention Guidelines, 2012.
45Diesen Anforderungen wird die in dem seit dem 1.7.2013 geltenden ungarischen Asylgesetz geregelte Möglichkeit einer Inhaftierung von Asylbewerbern bis zu sechs Monaten schon deshalb nicht gerecht, weil die dort genannten Gründe für eine Asylhaft sehr weit und teilweise vage formuliert sind und auch die Anordnung der Haft durch die Verwaltungsbehörde nach der Auskunft des UNHCR nicht mit Gründen versehen wird. Die ungarischen Behörden scheinen dabei bei Dublin-Rückkehrern generell eine Fluchtgefahr anzunehmen.
46UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf.
47Ein solches Vorgehen, bei dem Dublin-Rückkehrer regelmäßig inhaftiert werden, wird den europarechtlichen Vorgaben nicht im Ansatz gerecht. Zwar sieht die Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 (Aufenthaltsrichtlinie) in Art. 8 Abs. 2 die Möglichkeit der Inhaftierung von Asylbewerbern unter anderem bei Fluchtgefahr vor. Die Normen des europäischen Flüchtlingsrechts stehen aber einer generellen Inhaftierung von Gruppen von Asylbewerbern eindeutig entgegen, vgl. etwa § 8 Abs. 1, 2 und 4 der Aufenthaltsrichtlinie und Art. 28 Dublin III-VO. Das von diesen Normen statuierte Erfordernis einer Einzelfallprüfung und der strikten Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird in Ungarn nach allen der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnissen systematisch missachtet. Die flächendeckende Inhaftierung verstößt dabei nicht nur gegen das Verbot der unrechtmäßigen Inhaftierung des Art. 5 EMRK, sondern begründet angesichts der regelmäßig langen Dauer der Inhaftierung und der Umstände in der Haft die Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK in Verbindung mit Art. 4 GrCh. Denn es gibt gegen die Verhängung von Asylhaft keinen effektiven Rechtsschutz des Betroffenen. Alternativen zur Haft, wie etwa das Hinterlegen einer Kaution, werden kaum in Erwägung gezogen. In der Praxis führt dies dazu, dass die Gründe für eine Inhaftierung mangels individualisierter Begründung häufig nicht nachvollziehbar sind und willkürlich erscheinen.
48UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf; Report des Kommissars für Menschenrechte des Europäischen Rates, Nils Muiznieks, vom 16.12.2014 über einen Besuch Ungarn im Juli 2014 (Muiznieks-Report), Rdnr. 155 f.
49Darüber hinaus ist die gerichtliche Überprüfung und Kontrolle von Haftgründen und Haftverlängerungen nach den vorliegenden Erkenntnissen völlig unzureichend. So verlängern die ungarischen Gerichte die Haftanordnungen aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung meist um die maximal mögliche Spanne von 60 Tagen. Dabei werden die Häftlinge dem Gericht in Gruppen vorgeführt, so dass für die Bearbeitung eines Einzelfalls meist weniger als drei Minuten zur Verfügung stehen.
50UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf.
51Dass bei dieser Verfahrensweise eine individuelle Prüfung von Haftgründen nicht möglich (und nach der herrschenden ungarischen Rechtsauffassung wohl auch gar nicht erforderlich) ist, liegt auf der Hand. Folge dieser Verfahrensweise ist es, dass die maximale Haftdauer in vielen Fällen voll ausgeschöpft wird.
52So PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
53Hinzu kommt, dass Asylsuchende nach den gesetzlichen Bestimmungen in Ungarn zwar Anspruch auf eine kostenlose Rechtsberatung haben, in der Praxis jedoch eine qualifizierte Beratung durch das staatliche Rechtshilfesystem aber nicht zur Verfügung steht. So ist in den Haftanstalten der Zugang zu einer Rechtsberatung praktisch nur über Vertragsanwälte des Hungarian Helsinki Committee (HHC) möglich, die die Einrichtungen einmal pro Woche besuchen, was zur Folge hat, dass nur eine Minderheit der inhaftierten Asylsuchenden Rechtsberatung erhält oder anwaltlich vertreten wird.
54UNHCR vom 30.9.2014 und PRO ASYL vom 31.10.2014, beide an das VG Düsseldorf.
