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Das Gericht konnte in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten über die Klage verhandeln und entscheiden, denn die Beklagte wurde bei der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen (vgl. § 102 Abs. 2 VwGO).
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Die Klage ist nach dem erkennbaren Begehren der Klägerin (§ 88 VwGO) gerichtet auf Aufhebung des Bescheides mit Ausnahme von Ziff. 1 und Verpflichtung der Beklagten festzustellen, dass die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG gegeben sind, und nur hilfsweise hierzu auf die Verpflichtung zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG. Sie ist zulässig und begründet.
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Der Bescheid des Bundesamtes vom 28.10.2005 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit festgestellt wird, dass die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 2); die Klägerin hat nach den Gegebenheiten zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylVfG) einen Anspruch auf die gegenteilige Feststellung (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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Gemäß § 60 Abs.1 AufenthG, bei dessen Auslegung nach Ablauf ihrer Umsetzungsfrist die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29.04.2004 (ABl. v. 30.09.2004, L 304/12 - Qualifikationsrichtlinie -) zu berücksichtigen ist, darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBI. 1953 II S. 559 - GFK -) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Diese spezifische Zielrichtung ist anhand des inhaltlichen Charakters der Verfolgung nach deren erkennbarem Zweck und nicht nach den subjektiven Motiven des Verfolgenden zu ermitteln (BVerfG, Beschl. v. 10.07.1989, BVerfGE 80, 315 <344>; zur Motivation vgl. BVerwG, Urt. v. 19.05.1987, BVerwGE 77, 258). Werden nicht Leib, Leben oder physische Freiheit gefährdet, sondern andere Grundfreiheiten wie etwa die Religionsausübung oder die berufliche und wirtschaftliche Betätigung, so sind nur solche Beeinträchtigungen asylrelevant, die nach Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die Bewohner des Heimatstaats aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben (BVerfG, Beschl. v. 02.07.1980, BVerfGE 54, 341; BVerwG, Urt. v. 18.02.1986, BVerwGE 74, 31).
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Die Gefahr einer derartigen Verfolgung ist gegeben, wenn dem Asylsuchenden bei verständiger Würdigung aller Umstände seines Falles politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht, wobei die insoweit erforderliche Zukunftsprognose auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung abgestellt und auf einen absehbaren Zeitraum ausgerichtet sein muss (BVerwG, Urt. v. 03.12.1985, NVwZ 1986, 760 m.w.N.). Eine Verfolgung droht bei der Ausreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit, wenn bei qualifizierender Betrachtungsweise die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (BVerwG, Urt. v. 14.12.1993, DVBl. 1994, 524, 525). Hat der Asylsuchende sein Heimatland unverfolgt verlassen, hat er nur dann einen Asylanspruch, wenn ihm aufgrund eines asylrechtlich erheblichen Nachfluchttatbestandes politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (BVerfG, Beschl. v. 26.11.1986, BVerfGE 74, 51 <64>; BVerwG, Urt. v. 20.11.1990, BVerwGE 87, 152). Einem Asylbewerber, der bereits einmal politisch verfolgt war, kann eine Rückkehr in seine Heimat nur zugemutet werden, wenn die Wiederholung von Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist (BVerfG, Beschl. v. 02.07.1980, BVerfGE 54, 341; BVerwG, Urt. v. 25.09.1984, BVerwGE 70, 169). Dies setzt eine mehr als nur überwiegende Wahrscheinlichkeit voraus, dass es im Heimatstaat zu keinen Verfolgungsmaßnahmen kommen wird (BVerwG, Urt. v. 31.03.1981, Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 27). Nach diesem (herabgestuften) Maßstab wird andererseits nicht verlangt, dass die Gefahr erneuter Übergriffe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann. Vielmehr ist eine Rückkehr unzumutbar, wenn über die theoretische Möglichkeit, Opfer eines Übergriffs zu werden, hinaus objektive Anhaltspunkte einen Übergriff als nicht ganz entfernt und damit als durchaus reale Möglichkeit erscheinen lassen (BVerwG, Urt. v. 08.09.1992, NVwZ 1993, 191); es müssen mindestens ernsthafte Zweifel an der künftigen Sicherheit des Betroffenen vor erneuter Verfolgung bestehen (BVerwG, Urt. v. 01.10.1985, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 37). Dies entspricht auch Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie, wonach eine Vorverfolgung des Antragstellers einen ernsthaften Hinweis darauf darstellt, dass dessen Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von einer solchen Verfolgung bedroht wird.
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Der Asylbewerber ist aufgrund der ihm obliegenden prozessualen Mitwirkungspflicht gehalten, von sich aus umfassend die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse substantiiert und in sich schlüssig zu schildern sowie eventuelle Widersprüche zu seinem Vorbringen in früheren Verfahrensstadien nachvollziehbar aufzulösen, so dass sein Vortrag insgesamt geeignet ist, den Asylanspruch lückenlos zu tragen (BVerwG, Urt. v. 08.05.1984, NVwZ 1985, 36) und insbesondere auch den politischen Charakter der Verfolgungsmaßnahmen festzustellen (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.03.1983, Buchholz 402.24 Nr. 44 zu § 28 AuslG). Bei der Darstellung der allgemeinen Umstände im Herkunftsland genügt es dagegen, dass die vorgetragenen Tatsachen die nicht entfernt liegende Möglichkeit politischer Verfolgung ergeben (BVerwG, Urt. v. 23.11.1982, BVerwGE 66, 237).
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Die Gefahr eigener politischer Verfolgung kann sich auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines insoweit asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das der Schutzsuchende mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsmöglichkeit vergleichbaren Lage befindet und deshalb seine eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutbeeinträchtigungen als eher zufällig anzusehen ist (BVerfG, Beschl. v. 23.01.1991, BVerfGE 83, 216; BVerwG, Urt. v. 05.07.1994, BVerwGE 96, 200). Zu einer in diesem Sinne verfolgungsbetroffenen Gruppe gehören alle Personen, die der Verfolger für seine Verfolgungsmaßnahmen in den Blick nimmt; dies können entweder sämtliche Träger eines zur Verfolgung Anlass gebenden Merkmals - etwa einer bestimmten Ethnie oder Religion - sein oder nur diejenigen von ihnen, die zusätzlich (mindestens) ein weiteres Kriterium erfüllen, beispielsweise in einem bestimmten Gebiet leben oder ein bestimmtes Lebensalter aufweisen; solchenfalls handelt es sich um eine entsprechend – örtlich, sachlich oder persönlich - begrenzte Gruppenverfolgung (BVerwG, Urt. v. 09.09.1997, BVerwGE 105, 204). Kennzeichen einer "regionalen" oder "örtlich begrenzten" Gruppenverfolgung ist es, dass der unmittelbar oder mittelbar verfolgende Staat die gesamte, durch ein Kennzeichen oder mehrere Merkmale oder Umstände verbundene Gruppe im Blick hat, sie aber - als "mehrgesichtiger Staat" - beispielsweise aus Gründen politischer Opportunität nicht oder jedenfalls derzeit nicht landesweit verfolgt (vgl. BVerwG, Urt. v. 09.09.1997, BVerwGE 105, 204 <207> m.w.N.; OVG NRW, Urt. v. 12.07.2005 - 11 A 2307/03.A).