55Diese Bedingungen führen dazu, dass ein Asylhäftling weit gehend rechtsschutzlos gestellt ist und zu einem reinen Objekt des Verfahrens der Haftanordnung sowie deren Überprüfung und Verlängerung herabgewürdigt wird.
56Schließlich entsprechen auch die Haftbedingungen nach den vorliegenden Erkenntnisquellen nicht den Mindeststandards an eine menschenwürdige Unterbringung und Behandlung. So wird dort vielfach schlecht geschultes Wach- und Betreuungspersonal eingesetzt. Auch ist eine angemessene medizinische Betreuung nicht gewährleistet. Eine Betreuung durch Psychologen findet nicht statt. Zudem erfüllen einige Hafteinrichtungen nicht die hygienischen Mindeststandards. Hinzu kommen Berichte über Misshandlungen und Schikanen sowie Beschwerden über brutale Übergriffe.
57UNHCR vom 9.5.2014 an das VG Düsseldorf und vom 30.9.2014 an das VG Bremen; PRO ASYL vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf.
58Die systematisch angewendete Praxis, Asylhäftlinge angeleint und in Handschellen bei auswärtigen Terminen (etwa bei Behörden- oder Arztbesuchen) vorzuführen, stellt bereits für sich genommen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar. Die erkennende Kammer schließt sich hierbei in vollem Umfang der Bewertung des UNHCR
59vgl. Auskünfte vom 9.5. und 30.9.2014 an das VG Düsseldorf,
60an. An dieser Einschätzung vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass eine derartige Behandlung bei Straftätern in Ungarn allgemein üblich ist. Denn abgesehen davon, dass es bereits fraglich erscheint, ob ein „Ausführen" von Strafgefangenen an einer Leine - zusätzlich zu einer Sicherung durch Handschellen - noch mit den Regelungen der EMRK vereinbar ist, sind Asylsuchende keine Straftäter, so dass sich eine Gleichbehandlung bereits aus diesem Grund verbietet. Hierauf weist auch der UNHCR in seinen
61Detention Guidelines a. a. O.,
62ausdrücklich hin. Danach sollen Asylsuchende in der Asylhaft mit Würde und entsprechend internationaler Standards behandelt werden. Insbesondere soll die Asylhaft keinen bestrafenden Charakter haben.
63Insgesamt lassen die vorstehend dargestellte Inhaftierungspraxis sowie die dabei herrschenden Haftbedingungen nach Überzeugung der Kammer nur den Schluss zu, dass das Asylverfahren bzw. die Aufnahmebedingungen in Ungarn jedenfalls im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung regelhaft derart defizitär sind, dass dem Kläger dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht.
64So unter Berücksichtigung der neueren Entwicklung im Ergebnis auch: VG Münster, Beschluss vom 7.7.2015 - 2 L 858/15.A -; VG Bremen, Beschluss vom 1.4.2015 - 3 V 145/15 -; VG München, Beschluss vom 20.2.2015 - M 24 S 15.50091 - und VG Berlin, Beschluss vom 15.1.2015 - 23 L 899.14 A - jeweils m. w. N. (alle juris); a. A. u.a. VG Düsseldorf, Urteil vom 20.3.2015 - 13 K 501/14.A; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 16.6.2015 - 7a L 1208/15.A -; BayVGH, Beschluss vom 12.6.2015 - 13a ZB 15.50097 - (alle juris).
65Dieser Einschätzung steht nicht der Umstand entgegen, dass der UNHCR trotz seiner Kritik an der Inhaftierungspraxis Ungarns kein Positionspapier herausgegeben hat, in dem die Mitgliedstaaten der Europäischen Union aufgefordert werden, von Überstellungen Asylsuchender nach Ungarn gemäß der Dublin-Verordnung abzusehen. Denn der UNHCR hat in seiner
66Stellungnahme vom 30.9.2014 an das VG Bremen
67ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er derartige Empfehlungen bislang lediglich in Ausnahmekonstellationen ausgesprochen habe und aus der Tatsache des Fehlens einer Äußerung in einem UNHCR-Papier, ob bestimmte Mängel einer Überstellung in den betreffenden Staat entgegenstünden, nicht geschlossen werden könne, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehenden Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Dies sei deshalb der Fall, weil sich die betreffenden Papiere zumeist in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die betreffende Regierung richteten. Nach Auffassung des UNHCR ist es die Aufgabe der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat ausschließen.
68UNHCR vom 30.9.2014 an das VG Bremen.
69Ebenso wenig gebietet der Umstand, dass der EGMR mit
70Urteil vom 3.7.2014 (Mohammadi / Österreich, Nr. 71932/12)
71entschieden hat, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung ein Asylsuchender nicht mehr einer tatsächlichen und persönlichen Gefahr unterliege, bei einer Überstellung nach Ungarn im Rahmen der Dublin-Verordnung einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die Art. 3 EMRK verletzen würde. Denn diese Einschätzung beruhte im Wesentlichen auf der Erwartung, dass die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in Ungarn zu einer positiven Entwicklung des ungarischen Asylsystems führen würden. Diese Erwartungen haben sich indessen - wie die oben dargelegten aktuellen Erkenntnisse zur Inhaftierungspraxis in Ungarn sowie den dort herrschenden Haftbedingungen für Asylbewerber zeigen - nicht erfüllt.
72Unabhängig von der menschenrechtswidrigen Inhaftierungspraxis Ungarns bestehen systemische Mängel in dem oben beschriebenen Sinn zur Überzeugung der Kammer aber auch aufgrund der Entwicklungen der jüngsten Zeit. Denn in der ersten Jahreshälfte 2015 sind nach Angaben der Regierung bis zu 72000 Flüchtlinge nach Ungarn eingereist. Bis zum 14.7.2015 sollen es bis zu 78000 Flüchtlinge gewesen sein.
73Vgl. Pressemitteilung des ungarischen Ministry of Foreign Affairs and Trade vom 14.07.2015 „Steady migratory pressure necessitates border fence".
74Andere Quellen sprechen von 61000 Flüchtlingen.
75So die Pressemitteilung des UNHCR vom 2.7.2015, „UNHCR urges Hungary not to amend its asylum system in a rush, ignoring international standards".
76Die Aufnahmekapazitäten liegen bei maximal 2500 Plätzen für Flüchtlinge. Bei einem Verhältnis von bis zu 29 Flüchtlingen im Halbjahr für einen Aufnahmeplatz ist für die Kammer schon im Ansatz nicht mehr erkennbar, wie hier eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge gewährleistet sein soll.
77Vgl. zu einer ähnlichen Überlegung zu Italien bei einem zahlenmäßig noch deutlich günstigeren Verhältnis von ca. 35000 Aufnahmeplätzen und 7900 Flüchtlingen in den ersten zwei Monaten 2015 VG Düsseldorf, Urteil vom 20.5.2015 - 8 K 1694/15.A -, juris Rz. 40 ff.
78Dies gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass zahlreiche Flüchtlinge, soweit sie nicht inhaftiert werden, untertauchen und in weitere EU-Länder weiterreisen. Denn angesichts der enorm hohen Zahl, die sich binnen weniger Jahre vervielfacht hat, sind die Aufnahmekapazitäten völlig unzureichend. Es ist ausgeschlossen, dass Unterkunft und Verpflegung in einem Mindestansprüchen genügenden Sinne vorgehalten werden, um die häufig traumatisierten Flüchtlinge ausreichend zu versorgen. Viele Flüchtlinge werden dementsprechend auf der Straße leben, wo sie einer feindseligen Umgebung und einer zunehmenden Anzahl an rassistischen Übergriffen ausgesetzt sind.
79Dass das ungarische Asylsystem an systemischen Mängeln leidet, wird bestätigt durch die hinter den Missständen stehende Absicht der ungarischen Behörden. Deren Einstellung wird nicht nur durch das Fehlen zielgerichteter Maßnahmen zur Beseitigung des derzeit in Ungarn, vor allem an Budapester Bahnhöfen und an anderen ungarischen Orten herrschenden Flüchtlingschaos erkennbar, sondern zusätzlich durch die jüngsten Äußerungen des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán gegenüber Organen der Europäischen Union, wonach bestimmte Flüchtlingsgruppen kein Problem Ungarns darstellten und das Land von vornherein Flüchtlinge gewisser Herkunftsländer wegen deren nichtchristlicher Religionszugehörigkeit nicht aufzunehmen gewillt sei.
80Tagesschau.de vom 4.9.2015: „Zug steht still – Orbán als `Schande´ kritisiert“; DIE WELT, Internetauftritt vom 3.9.2015: „Ungarn voller Angst, Europäer voller Angst“; ZEIT ONLINE vom 3.9.2015: „Orbán nennt Flüchtlingskrise `ein deutsches Problem´“.