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Die Annahme einer gruppengerichteten Verfolgung setzt eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung jedes einzelnen Gruppenmitglieds rechtfertigt; hierfür ist die Gefahr einer so großen Zahl von Eingriffshandlungen in relevante Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine bloße Vielzahl solcher Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Gebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und in quantitativer und qualitativer Hinsicht so um sich greifen, dass dort für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (BVerwG, Urt. v. 15.05.1990, BVerwGE 85, 139; Urt. v. 05.07.1994, BVerwGE 96, 200; Urt. v. 01.02.2007 – 1 C 24.06 -). Um zu beurteilen, ob die Verfolgungsdichte die Annahme einer Gruppenverfolgung rechtfertigt, müssen Intensität und Anzahl aller Verfolgungshandlungen auch zur Größe der Gruppe in Beziehung gesetzt werden (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.01.1991, BVerfGE 83, 216; BVerwG, Urt. v. 30.04.1996, BVerwGE 101, 123; Beschl. v. 23.12.2002, Buchholz 11 Art. 16a GG, Nr. 49). Allerdings reicht eine lediglich statistisch-quantitative Betrachtung nicht aus. Vielmehr ist die Verfolgungsprognose auch hier in qualifizierender wertender Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen, die die Schwere, Anzahl, Zeit und Häufigkeit der festgestellten einzelnen Verfolgungsschläge ebenso einbezieht wie die Größe der betroffenen Gruppe. Mithin bedarf es wie bei der Individualverfolgung letztlich einer wertenden Gesamtbetrachtung, weil auch insoweit die Zumutbarkeit einer Rückkehr in den Heimatstaat das für die Beurteilung des Vorliegens einer beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungsgefahr vorrangige qualitative Kriterium bildet (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.07.1994, BVerwGE 96, 200). Der Feststellung der Verfolgungsdichte bedarf es nicht, wenn hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm bestehen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder bevorsteht. Das kann etwa dann der Fall sein, wenn der Heimatstaat ethnische oder religiöse Minderheiten vernichten und ausrotten oder aus seinem Staatsgebiet vertreiben will. Die allgemeinen Anforderungen an eine hinreichend verlässliche Prognose müssen allerdings auch dann erfüllt sein. "Referenzfälle politischer Verfolgung" sowie ein "Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung" sind auch dabei gewichtige Indizien für eine gegenwärtige Gefahr politischer Verfolgung (vgl. BVerwG, Urt. v. 05.07.1994, BVerwGE 96, 200).
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Wenn der Staat in einer Bürgerkriegssituation die effektive Gebietsgewalt in gewissen Teilbereichen des Konfliktgebietes innehat und dabei im Gegenzug zu den Aktionen des Bürgerkriegsgegners die am Konflikt nicht unmittelbar beteiligte Zivilbevölkerung durch Gegenterror unter den Druck brutaler Gewalt setzt, liegt ebenfalls politische Verfolgung vor (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.05.1993, NVwZ 1993, 1210 ). Eine solche Vorgehensweise in einer Bürgerkriegssituation kann sich als gruppengerichtete Verfolgung der der Gegenseite zugerechneten Zivilbevölkerung darstellen. Die Maßnahmen eines Staates, der faktisch die Rolle einer Bürgerkriegspartei einnimmt und in den umkämpften Bereichen seines Hoheitsgebietes nicht mehr als übergreifende, effektive Ordnungsmacht besteht, sind zwar dann keine politische Verfolgung im asylrechtlichen Sinne, wenn sie ein typisch militärisches Gepräge aufweisen und der Rückeroberung des Gebietes dienen, das zwar (noch) zum eigenen Staatsgebiet gehört, über das der Staat jedoch faktisch die Gebietsgewalt an den bekämpften Gegner verloren hat. Denn die Bekämpfung des Bürgerkriegsgegners durch staatliche Kräfte ist im Allgemeinen nicht politische Verfolgung. Führen allerdings die staatlichen Kräfte den Kampf in einer Weise, der auf die physische Vernichtung von auf der Gegenseite stehenden oder ihr zugerechneten und nach asylerheblichen Merkmalen bestimmten Personen gerichtet ist, obwohl diese keinen Widerstand mehr leisten wollen oder können oder an dem militärischen Geschehen nicht oder nicht mehr beteiligt sind, liegt politische Verfolgung vor. Dies gilt erst recht, wenn die staatlichen Maßnahmen in die Vernichtung oder Zerstörung der ethnischen, kulturellen oder religiösen Identität des aufständischen Bevölkerungsteils umschlagen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10.07.1989, BVerfGE 80, 315; BVerfG, Beschl. v. 09.12.1993, InfAuslR 1993, 105). Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung - wie für jede politische Verfolgung - ist ferner, dass die festgestellten asylrelevanten Maßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Wenn ein Staat einer ganzen Bevölkerungsgruppe pauschal zumindest eine Nähe zu separatistischen Aktivitäten oder gar generell deren Unterstützung unterstellt, so stellt sich auch die Frage, ob die Verfolgungsmaßnahmen - objektiv gesehen - auf die Volkszugehörigkeit gerichtet sind und an diese anknüpfen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 09.12.1993, InfAuslR 1993, 105; BVerwG, Urt. v. 05.07.1994, BVerwGE 96, 200; Urt. v. 30.04.1996, BVerwGE 101, 123). Nach dieser Rechtsprechung setzt zwar auch die Annahme einer politischen Gruppenverfolgung durch "Gegenterror" im Bürgerkrieg grundsätzlich eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus. Die Feststellungen zur Verfolgungsdichte bei einem überschießenden militärischen Vorgehen, welches als Gegenterror qualifiziert werden kann, unterscheiden sich aber hinsichtlich der Qualität und Quantität der Verfolgungsschläge typischerweise nicht unerheblich von solchen zu einem Verfolgungsgeschehen, welches punktuell nur einzelne Mitglieder einer Gruppe betrifft. Mit Rücksicht hierauf kann die Feststellung einer Vielzahl von militärischen Angriffen auf die Zivilbevölkerung, der wahllosen Bombardierung von Zivilobjekten, oder von häufigen Bombardierungen mit zahlreichen Opfern die erforderliche Verfolgungsdichte aus tatrichterlicher Sicht eher belegen als etwa die Feststellung lediglich häufiger Übergriffe auf Einzelpersonen bei anderen Formen der Gruppenverfolgung ( BVerwG, Urt. v. 15.07.1997, ZAR 1998, 136).
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Gehört der zwar persönlich unverfolgt ausgereiste Ausländer einer Gruppe an, deren Mitglieder im Herkunftsstaat zumindest regional kollektiv verfolgt werden, ist ebenfalls der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab anzuwenden. Das gilt auch dann, wenn diese (regionale) Gefahr als objektiver Nachfluchttatbestand erst nach der Ausreise des Schutzsuchenden auftritt; denn für den Angehörigen einer solchen Gruppe hat sich das fragliche Land nachträglich als Verfolgerstaat erwiesen. Voraussetzung für die Anwendung des herabgestuften Prognosemaßstabs auf unverfolgt ausgereiste Ausländer ist freilich stets, dass der Betroffene tatsächlich alle Kriterien erfüllt, an die der Verfolgerstaat die Anwendung von Verfolgungsmaßnahmen knüpft, anderenfalls ist er von der kollektiven Verfolgung von vornherein nicht betroffen. Als unverfolgt Ausgereistem ist ihm die Rückkehr in die Heimat zuzumuten, wenn ihm dort nach dem allgemeinen Prognosemaßstab nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht (BVerwG, Urt. v. 09.09.1997, BVerwGE 105, 204 <208 f.>).
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Bisweilen erstreckt sich die politische Verfolgung nicht auf das ganze Land, sondern nur auf einen Landesteil, so dass der Betroffene in anderen Landesteilen Schutz finden kann. Eine solche Möglichkeit internen Schutzes (vgl. Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie) schließt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG aus. Für maßgeblich hält das Gericht dabei nach Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie nur interne Schutzmöglichkeiten im Zeitpunkt der Entscheidung, d.h. eine zum Zeitpunkt der nach Beginn der Gruppenverfolgung erfolgten Ausreise nicht wahrgenommene interne Schutzmöglichkeit schließt die Annahme einer Vorverfolgung nicht aus (s.a. Marx, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl., § 7 Rdnr. 121). Von einer internen Schutzmöglichkeit ist auszugehen, sofern in einem Teil des Landes keine begründete Furcht vor Verfolgung besteht und von dem Ausländer vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich in diesem Landesteil aufhält (Art. 8 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie). Sie kommt mithin nur dort in Betracht, wo der Betroffene vor Verfolgung "hinreichend sicher" ist (BVerwG, Urt. v. 09.09.1997, BVerwGE 105, 204 <208>) und wo ihm keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese existentielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (BVerfG, Beschl. v. 10.07.1989, BVerfGE 80, 315 <343>). Die Einschränkung bei einer am Herkunftsort vergleichbaren Lage besteht nach Überzeugung des Gerichts auch unter Berücksichtigung von Art. 8 der Qualifikationsrichtlinie. Zwar nimmt die Norm unmittelbar nur auf die Situation in den möglicherweise Schutz bietenden Gebieten Bezug. Ein Ausweichen auf einen verfolgungssicheren Landesteil kann vom Antragsteller aber auch dann i.S.v. Art. 8 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie vernünftigerweise erwarten werden, wenn dort keine im Vergleich zur Situation am Herkunftsort neue existentielle Gefährdung droht (vgl. The House of Lords, Urt. v. 15.02.2006, zit. nach Dörig, Flüchtlingsschutz in Großbritannien, ZAR 2006, 272 <275 f.>). Zu diesen existentiellen Gefährdungen können vor allem die nicht mögliche Wahrung eines religiösen oder wirtschaftlichen Existenzminimums gehören (BVerwG, Urt. v. 15.05.1990, BVerwGE 85, 139). Es kommt darauf an, ob der Betroffene an dem Ort der internen Schutzalternative auf Dauer ein Leben unter dem Existenzminimum zu erwarten hat, das zu Hunger, Verelendung und schließlich Tod führt (BVerwG, Urt. v. 08.02.1989, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 104). Abzustellen ist dabei auf die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers zum Zeitpunkt der Entscheidung über seinen Antrag (Art. 8 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie). So kann eine interne Schutzalternative beispielsweise zu verneinen sein, wenn für den Betroffenen dort wegen in seiner Person liegender Merkmale wie etwa Behinderung oder hohes Alter das wirtschaftliche Existenzminimum nicht gewährleistet ist. Sie kann auch dann zu verneinen sein, wenn der Ausländer am Ort der Schutzalternative keine Verwandten oder Freunde hat, bei denen er Obdach oder Unterstützung finden könnte, und ohne eine solche Unterstützung dort kein Leben über dem Existenzminimum möglich ist (BVerwG, Urt. v. 14.12.1993, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 166).
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Nach diesen Grundsätzen hat die Klägerin aufgrund ihrer Angaben vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, ihrer Angaben im Klageverfahren sowie aufgrund der in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen einen Anspruch auf Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG.
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Die Klägerin hat allerdings aus individuellen Gründen keine gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigenden Verfolgungsmaßnahmen zu befürchten. Die Klägerin, bei der es sich zur Überzeugung des Gerichts um eine tschetschenische Volkszugehörige aus Grosny handelt, hat eine individuelle Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Ihre Angaben zu dem vermeintlichen Ereignis am 12.07.2003 waren weitgehend allgemein gehalten und wenig nachvollziehbar und deshalb nicht geeignet, das Gericht von einem solchen Geschehensablauf zu überzeugen. Die Klägerin erklärte in der mündlichen Verhandlung lediglich, russische Soldaten hätten ihr am 12.07.2003 vorgeworfen, ca. zehn Jahre zuvor im Parlament gearbeitet zu haben, und hätten sie ins Gesicht geschlagen. Dass die Klägerin demgegenüber noch bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt am 25.10.2003 zahlreiche Einzelheiten zu den Ereignissen am 10.06.2003 und 12.07.2003 zu schildern vermochte, lässt sich nicht mit der seitdem vergangenen Zeit erklären, sondern begründet erhebliche Zweifel am Wahrheitsgehalt der damals geschilderten fluchtauslösenden Ereignisse. Diese Zweifel werden dadurch erhärtet, dass die Klägerin vor dem Bundesamt detailliert von zur Bewusstlosigkeit führenden Misshandlungen berichtete. So habe sie einer der Russen an den Haaren über den Boden geschleift, andere hätten sie ins Gesicht und auf die Nieren geschlagen und schließlich in den Magen getreten, was zur Bewusstlosigkeit geführt habe. Diese Diskrepanz zu der sich in der Behauptung der Klägerin, ins Gesicht geschlagen worden zu sein, erschöpfenden Schilderung in der mündlichen Verhandlung ist nicht plausibel. Auch die Angaben der Klägerin zu den von den russischen Soldaten genannten Gründen für ihre Misshandlung wecken erhebliche Zweifel am Wahrheitsgehalt der Schilderungen. Wie bereits das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Bescheid vom 28.10.2005 feststellte, ist unverständlich, warum ihre sehr entfernte Verwandtschaft mit
Kasbek
Maschajev
die russischen Soldaten zur Misshandlung der Klägerin veranlasst haben soll, dem anwesenden, mit dem früheren Innenminister näher verwandten Vater jedoch nichts geschehen sei. Diese Unstimmigkeit kann die Klägerin auch nicht mit der in der mündlichen Verhandlung angedeuteten Behauptung auflösen, der Grund für die Misshandlungen sei ihre Tätigkeit in der Posteingangsstelle des tschetschenischen Parlaments von September 1993 bis April 1994 gewesen, denn bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt hat sie lediglich am Rande behauptet, von dem Führer der Gruppe russischer Soldaten befragt worden zu sein, was sie im Parlament gemacht habe.
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Nach Auswertung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel geht das Gericht aber mit den Oberverwaltungsgerichten der Freien Hansestadt Bremen (Urt. v. 31.05.2006 - 2 A 112/06.A -; Urt. v. 30.03.2005 - 2 A 114/03.A; Urt. v. 23.03.2005 - 2 A 11603.A -) und des Landes Sachsen-Anhalt (Urt. v. 31.03.2006 - 2 L 40/06 -, aufgehoben durch BVerwG, Urt. v. 01.02.2007 - 1 C 24.06 -) und dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof (Urt. v. 18.05.2006 - 3 UE 177/04.A -, s. dazu BVerwG, Beschl. v. 05.01.2007 - 1 B 121/06 -; Hess. VGH, Urt. v. 02.02.2006 - 3 UE 3021/03.A -) und in Abweichung zu seiner früheren Kammerrechtsprechung (vgl. Urt. v. 10.03.2004 - A 11 12494/03 und A 11 12230/03 -) davon aus, dass tschetschenische Volkszugehörige seit Ausbruch des zweiten Tschetschenienkrieges im September 1999 in Tschetschenien einer gegen tschetschenische Volkszugehörige als Gruppe gerichteten politischen Verfolgung ausgesetzt sind (s.a. OVG Schl.-H., Urt. v. 24.04.2003 - 1 LB 212/01 und 1 LB 213/01 - für den Entscheidungszeitpunkt; VG Berlin, Urt. v. 25.10.2006 - VG 33 X 83.02 – www.asyl.net; offen gelassen von VGH Bad.-Württ., Urt. v. 25.10.2006 - A 3 S 46/06 -; Bay. VGH, Urt. v. 19.06.2006 - 11 B 02.31598 -; Urt. v. 31.01.2005 - 11 B 02.31597 -; OVG NRW, Urt. v. 12.07.2005 - 11 A 2307/03.A -; OVG Schl.-H., Beschl. v. 31.07.2006 - 1 LB 124/05 -; Urt. v. 03.11.2005 - 1 LB 211/01 und 1 LB 259/01 -; OVG Saarl., Beschl. v. 29.05.2006 - 3 Q 1/06 -; Urt. v. 23.06.2005 - 2 R 17/03 -; OVG Nds., Beschl. v. 24.01.2006 - 13 LA 398/05 -; Beschl. v. 09.07.2003 - 13 LA 118/03 -; Beschl. v. 03.07.2003 - 13 LA 90/03 -; ablehnend nur Thür. OVG, Urt. v. 16.12.2004 - 3 KO 1003/04 -; OVG Nds., Beschl. v. 10.11.2005 - 13 LA 117/05 -).