81Unabhängig von diesen Gründen bestehen nach Auffassung der Kammer auch aus einem weiteren Grund in Ungarn systemische Mängel des Asylverfahrens, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Kläger tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh ausgesetzt zu werden. Diese betreffen sämtliche Asylbewerber, die auf dem Landweg über die so genannte Balkan-Route nach Ungarn gelangen. Das erfolgt ausschließlich über Serbien. Über 99 % aller Asylsuchenden gelangen über die serbisch-ungarische Grenze nach Ungarn.
82FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“; PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“.
83Das war nach seinen Angaben auch beim Kläger der Fall. Seit Jahresbeginn wurden knapp 100000 Migranten registriert, von denen praktisch alle in wohlhabendere Länder der EU weiterreisen wollen.
84FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“.
85Zum 1.8.2015 ist ein ungarisches Gesetz in Kraft getreten, das u.a. Serbien zum sicheren Drittstaat erklärt. Diese Änderung des Asylgesetzes ermöglicht voraussichtlich ab dem 15.9.2015,
86Pester Lloyd, Internetauftritt vom 2.9.2015: „Internierung, Kriminalisierung, Willkür: Was bedeutet Ungarns neues Grenzregime?“,
87die Ablehnung von Asylanträgen als unzulässig mit der Folge, dass in Ungarn die Anträge solcher Asylsuchender im Normalfall nicht mehr materiell geprüft werden und eine sofortige Abschiebung nach Serbien droht.
88DIE WELT, Internetauftritt vom 3.9.2015: „500 Flüchtlinge verweigern Fahrt in ungarisches Aufnahmelager“; Pester Lloyd, Internetauftritt vom 2.9.2015: „Internierung, Kriminalisierung, Willkür: Was bedeutet Ungarns neues Grenzregime?“; PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; FOCUS online vom 2.8.2015: „Ungarn verschärft Asylrecht drastisch“; PRO ASYL, Internetauftritte vom 21.7.2015: „Mit Zelten in die Pampa: Ungarns Umgang mit Flüchtlingen“ und vom 7.7.2015: „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“; SPIEGEL ONLINE vom 6.7.2015: „Überlastetes Asylsystem: Ungarn verschärft Gesetz zur Aufnahme von Flüchtlingen“; Pester Lloyd, Internetauftritte vom 6.7.2015: „Gesetzesflut im ungarischen Parlament: Quasi-Aufhebung des Rechtes auf Asyl ...“ und vom 1.7.2015: „Regierungstreffen Serbien-Ungarn und neue Tiefpunkte der Flüchtlingspolitik“; Amnesty International: Europe´s Borderlands – Violations against Refugees and Migrants in Macedonia, Serbia and Hungary, Juli 2015, S. 61; ZEIT ONLINE vom 17.6.2015: „Ungarn will Flüchtlinge mit Grenzzaun aufhalten“; n-tv, Internetauftritt vom 17.6.2015: „Zaun gegen Migranten – Ungarn macht Grenze zu Serbien dicht“; Süddeutsche Zeitung, Internetauftritt vom 17.6.2015: „Ungarn will Flüchtlinge mit Vier-Meter-Zaun abhalten“.
89Von 2010 bis 2012 hatte Ungarn bereits Flüchtlinge völkerrechtswidrig nach Serbien abgeschoben, was zu scharfer Kritik der EU-Kommission geführt hatte.
90PRO ASYL, Internetauftritt vom 7.7.2015: „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“.
91Die Republik Serbien hat jedoch angekündigt, sie sei nicht gewillt, zigtausenden Flüchtlingen, die nicht weiterkämen, wochen- oder monatelang Unterkunft zu gewähren, weil das die Ressourcen des Landes nicht hergäben. Man werde auch keine Flüchtlingslager bauen.
92Pester Lloyd, Internetauftritt vom 21.8.2015.
93Serbien hat auch kein funktionierendes Asylsystem.
94Vgl. die Einzelheiten in: Amnesty International a. a. O., S. 35 - 45.
95Menschenrechtsorganisationen haben das Fehlen eines funktionierenden Schutzsystems in Serbien immer wieder kritisiert.
96PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“.
97Im April 2008 trat Serbiens Asylgesetz in Kraft.
98PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Amnesty International a. a. O., S. 36.