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Eine Gruppenverfolgung tschetschenischer Volkszugehöriger in Tschetschenien seit Ausbruch des zweiten Krieges im September 1999 ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus den ihm vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel. Danach stellt sich die Situation tschetschenischer Volkszugehöriger in Tschetschenien seit September 1999 wie folgt dar:
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Aus Anlass des Einfalls tschetschenischer Rebellengruppen in Dagestan und der Ausrufung eines islamischen Staates dort sowie Bombenattentaten in Moskau, die von Seiten der russischen Regierung tschetschenischen Rebellen zugeschrieben wurden, setzte die Führung der Russischen Föderation ab September 1999 Bodentruppen, Artillerie und Luftstreitkräfte in Tschetschenien mit dem erklärten Ziel ein, die tschetschenischen Rebellengruppen zu vernichten, die das Ziel der Unabhängigkeit Tschetscheniens und die Errichtung eines islamischen Staates anstrebten. Im Verlauf der Kämpfe brachte die russische Armee Anfang des Jahres 2000 Grosny und im Frühjahr des Jahres 2000 große Teile Tschetscheniens unter ihre Kontrolle. Die Rebellengruppen zogen sich in die südlichen Bergregionen zurück und begannen einen bis heute andauernden Guerillakrieg und terroristische Anschläge (vgl. Auswärtiges Amt , Ad hoc-Bericht v. 24.04.2001; Bundesamt, Der Tschetschenienkonflikt, Januar 2001; UNHCR, Stellungnahme Januar 2002). Die russische Armee ihrerseits ging unter dem Vorwand der Terroristenbekämpfung mit äußerster Brutalität auch gegen die Zivilbevölkerung in Tschetschenien vor, die zum damaligen Zeitpunkt nach Schätzungen bereits im Wesentlichen aus tschetschenischen Volkszugehörigen bestand (vgl. UNHCR, Stellungnahme Januar 2002). Die russische Luftwaffe führte im Dauereinsatz Flächenbombardements gegen zahlreiche tschetschenische Städte und Ortschaften durch (amnesty international , RF: Tschetschenien, 22.12.1999; OVG Bremen, Urt. v. 31.05.2006 - 2 A 112/06.A - m.w.N.). Spitäler, Sanitätspersonal, andere Zivilisten und immer wieder Flüchtlingstrecks wurden vom Boden und aus der Luft durch russische Streitkräfte beschossen. Schon zu Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges kam es zu großen Fluchtbewegungen. Aufgrund des Einmarsches der russischen Armeeeinheiten und der Bombardierung der Städte flohen große Teile der Bevölkerung aus ihren Wohnorten in Tschetschenien. Die russische Armee hinderte die Flüchtlinge zum Teil bereits am Verlassen des Kampfgebietes, teilweise am Übertritt in die Nachbarrepubliken wie Inguschetien (AA, Ad hoc-Berichte v. 15.02.2000 und 15.11.2000). Dabei wurden auch Flüchtlingstrecks von der russischen Luftwaffe angegriffen. Insgesamt ist davon auszugehen, dass von den zu Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges in Tschetschenien lebenden 450.000 Einwohnern 350.000 gewaltsam aus ihren Wohnorten vertrieben worden sind, davon 160.000 an andere Orte in Tschetschenien und die übrigen in andere Teile der Russischen Föderation und das Ausland (UNHCR, Stellungnahme Januar 2002). Die russischen Armeeeinheiten haben, wie schon im ersten Tschetschenienkrieg, an mehreren Orten in Tschetschenien sog. Filtrationslager eingerichtet. In diese Lager wurden wahllos tschetschenische Einwohner gebracht, wo nach den Erklärungen der russischen Stellen Terroristen aufgespürt werden sollten. In den Lagern wurden die tschetschenischen Volkszugehörigen durch russische Spezialkräfte systematisch misshandelt, vergewaltigt, gefoltert und getötet (ai, Stellungnahme v. 08.10.2001; Stellungnahme des Europäischen Parlaments zur Lage in Tschetschenien vom 08.03.2001). Der bis zum 31. März 2006 amtierende Menschenrechtskommissar des Europarates, Gil-Robles, konnte bei seinem Besuch in Tschetschenien zwar auch Haftanstalten besuchen, ihm wurden jedoch ausschließlich frisch gestrichene Zellen gezeigt und Gespräche mit Gefangenen nur in Anwesenheit von russischen Bewachern erlaubt. Die Foltervorwürfe konnten dadurch nicht widerlegt werden (vgl. AA, Lagebericht v. 22.05.2000). Auf der Suche nach Terroristen überfielen russische Militäreinheiten ganze Dörfer, nahmen deren Bewohner willkürlich fest und misshandelten sie (ai v. 20.02.2002 an VG Braunschweig). Gespräche mit Flüchtlingen in den Lagern Inguschetiens haben die Gräueltaten der russischen Armee bestätigt. Die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen waren gravierend. Es kam zu willkürlichen Racheakten an der Zivilbevölkerung. Bei einer Explosion auf einem belebten Markt in Grosny am 21.10.1999 kamen nach Augenzeugenberichten 140 Menschen ums Leben, 400 wurden zum Teil schwer verletzt. Widersprüchliche Angaben gibt es über die Täter und deren Motive. Recherchen von internationalen Menschenrechtsorganisationen (Human Rights Watch, Bericht v. 20.01.2000) und Äußerungen von Angehörigen russischer Spezialkräfte legen die Vermutung sehr nahe, dass es sich bei dieser Tat um eine „Sonderkommandoaktion" russischer Spezialkräfte handelte, die auf dem Marktplatz Waffen und Sprengstoff tschetschenischer Rebellen vermuteten. Frauen berichteten gegenüber Vertreterinnen von internationalen Hilfsorganisationen von Vergewaltigungen seitens russischer Soldaten bei der Eroberung von Ortschaften in Tschetschenien. Bei den Massakern russischer Verbände in Alkhan-Yurt südwestlich von Grosny im Dezember 1999 und in den Bezirken Grosnys Novje Aldi und Staropromyslowskij kam es zu Massenexekutionen von über 130 Zivilisten und darüber hinaus zu Vergewaltigungen, Plünderungen und Brandstiftungen. Anders als die meisten Übergriffe, über die berichtet wurde, war das Massaker in Alkhan-Yurt Gegenstand einer russischen Untersuchung, die allerdings nicht in ein Strafverfahren einmündete (AA, Ad hoc-Bericht v. 15.11.2000, Lagebericht v. 22.05.2000).
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Auch nach dem von Präsident Putin erklärten Ende des zweiten Tschetschenienkriegs im Jahr 2000 oder dem Beginn des politischen Prozesses im Jahr 2003 änderte sich die Vorgehensweise gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung nicht grundlegend. Gezielt und systematisch durchgeführte Menschenrechtsverletzungen an Zivilisten durch russische Streitkräfte - Folter, Misshandlungen, Plünderungen, extralegale Verhaftungen und willkürliche Tötungen sowie „Verschwindenlassen“ vor allem während sog. „Säuberungsaktionen“ und in Hafteinrichtungen - hielten nach den Berichten internationaler und russischer Menschenrechtsorganisationen an und stellten nach wie vor eine reale Bedrohung für die Bevölkerung Tschetscheniens dar (ai, Stellungnahme v. 08.10.2001). Bestand der Verdacht, dass sich in einem Dorf Rebellen versteckt halten, fanden Säuberungsaktionen durch russische Soldaten statt. Die Männer wurden auf körperliche Spuren von Kampfhandlungen untersucht, die eroberten Häuser geplündert und in Brand gesteckt, oftmals kam es zu Gewaltanwendungen gegenüber der Bevölkerung, zahllose tschetschenische Frauen wurden von russischen Soldaten vergewaltigt, es wurden willkürlich Zivilisten verhaftet (vgl. Bundesamt, Der Tschetschenienkonflikt, Januar 2001). Amnesty international berichtet (Stellungnahme v. 08.10.2001) über mehrere Operationen russischer Soldaten gegen tschetschenische Zivilisten im Juni/Juli 2001 in verschiedenen Dörfern, in denen Tschetschenen zusammengetrieben, geschlagen, misshandelt, gefoltert, gequält und einige Zeit festgehalten worden seien, wobei mehrere Inhaftierte anschließend verschwunden blieben. Zwar habe der Kommandant der Streitkräfte im Nordkaukasus am 11.07.2001 öffentlich eingeräumt, dass bei den Razzien in Srnowodosk und Assinowskaja in großem Umfang Verbrechen gegen Zivilisten begangen worden seien und es habe der Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation zwei Ermittlungsteams nach Tschetschenien entsandt, um die Aktivitäten des Militärs untersuchen zu lassen. Dennoch sei es danach weiter zu „Säuberungsaktionen“ und schweren Menschenrechtsverletzungen an Zivilisten durch Angehörige der russischen Armee gekommen. Auch im August und im September 2001 habe amnesty international Berichte von „Säuberungsaktionen“ in Tschetschenien erhalten. Kriegsverbrechen und Massaker blieben ungesühnt, da die russische Führung kein Interesse an einer Aufklärung und strafrechtlichen Verfolgung zeigte (Bundesamt, Der Tschetschenienkonflikt, Januar 2001). Nach den Berichten der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch haben die russischen Streitkräfte Zehntausende Tschetschenen inhaftiert. Basierend auf den Aussagen ehemaliger Insassen der Haftanstalten von Tschernokosowa sowie von weiteren Haftanstalten in Tschetschenien (in Tolstoy-Yurt, Chankala und Urs-Martan ) als auch in der Provinz Stavropol und in Mosdok stellte Human Rights Watch in seinem Worldreport 2001 fest, dass seit Beginn des bewaffneten Konflikts im Oktober 1999 Tausende Tschetschenen an Kontrollposten sowie anlässlich von Eroberungen und Razzien von russischen Organen festgenommen worden seien. Die Verhaftungen seien zumeist mit fadenscheiniger Begründung erfolgt. Viele seien inhaftiert worden, weil sie nicht an ihrer offiziell registrierten Adresse vorgefunden worden seien, weil ihre Dokumente unvollständig gewesen seien und weil sie den gleichen Nachnamen wie ein Rebellenführer getragen hätten, weil ihr ursprünglich gesuchter Verwandter abwesend gewesen sei oder weil sie ausgesehen hätten wie Kämpfer. Während der Haft seien Männer und Frauen z. T. zu Tode geschlagen und vergewaltigt worden. Oft wären sie nur gegen Lösegeldzahlung freigekommen. Die Täter könnten damit rechnen, dass ihnen keine Strafen drohten. Unabhängige Beobachter seien sich darin einig, dass die von der russischen Regierung eingesetzten Organe zu eingehenden und unparteiischen Untersuchungen aller Menschenrechtsverletzungen und der Verurteilung der Täter bisher versagt hätten (vgl. Nachw. bei OVG Bremen, Urt. v. 31.05.2006 - 2 A 112/06.A -). Der Verbleib von vielen in „Filtrationslagern“ und sonstigen teils provisorischen und geheimen Hafteinrichtungen (Eisenbahnwagen, Erdlöcher in der Nähe von Militärstützpunkten) inhaftierten Personen bleibe ungeklärt. Jüngste Schätzungen über die nach Festnahmen durch russische Kräfte „verschwundenen“ Personen variierten zwischen 400 Personen, einer von offizieller russischer Seite genannten Zahl, und 18.000 Personen, einer vom Europarat genannten Zahl. Es sei erforderlich darauf hinzuweisen, dass auch in Hafteinrichtungen und „Filtrationslagern“ immer wieder Vergewaltigungen durch einen oder mehrere Täter stattfänden. Diesen Vergewaltigungen fielen auch Kinder und Jugendliche zum Opfer. An den Grenzkontrollstellen komme es regelmäßig und willkürlich zu Menschenrechtsverletzungen. Flüchtlinge, Personen, die regelmäßig zwischen den Regionen hin und her reisten, und Tschetschenen, die aus Inguschetien kommend die Grenze überschreiten wollten, um in Tschetschenien nach Verwandten zu suchen, würden von den russischen Soldaten zusammengeschlagen, angeschossen oder erschossen (ai, Ad hoc-Bericht v. 24.04.2001; OVG Bremen, Urt. v. 31.05.2006 - 2 A 112/06.A - m.w.N.).
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In der Folge der Geiselnahme im Moskauer Musiktheater „Nord-Ost" (Oktober 2002) hatte der russische Verteidigungsminister umgehend breit angelegte, harte „Säuberungsoperationen" in ganz Tschetschenien angekündigt. Es wurden systematisch Ortschaft für Ortschaft von bewaffneten Kräften umstellt und durchsucht. Wenige Tage nach Beginn der Operation wurden Argun, Berkart-Yurt sowie zahlreiche kleinere Ortschaften in den Bezirken Grosny, Schalinskij und Wedenskij von Sicherheitskräften umstellt, durchsucht und bereits über 5.000 „Verdächtige" zeitweise interniert. Nach welchen Kriterien die vereinigten Kräftegruppierungen diese Internierung vornahmen, ist nicht bekannt. Es gab Hinweise auf insgesamt 60 parallel ablaufende Operationen in 45 Ortschaften (AA, Lagebericht 30.08.2005). Am 09.04.2004 wurden in der Nähe von Sershen-Jurt im Bezirk Schali/Tschetschenien die Leichen von neun Tschetschenen gefunden, die Folterspuren und Schussverletzungen aufwiesen. Acht der Männer waren nach einer gezielten "Säuberungsaktion" von Sicherheitskräften in den frühen Morgenstunden des 27.03.2004, der neunte in der Nacht zum 02.04.2004 spurlos "verschwunden". Am 04.06.2005 wurden bei einer von ca. 200-400 Sicherheitskräften im tschetschenischen Dorf Borozdinovskaja durchgeführten Säuberungsaktion elf Dorfbewohner wegen angeblicher Unterstützung von Rebellen festgenommen. Vier Häuser wurden niedergebrannt. In einem dieser Häuser wurde später die Leiche eines Dorfbewohners gefunden (AA, Lagebericht v. 15.02.2006). Am 18.04.2005 kündigten die Sicherheitsbehörden den Beginn einer groß angelegten Spezialoperation mit 2000 Mann in den Bergen des Distrikts Vedeno an. Nachdem wiederholt Hubschrauber in der Nähe von Militärstützpunkten abgeschossen wurden, wurden nach der Moskauer Geiselnahme in Tschetschenien - ohne Koordination mit zivilen Verwaltungsstellen - Häuser gesprengt, die möglicherweise Deckung für den Abschuss von tragbaren Flugabwehrraketen bilden könnten. Tschetschenen, die in diesen Häusern lebten, wurden als Unterstützer von „Terroristen" verhaftet, weil sie nicht aktiv an der Verhinderung von Anschlägen mitgewirkt hätten (vgl. AA, Lagebericht v. 30.08.2005). Menschenrechtler kritisieren, dass die Behörden wahllos Flüchtlinge unter Druck gesetzt und kriminalisiert hätten (AA, Lagebericht v. 15.02.2006).
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Mit der Wahl eine tschetschenischen Parlaments am 27.11.2005 ist für Moskau der 2003 begonnene „politische Prozess“ zur Beilegung des Tschetschenienkonflikts abgeschlossen; Präsident Putin erklärte bei seiner Jahrespressekonferenz am 31.01.2006 die „antiterroristische Operation“ zum wiederholten Male für beendet (AA, Lagebericht v. 18.08.2006). Gleichwohl ist nach vor die Sicherheit der Zivilbevölkerung in Tschetschenien nicht gewährleistet. Der Konflikt ist nicht gelöst, sondern lediglich „
tschetschenisiert
“: Die russischen Streitkräfte überlassen das Feld immer mehr ihren tschetschenischen Verbündeten. Vor allem die Truppen des Vizepräsidenten Ramsan Kadyrow, die sog.