99Seither ist die Zahl der registrierten Asylsuchenden – also ohne diejenigen Personen, die Serbien lediglich „durchqueren“, ohne registriert zu werden – exponentiell gestiegen. Betrug sie im Jahr 2008 nur 77, im Jahr 2009 erst 275 und im Jahr 2010 noch 522, stieg sie im Jahr 2011 auf 3132 an, sank im Jahr 2012 etwas auf 2723, um im Jahr 2013 auf 5066 und im Jahr 2014 auf 16490 Personen anzuschwellen.
100Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Serbien (Stand: November 2014) vom 15.12.2014 (Lagebericht Serbien), S. 13; Amnesty International a. a. O., S. 36.
101Die Anerkennungsrate von Asylsuchenden als Flüchtlinge in Serbien ist äußerst gering.
102AA, Lagebericht Serbien, S. 13.
103Bis Ende 2014 wurden lediglich sechs Personen als Flüchtlinge anerkannt, zwölf erhielten einen subsidiären Schutzstatus. Bis Ende Mai 2015 wurde weiteren vier Flüchtlingen Asyl gewährt.
104PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Amnesty International a. a. O., S. 36.
105Die serbische Anerkennungsquote ist auch unter Herausrechnen der Personen, die letztlich keinen Asylantrag stellen oder ein laufendes Verfahren nicht abwarten und weiterreisen, gering. Denn im Jahr 2011 erhielt keiner der 3134 registrierten Antragsteller Asyl, im Jahr 2012 erhielten von 2723 Antragstellern lediglich drei Personen subsidiären internationalen Schutz, und im Jahr 2013 wurden bei insgesamt 5066 Antragstellern von 193 in den Blick genommenen Anträgen vier bestätigt, 13 verworfen oder abgewiesen und 176 nicht fortgeführt. Obwohl geschätzt wird, dass von den 16490 Personen, die im Jahr 2014 angaben, Asyl beantragen zu wollen, nur die Hälfte auch tatsächlich einen Antrag auf Asyl in Serbien gestellt hat, wurden nur 1350 Asylsuchende tatsächlich registriert, und von 388 eingereichten Anträgen wurden 307 nicht fortgesetzt, weil der jeweilige Antragsteller während des Verfahrens untertauchte. Die Asylbehörde befragte im Jahr 2014 17 von 18 Antragstellern, gab sechs Anträgen statt, wobei einer Person der Flüchtlingsstatus und fünf Personen subsidiärer Schutz gewährt wurde, wohingegen zwölf Anträge abgelehnt wurden und vier Anträge aus dem Jahr 2014 im Jahr 2015 noch in Bearbeitung waren. Obwohl die Flüchtlinge viele Gründe dafür hatten, weiterzureisen, anstatt in Serbien um Asyl nachzusuchen oder ein Asylverfahren abzuwarten, scheinen Unzulänglichkeiten im serbischen Asylsystem eine Rolle für solche Entscheidungen zu spielen.
106Amnesty International a. a. O., S. 36 f.
107Aus dem Kreis der registrierten potentiellen Asylbewerber hat deshalb nur ein kleiner Teil tatsächlich einen Asylantrag gestellt, weil der Prozess dafür in Serbien sehr komplex ist.
108AA, Lagebericht Serbien, S. 13.
109Asylbewerbern Rechtshilfe leistende Nichtregierungsorganisationen meinen, dass die serbische Politik der sicheren Herkunftsländer in großem Umfang fortgeführt wird. So wurden beispielsweise von 17 von der Asylbehörde im Jahr 2014 entschiedenen Fällen sieben in der Zeit von Januar bis April berücksichtigte Anträge zurückgewiesen, weil der jeweilige Asylbewerber aus einem sicheren Drittstaat nach Serbien gekommen war. Diesen Asylbewerbern wurde weder Asyl noch irgend eine andere Form von Schutz gewährt. Die Mehrheit der Berufungen wird üblicherweise ohne Rücksicht auf ihre Gründe abgewiesen. Das schließt Berufungen gegen erstinstanzliche Entscheidungen ein, die auf dem Konzept der sicheren Drittstaaten beruhen. Eine Begründung für die Zurückweisung der Berufung wird selten gegeben.
110Amnesty International a. a. O., S. 41 f.
111Zahlreichen Schutzsuchenden droht in Serbien die Zurückschiebung nach Mazedonien oder Griechenland.