Kadyrowski
, haben sich einen zweifelhaften Ruf zugelegt (Ammann , Tschetschenien, 07.11.2005). Sie sind von der Bevölkerung noch stärker gefürchtet als die russischen Sicherheitskräfte (SFH v. 24.05.2004). Sie dürften inzwischen die föderalen Truppen als Hauptverantwortliche für Verschleppungen abgelöst haben (so Human Rights Watch, vgl. AA, Lagebericht v. 18.08.2006). Laut Memorial (Zur Situation der Bürger Tschetscheniens in der Russischen Föderation, Juni 2004 bis Juni 2005) finden deren Einsätze mit Unterstützung, Mitwirkung oder zumindest Billigung der föderalen Truppen statt. In den Gebieten, in denen sich russische Truppen aufhalten (dies betrifft mit Ausnahme der schwer zugänglichen Gebirgsregionen das gesamte Territorium der Teilrepublik), leidet die Bevölkerung einerseits unter den ständigen Razzien, „Säuberungsaktionen“, Plünderungen und Übergriffen durch russische Soldaten und Angehörige der Truppen von Ramsan Kadyrow und andererseits unter Guerillaaktivitäten und Geiselnahmen der Rebellen (AA, Lagebericht v. 15.02.2006; s.a. Ammann , Tschetschenien, 07.11.2005). Zu den erheblichen Menschenrechtsverletzungen durch russische und pro-russische tschetschenische Sicherheitskräfte zählen insbesondere willkürliche Festnahmen, Entführungen, Misshandlungen, Vergewaltigungen, Sachbeschädigungen und Diebstähle (AA, Lagebericht v. 18.08.2006). An die Stelle flächendeckender "Säuberungsaktionen" sind gezielte "Säuberungsaktionen" getreten. Angaben von russischer Seite, dass die fortgesetzten Entführungen ausschließlich auf das Konto von als Soldaten verkleideten Rebellen oder der persönlichen Sicherheitskräfte des Leiters der tschetschenischen Verwaltung Kadyrow gingen, sind unglaubwürdig. Fest steht, dass die Opfer häufig nicht erkennen können, wer die Täter sind (vgl. auch Hess. VGH, Urt. v. 18.05.2006 - 3 UE 177/04.A -; OVG Sachs.-Anh., Urt. v. 31.03.2006 - 2 L 40/06 -; Memorial, Menschen aus Tschetschenien in der RF Juli 2005 - Juli 2006). Massive Menschenrechtsverletzungen durch russische und pro russische tschetschenische Sicherheitskräfte räumen auch offizielle russische Vertreter ein, wenn auch mit Hinweis auf Verbesserungen. Diesen Eindruck teilen die Nichtregierungsorganisationen nicht. Ihren Angaben zufolge ist die Zahl von Rechtsverletzungen (willkürliche Festnahme, Entführungen, Verschwinden von Menschen, Misshandlungen, Vergewaltigungen, Sachbeschädigungen, Diebstähle) jedenfalls nicht deutlich gesunken (vgl. OVG Bremen, Urt. v. 31.05.2006 - 2 A 112/06.A -). Bedenklich ist weiterhin - so die Nichtregierungsorganisationen, kritische Beobachter und Presseberichte - die sich fortsetzende weitgehende Straflosigkeit nach Übergriffen durch die Sicherheitskräfte (vgl. AA, Lagerberichte v. 30.08.2005 und 15.02.2006 m.w.N.). Zahlreich sind nach wie vor Fälle des "Verschwindenlassens" von Zivilisten (AA, Lagebericht v. 18.08.2006). Die Menschenrechtsorganisation Memorial dokumentierte 447 Entführungsfälle im Jahr 2004 (Memorial, Menschen aus Tschetschenien in der RF Juli 2005 - Juli 2006, S. 37) Behördenvertreter und Politiker Tschetscheniens gehen für den gleichen Zeitraum von 175, 281 bzw. 500 Entführungsopfern aus (AA, Lagebericht 30.08.2005). Im Jahr 2005 wurden nach Memorial 317 Menschen entführt, von denen 126 befreit, 23 getötet, 15 in Untersuchungshaft und 153 immer noch vermisst seien. Von Januar bis Mai 2006 ist es nach Memorial zu weiteren 103 Entführungen gekommen, von den Entführten seien 50 befreit und sechs getötet worden. 38 seien noch verschwunden. Aufgrund der Tatsache, dass Memorial nur etwa 25 bis 30 % des tschetschenischen Territoriums beobachtet, dürfte die tatsächliche Zahl wesentlich höher sein (AA, Lagebericht v. 18.08.2006). Seit Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges im Jahr 1999 seien insgesamt etwa 5.000 Personen verschwunden. Entführungen werden sowohl den russischen und den pro russischen tschetschenischen Truppen als auch den Rebellen angelastet. Eine Liste der Menschenrechtsorganisation „Mütter Tschetscheniens“, deren Erstellung im Rahmen eines Menschenrechtsprojektes durch das Auswärtige Amt gefördert wurde, dokumentiert die Fälle von 451 seit Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges (1999) spurlos verschwundenen Menschen und schaltet russische und tschetschenische Zivil- und Militärbehörden ein. Auf keine der Anfragen an die Behörden hat es bisher einen positiven Bescheid gegeben, in keinem Fall ist es bisher gelungen, eine vermisste Person lebend wiederzufinden. Menschenrechtsorganisationen wie Memorial oder die Moskauer Helsinkigruppe gehen von monatlich 50 bis 80 bei „Säuberungen“ verschwundenen Personen aus (vgl. AA, Lagebericht 30.08.2005).
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Aus alledem ergibt sich, dass die russische Armee und die mit ihr verbundenen pro-russischen tschetschenischen Kräfte seit September 1999 den Bürgerkrieg gegen die tschetschenischen Separatisten in einer Weise führen, die sich als Gegenterror gegen die dort lebende tschetschenische Zivilbevölkerung darstellt. Angesichts der oben geschilderten Sachlage geht das Gericht davon aus, dass der russische Staat seit dem zweiten Tschetschenienkrieg die ganze Bevölkerungsgruppe der Tschetschenen pauschal verdächtigt, die Rebellen zu unterstützen und sie - objektiv gesehen - nur deswegen und ohne Feststellung einer konkreten Beteiligung an separatistischen Aktivitäten mit Mitteln bekämpft, die über die erforderliche staatliche Gegenwehr zur Rückeroberung bzw. Behauptung der effektiven Gebietsgewalt und Wiederherstellung der staatlichen Friedensordnung hinausgehen, so dass sich dies als eine sowohl an die vermutete politische Überzeugung als auch an die Ethnie anknüpfende Verfolgung der gesamten Volksgruppe der Tschetschenen darstellt. Die erkennbare Gerichtetheit der Maßnahmen der russischen Streitkräfte und der mit ihnen verbundenen tschetschenischen Kräfte gegen die tschetschenische Zivilbevölkerung hat die Regierung der Russischen Föderation zumindest stillschweigend hingenommen, weshalb ihr diese Maßnahmen zuzurechnen sind. Der russische Staat lässt es zu, dass seine Militärkräfte auf eine die Zivilbevölkerung in ihrer Gesamtheit asylrechtlich relevanten Übergriffen aussetzenden Art und Weise operieren.
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Angesichts des in vielen Einzelheiten dokumentierten Vorgehens gegen die Zivilbevölkerung in Tschetschenien und der dabei erfolgenden massenhaften und massiven Verletzung asylrechtlich geschützter Rechtsgüter ist davon auszugehen, dass tschetschenische Volkszugehörige in Tschetschenien unabhängig davon, ob bei ihnen der konkrete Verdacht der Unterstützung von separatistischen Gruppierungen bestand, unmittelbar und jederzeit damit rechnen mussten und müssen, selbst Opfer der Übergriffe der russischen Armeeeinheiten oder der verbündeten tschetschenischen Kräfte zu werden. Dabei hat das OVG Bremen (Urt. v. 31.05.2006 - 2 A 112/06.A -) zutreffend darauf hingewiesen, dass die Zahl der von den asylerheblichen Eingriffen der genannten Art in Tschetschenien Betroffenen nicht exakt beziffert werden kann. Aufgrund der weitgehenden Behinderung einer unabhängigen Berichterstattung über die Situation in Tschetschenien durch die russische Behörden seit Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges es nur sehr eingeschränkt möglich ist, zuverlässige und verifizierbare Informationen aus und über Tschetschenien zu erhalten (AA, Ad hoc-Bericht v. 27.11.2002), so dass die in den bezeichneten Berichten mitgeteilten zahlreichen Referenzfälle das wirkliche Ausmaß des Verfolgungsgeschehens in Tschetschenien nicht abschließend wiederzugeben vermögen und die Dunkelziffer über weitere asylerhebliche Verfolgungsfälle beträchtlich ist. Das Gericht geht davon aus, dass eine Vielzahl weiterer Fälle aufgrund der Beschränkungen in der Berichterstattung und der von Memorial beobachteten Zurückhaltung vieler Betroffener, Menschenrechtsorganisationen von Übergriffen zu berichten (Menschen aus Tschetschenien in der RF Juli 2005 - Juli 2006, S. 37), keinen Eingang in die Erkenntnismaterialien gefunden hat. Die demnach anzunehmende Intensität und Häufigkeit der Verfolgungshandlungen rechtfertigen auch in Bezug auf die Größe der betroffenen Gruppe die Annahme einer Gruppenverfolgung. Bei der Volkszählung 1998 wurden in der noch ungeteilten Republik 734.000 Tschetschenen gezählt (UNHCR, Stellungnahme Januar 2002). Anfang 2002 lebten wegen des nur durch eine dreijährige Pause unterbrochenen jahrelangen Krieges in Tschetschenien schon aus der Zeit vor dem neuerlichen Tschetschenienkrieg ca. 600.000 der insgesamt 1.000.000 Tschetschenen nicht in Tschetschenien, sondern in anderen russischen Regionen bzw. GUS-Staaten (vgl. AA, Ad hoc-Bericht vom 07.05.2002). Die Volkszählung im Oktober 2002 ergab nach offiziellen Angaben zwar eine Zahl von über 1.000.000 Tschetschenen in Tschetschenien, der aber nicht gefolgt werden kann, nachdem unabhängige Beobachter und Nichtregierungsorganisationen diesem Ergebnis sehr kritisch gegenüberstehen und teilweise von einer Mehrfachregistrierung von Personen ausgehen, deren Gründe in finanziellen Anreizen der Registrierung und in der Furcht vor Säuberungsaktionen bei einer zu geringer Zahl von Tschetschenen in Tschetschenien liegen könnten. Vorherige Schätzungen waren von einer durch Flüchtlinge, Auswanderung und Kriegsopfer erheblich gesunkenen Einwohnerzahl für Tschetschenien ausgegangen und hatten zwischen 450.000 bis 800.000 Tschetschenen in Tschetschenien geschwankt (vgl. AA, Lageberichte v. 27.11.2002, 16.02.2004, 13.12.2004, 30.08.2005, 15.02.2006; OVG Bremen, Urt. v. 23.03.2005 - 2 A 11603.A -). Nach der geschätzten Bevölkerungsentwicklung in Tschetschenien und unter Abzug der von den Eingriffen nicht betroffenen jüngeren Kinder dürfte sich die Zahl der potentiell Betroffenen nunmehr auf ca. 400.000 Personen belaufen (vgl. OVG Bremen, Urt. v. 31.05.2006 - 2 A 112/06.A -; Urt. v. 23.03.2005 - 2 A 11603.A -; OVG Sachs.-Anh., Urt. v. 31.03.2006 - 2 L 40/06 -; Hess. VGH, Urt. v. 02.02.2006 - 3 UE 3021/03.A -).