112PRO ASYL, Internetauftritt vom 24.8.2015: „Letzter Ausweg Balkan-Route: Die Not der Flüchtlinge“; Pester Lloyd, Internetauftritt vom 1.7.2015: „Regierungstreffen Serbien-Ungarn und neue Tiefpunkte der Flüchtlingspolitik“.
113Im Jahr 2012 hatte der UNHCR die Republik Serbien beschuldigt, Massenabschiebungen von Flüchtlingen und Migranten nach Mazedonien durchzuführen. Der UNHCR hatte ferner vorgetragen, dass in einigen Fällen Flüchtlinge und Migranten, die von Ungarn nach Serbien abgeschoben worden waren, informell anstatt nach den Regeln des zwischen Serbien und Mazedonien abgeschlossenen Wiederaufnahmeabkommens nach Mazedonien verbracht worden waren. Im Mai 2015 äußerte das Committee against Torture (CAT) Befürchtungen hinsichtlich des erhöhten Risikos eines refoulement für Personen, die durch die serbischen Behörden nach Mazedonien verbracht worden sind.
114Amnesty International a. a. O., S. 33 f.
115Die ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien hat ebenfalls kein effektives Asylsystem, vielmehr besteht dort die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen und eines refoulement durch Abschiebungen nach Griechenland.
116Amnesty International a. a. O., S. 40 f.
117Der ohnehin schwache Rechtsstaat wird derzeit durch die autoritäre Politik der größten Regierungspartei erheblich in Frage gestellt.
118AA: Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien (Stand: August 2015) vom 12.8.2015, S. 4.
119Griechenland weist seinerseits systemische Mängel im Sinne der Rechtsprechung des EuGH auf.
120Abgesehen davon verstößt die Gefahr von Kettenabschiebungen gegen das Prinzip des non-refoulement und damit gegen Art. 18 GrCh in Verbindung mit Art. 33 Abs. 1 GFK, zumal gerade hier die Gefahr besteht, dass der Kläger von Serbien aus in seinen Herkunftsstaat, den Kosovo, abgeschoben wird, ohne dass zuvor sein Schutzgesuch geprüft worden ist. Insoweit ist es dem Gericht rechtlich auch verwehrt, die Erfolgsaussichten des Asylantrags des Klägers auf der Grundlage seiner bisherigen Angaben materiellrechtlich zu prüfen, weil es aus den eingangs dargelegten Gründen auch nicht „durchentscheiden“ darf.
121Es bedarf vor diesem Hintergrund keiner abschließenden Entscheidung, ob durch die jüngst verabschiedeten Gesetzesänderungen weitere systemische Mängel im ungarischen Asylsystem vorliegen.
122Vgl. UNHCR, UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste.
123Insbesondere die Gesetzesänderung, nach der ein Asylverfahren eingestellt werden kann, wenn Flüchtlinge für die Dauer von 48 Stunden nicht in der Aufnahmeeinrichtung, der sie zugewiesen worden sind, angetroffen werden, dürfte schon im Ansatz nicht mehr mit rechtstaatlichen Grundsätzen vereinbar sein. Dies gilt umso mehr, als die oben geschilderten chaotischen Zustände in den ungarischen Flüchtlingseinrichtungen eine solche Feststellung der Abwesenheit praktisch immer möglich machen werden.
124Unterbleiben kann ferner die rechtliche Einordnung der beabsichtigten Schaffung der Möglichkeit, die ungarische Armee an der Grenze einzusetzen.
125Pester Lloyd, Internetauftritt vom 1.9.2015: „Ungarn bereitet Militäreinsatz gegen Flüchtlinge vor: Opposition will Orbán vor Internationalen Strafgerichtshof bringen“.
126Ebenso wenig bedarf es einer Entscheidung, ob die Rücküberführung nach Ungarn derzeit faktisch überhaupt möglich ist. Nachdem die ungarische Regierung am 22.6.2015 angekündigt hatte, keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen, hat sie dies zwar schon am Folgetag revidiert. Weiterhin existieren jedoch Berichte, nach denen maximal zwölf Flüchtlinge täglich durch die ungarischen Behörden im Rahmen von Dublin-Rücküberstellungen aufgenommen werden. Bei mehreren Tausend Flüchtlingen, die allein Deutschland nach Ungarn zurücküberstellen möchte, ist sehr zweifelhaft, ob es im streitgegenständlichen Einzelfall überhaupt zu einer Rücküberstellung kommen wird.
127Dieser letztgenannte Umstand ist jedoch ein weiterer Grund dafür, dass die – hier allein streitbefangene – Anordnung, den Kläger nach Ungarn abzuschieben, rechtswidrig ist. Insoweit liegen die Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 AsylVfG nicht (mehr) vor. Nach dieser Norm ordnet das Bundesamt ohne vorherige Anordnung und Fristsetzung die Abschiebung eines Ausländers in den für das Asylverfahren zuständigen Staat an, „sobald feststeht“, dass sie durchgeführt werden kann. Der Gesetzgeber wollte mit § 34a Abs. 1 AsylVfG die Möglichkeit schaffen, für eine in der Regel nur kurzfristig durchgeführte durchführbare Rückführung ein verkürztes Verfahren zu schaffen. Die Abschiebungsanordnung ist deshalb nicht quasi auf Vorrat zulässig, sondern erst dann, wenn das Übernahmeverfahren positiv abgeschlossen ist, weil der andere Staat seine Übernahmebereitschaft auf die vorhergesehene Art und Weise verbindlich erklärt hat und die näheren Umstände der Überstellung wenigstens dem Grundsatz nach geklärt sind, etwa wenn zwischen dem jeweiligen Staat und der Bundesrepublik Deutschland ein funktionierendes, routiniertes und eingespieltes Übernahmeverfahren praktiziert wird, das die zuverlässige Prognose zulässt, die Übernahme werde in naher Zukunft abgeschlossen werden können. Das Bundesamt hat vor Erlass der Abschiebungsanordnung der Frage nachzugehen, ob der ersuchte Mitgliedstaat tatsächlich zur (Wieder-) Aufnahme bereit ist. Zudem ist – solange die Abschiebung eines Ausländers aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist – auch ein Vollzugshindernis im Sinne des § 60a AufenthG gegeben und hindert den Erlass einer Abschiebungsanordnung. Die tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung ist dann anzunehmen, wenn für einen vorausschaubaren Zeitraum die Abschiebung ausgeschlossen ist und erst recht, wenn die Abschiebungsmöglichkeit zeitlich völlig ungewiss ist. Unter Berücksichtigung der Auskünfte des Bundesamts gegenüber dem VG Oldenburg kann derzeit eine hinreichend zuverlässige Prognose, die Übernahme des Klägers durch Ungarn werde in naher Zukunft abgeschlossen sein, nicht erstellt werden. Ob und in welchem Umfang der ungarische Staat Asylsuchende im Rahmen des Überstellungsverfahrens aufnehmen wird, muss als offen angesehen werden. Auch die Zahlen, die das Bundesamt zu den im ersten Quartal 2015 aus Deutschland durchgeführten Überstellungen vorgelegt hat, wecken Bedenken daran, dass zwischen Ungarn und Deutschland ein funktionierendes, routiniertes und eingespieltes Übernahmeverfahren besteht. Zwar hat Ungarn in 2300 Fällen den Übernahmeersuchen der Bundesrepublik Deutschland formal entsprochen, tatsächliche Überstellungen erfolgten jedoch nur in einem Umfang von ca. 1,4 %. Die offensichtlichen Probleme beim Vollzug der in der Dublin III-Verordnung normierten Regelungen zur Aufnahme bzw. Wiederaufnahme von Asylsuchenden und der Überstellung sind keine bloße zeitliche Verzögerung aufgrund administrativer Vorkehrungen für eine an sich bereits dem Grunde nach ins Auge gefasste Abschiebung.
128Vgl. zu diesen Aspekten, Zahlen und weiteren Nachweisen: VG Oldenburg, Urteil vom 19.6.2015 - 13 A 1294/15 -.
129Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylVfG.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.
Für die sachliche und örtliche Zuständigkeit gelten die §§ 17 bis 17b des Gerichtsverfassungsgesetzes entsprechend. Beschlüsse entsprechend § 17a Abs. 2 und 3 des Gerichtsverfassungsgesetzes sind unanfechtbar.
(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.
(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.
Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:
- 1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen; - 2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a; - 3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird; - 4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden; - 5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären; - 6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden; - 7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen; - 8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht; - 9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung; - 10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist; - 11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.