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Dies alles rechtfertigt die Annahme einer andauernden Gruppenverfolgung der tschetschenischen Zivilbevölkerung in der Teilrepublik Tschetschenien.
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Es kann dahinstehen, ob der Klägerin im Zeitpunkt ihrer Ausreise eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung stand, da sie zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht auf interne Schutzmöglichkeiten in anderen Gebieten der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens verwiesen werden kann.
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Nach den allgemeinen Gegebenheiten in den als interne Schutzalternativen in Frage kommenden Gebieten und den persönlichen Umständen der Klägerin kann es von dieser nicht vernünftigerweise erwartet werden, sich in diese Gebiete zu begeben, da ihr dort andere existentielle Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen und die in Tschetschenien so nicht bestünden.
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Die Klägerin kann von vornherein nicht auf interne Schutzmöglichkeiten im Nordkaukasus verwiesen werden. Der ungelöste Tschetschenienkonflikt greift immer mehr auf die Nachbarrepubliken im Nordkaukasus über und destabilisiert inzwischen die gesamte Region. Nach Tschetschenien am meisten betroffen sind Inguschetien und Dagestan. In Dagestan finden verstärkt seit Jahresbeginn 2005 nahezu täglich Sprengstoffanschläge und Schießereien mit Toten und Verletzten statt. Nach Angaben von Nichtregierungsorganisationen und unabhängigen Beobachtern verüben dagestanische Sicherheitskräfte schwere Menschenrechtsverletzungen allen voran willkürliche Festnahmen und Folter. In Inguschetien ist dieselbe Tendenz zu beobachten. Die Sicherheitslage dort wird inzwischen von internationalen Organisationen (u. a. den Vereinten Nationen) als ebenso brisant wie in Tschetschenien eingeschätzt. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen kommt es in Inguschetien zu schweren Menschenrechtsverletzungen, verübt durch russische wie einheimische Sicherheitskräfte und tschetschenische Rebellen, denen sich immer mehr Inguschen anschließen. Die Geiselnahme von Beslan 2004 und die Kämpfe in Naltschik im September 2005 zeigen, dass die vormals eher ruhigen Republiken wie Kabardino-Balkarien und Nordossetien zunehmend in die Gewaltspirale einbezogen werden. Urheber der Anschläge sind verschiedene untereinander vernetzte islamische Gruppierungen. Der von russischen und einheimischen Sicherheitskräften geführte Kampf gegen den Terrorismus nimmt nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen immer brutalere Formen an. Willkürliche Verhaftungen, Verschwindenlassen, Folter und Mord an „Terrorverdächtigen“ sind nach übereinstimmenden Angaben aller Beobachter im gesamten Nordkaukasus an der Tagesordnung (vgl. zu allem AA, Lagebericht v. 15.02.2006).
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Die übrigen Gebiete in der Russischen Föderation sind für die Klägerin ebenfalls keine zumutbaren Zufluchtsgebiete, da sie dort aufgrund ihrer persönlichen Umstände nicht in der Lage wäre, innerhalb eines absehbaren Zeitraums eine Registrierung zu erlangen, und ohne eine solche Registrierung existentiellen Gefahren ausgesetzt wäre.
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Tschetschenen aus Tschetschenien steht wie allen russischen Staatsbürgern das in der Verfassung verankerte Recht der Freizügigkeit, der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthaltsrechts in der Russischen Föderation zu (AA, Lagebericht v. 15.02.2006). Durch das Föderationsgesetz Nr. 52421 vom 25.06.1993 wurde ein Registrierungssystem eingeführt, bei dem die Bürger den örtlichen Dienststellen des Innenministeriums ihren Wohnort (sog. „dauerhafte Registrierung“) oder falls davon abweichend ihren Aufenthaltsort (sog. „vorübergehende Registrierung“) melden, im Gegensatz zu dem früher geltenden „Propiska“-System, das die Polizeibehörden ermächtigte, den Bürgern den Aufenthalt oder die Niederlassung an einem bestimmten Ort zu gestatten oder zu verwehren (UNHCR, Auskunft v. 29.10.2003; AA, Auskunft v. 12.11.2003, jew. an den Bay. VGH). Nur wer die Bescheinigung seines Vermieters vorweist, kann sich registrieren lassen (vgl. AA, Lagebericht v. 15.02.2006). Die Registrierung legalisiert den Aufenthalt, und die Registrierung am Wohnort ist Voraussetzung für den Zugang zur Sozialhilfe, zu staatlich gefördertem Wohnraum, zum kostenlosen Gesundheitssystem, zu den Bildungseinrichtungen und zum legalen Arbeitsmarkt (vgl. AA, Lagebericht v. 30.08.2005; UNHCR, Auskunft v. 29.10.2003 an den Bay. VGH). Wer nicht registriert ist, läuft Gefahr, verhaftet oder mit einer Geldstrafe belegt zu werden. Personen, denen die Registrierung verwehrt wird, versuchen ihr Überleben unter Vorenthaltung elementarer sozialer Rechte sicherzustellen. Sie sind bei Kontrollen zudem der Willkür staatlicher Bediensteter ausgeliefert (UNHCR, Auskunft v. 29.10.2003 an den Bay. VGH) und daher auf ein Leben in der Illegalität verwiesen.
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An vielen Orten ist der legale Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken der Russischen Föderation durch restriktive örtliche Vorschriften oder Verwaltungspraktiken stark erschwert. Diese Zuzugsbeschränkungen gelten unabhängig von der Volkszugehörigkeit, wirken sich jedoch im Zusammenhang mit antikaukasischer Stimmung stark auf die Möglichkeit rückgeführter Tschetschenen aus, sich legal dort niederzulassen. Tschetschenen haben erhebliche Schwierigkeiten, außerhalb Tschetscheniens eine offizielle Registrierung zu erhalten. In einem Sonderbericht vom Oktober 2000 kritisierte der Ombudsmann der Russischen Föderation die regionalen Vorschriften, die im Widerspruch zu den nationalen Vorschriften stehen, sowie rechtswidrige Vollzugspraktiken. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen berichten, dass Tschetschenen häufig die Registrierung verweigert wird. Während in bestimmten Orten und Regionen eine Registrierung für Tschetschenien nur unter ganz besonders erschwerten Bedingungen möglich ist - abgesehen von den bereits als Schutzalternative ausgeschlossenen Gegenden sind dies insbesondere Moskau, St. Petersburg und die Regionen Krasnodar und Stawropol (vgl. Hess. VGH, Urt. v. 18.05.2006 - 3 UE 177/04.A) - ist eine Registrierung in anderen Gebieten abhängig von der individuellen Durchsetzungsfähigkeit und den Möglichkeiten des Schutzsuchenden sowie seiner persönlichen Beziehungen und Anknüpfungspunkte außerhalb der tschetschenischen Republik im Einzelfall auch durchsetzbar. Dies rechtfertigt es nicht, ohne weiteres das Bestehen einer inländischen Schutzalternative für jeden tschetschenischen Asylsuchenden zu bejahen. Eine solche inländische Schutzalternative kann auch nicht mit dem pauschalen Hinweis angenommen werden, dass - entgegen der Einschätzung von Memorial, wonach die Registrierung für Tschetschenen immer ein großes Problem ist (Menschen aus Tschetschenien in der RF Juli 2005 - Juli 2006, S. 27) - in nicht näher zu bezeichnenden anderen Gebieten der Russischen Föderation möglicherweise eine Registrierung bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen problemlos zu erlangen ist, denn grundsätzlich kann von einer in ihrer Heimatregion verfolgten Person nicht verlangt werden, in ihrem Herkunftsland ohne weitere Orientierung "herumzuvagabundieren", bis sie schließlich, ggfs. nach mehreren erfolglosen Versuchen, einen sicheren Ort ausfindig macht (so zutreffend Hess. VGH, Urt. v. 18.05.2006 - 3 UE 177/04.A). Es ist vielmehr im Einzelfall zu klären, ob davon ausgegangen werden kann, dass der Betroffene trotz zu erwartender Schwierigkeiten auch in den übrigen Landesteilen der Russischen Föderation bei der Registrierung sich innerhalb eines ihm nach seiner individuellen Situation zuzumutenden Zeitraums erfolgreich gegen unrechtmäßige Behinderungen wird zur Wehr setzen können. Selbst wenn hiervon im Einzelfall nicht auszugehen ist, steht dies der Annahme interner Schutzmöglichkeiten nur dann entgegen, wenn ein Leben in der Illegalität von dem Betroffenen nicht vernünftigerweise erwartet werden kann, weil es mit existentiellen Gefahren verbunden wäre. Besonderes Gewicht kommt hinsichtlich beider Fragestellungen regelmäßig den vorhandenen Beziehungen des Schutzsuchenden zu außerhalb von Tschetschenien innerhalb der Russischen Föderation lebenden Personen, seinen persönlichen Fähigkeiten, seiner individuellen familiären Situation und seinen finanziellen Mitteln zu (vgl. AA, Lagebericht v. 30.08.2005).
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Nach diesen Maßstäben kommt es vorliegend nicht darauf an, ob es der Klägerin zumutbar wäre, sich zur Erfüllung der gesetzlichen Registrierungsvoraussetzungen, namentlich zur Erlangung eines gültigen russischen Inlandspasses, vorübergehend nach Tschetschenien zu begeben (siehe dazu ablehnend Hess. VGH, Urt. v. 18.05.2006 - 3 UE 177/04.A -; OVG Sachs.-Anh., Urt. v. 31.03.2006 - 2 L 40/06 -; a.A. Bay. VGH, Urt. v. 19.06.2006 - 11 B 02.31598 -; OVG Schl.-H., Beschl. v. 31.07.2006 - 1 LB 124/05 -), denn selbst ein russischer Inlandspass bewahrt die Klägerin angesichts ihrer persönlichen Situation nicht vor existentiellen Gefahren in den potentiellen Schutzgebieten. Die Klägerin ist eine alleinstehende Mutter einer am ....2005 geborenen Tochter, für die sie sorgen muss. Sie hat nach ihren glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung keine Angehörigen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens, auf deren Hilfe sie zurückgreifen könnte. Es gibt auch keinen allgemeingültigen Erfahrungssatz, wonach tschetschenische Landsleute in der Diaspora einander helfen, auch wenn sie nicht miteinander bekannt oder verwandt sind. Auch sonstige Anknüpfungspunkte der Klägerin zu diesen Gebieten sind nicht erkennbar. Die Klägerin hat abgesehen von einem Aufenthalt in Inguschetien nie außerhalb Tschetscheniens in der Russischen Föderation gelebt. Unter diesen Umständen werden die administrativen Widerstände und tatsächlichen Erschwernisse, die die Klägerin bei der Durchsetzung ihres Rechts auf legalen Aufenthalt im Gebiet der inländischen Fluchtalternative zu überwinden hat, sie nach den Umständen ihres Einzelfalles in eine ausweglose Lage versetzen (vgl. auch Hess. VGH, Urt. v. 02.02.2006 - 3 UE 3021/03.A -; OVG Bremen, Urt. v. 31.05.2006 - 2 L 40/06 -). Möglicherweise könnte sie sich schon vor ihrer Rückreise aus Deutschland bei den Beratungsstellen von Memorial oder der tschetschenischen Vertretung in Moskau, die es dort offensichtlich gibt (vgl. AA, Lagebericht v. 15.02.2006), konkrete Orte der tschetschenischen Diaspora benennen lassen, an die sie sich mit ihrer Tochter begeben kann und wo eine Registrierungsmöglichkeit für Tschetschenen erfahrungsgemäß eher gegeben ist. Bei der Suche nach Wohnraum an den so ausfindig gemachten Orten könnten ihr die Beratungsstellen von Memorial jedoch nicht behilflich sein (vgl. Offener Brief v. 16.10.2005). Nach Memorial (Menschen aus Tschetschenien in der RF Juli 2005 - Juli 2006, S. 27; Offener Brief v. 16.10.2005) ist es sehr schwierig, Vermieter zu finden, die überhaupt an Tschetschenen vermieten. Häufig drohten Milizionäre, die verpflichtet seien, regelmäßig von Tschetschenen bewohnte Häuser zu besuchen, den Vermietern mit Unannehmlichkeiten. In der Folge scheuten sich die meisten Vermieter, ihren Mietern eine Registrierung zu unterschreiben. Letzteres sei dann anzutreffen, wenn die Vermieter ihre Wohnung nur noch an Menschen vermieten könnten, die aus dem Nordkaukasus kämen. Die Hilfe von Memorial bei der Registrierung sei nur möglich, wenn die Vermieter dies wollten, was selten der Fall sei. Aufgrund dieser Gegebenheiten ist davon auszugehen, dass die Suche nach Wohnraum, dessen Nachweis für eine Registrierung erforderlich ist, sich für die Klägerin sehr zeitaufwendig und langwierig gestalten und Orientierungen an verschiedenen Orten erfordern würde, was mit einem - Kosten verursachenden - Herumreisen der mittellosen Klägerin mit ihrem Kleinkind an verschiedenen Orten verbunden wäre. Langwierig wäre auch das sich anschließende Registrierungsverfahren selbst. Memorial (Offener Brief v. 16.10.2005; Menschen aus Tschetschenien in der RF Juli 2005 - Juli 2006, S. 27; Auskunft v. 30.03.2005 an den Bay. VGH) weist darauf hin, dass der Kampf um eine Registrierung Monate, manchmal sogar Jahre dauern könne. Dass sich die Klägerin gegen die restriktiven Registrierungspraktiken wider alle praktischen Erfahrungen zeitnah zur Wehr setzen könnte, kann nicht angenommen werden, da sie weder einflussreiche Persönlichkeiten kennt, noch über finanzielle Mittel zur „Beeinflussung“ ihres Antrags bei den zuständigen Behörden verfügt, ihr Recht auf Registrierung vielmehr gegen die Vorbehalte der örtlichen Behörden ggf. im Wege eines Gerichtsverfahrens durchsetzen müsste. Damit wäre die Klägerin darauf angewiesen, während dieser Zeit illegal zu leben ohne Zugang zum legalen Arbeitsmarkt, zur staatlichen Unterstützungsleistung und zur staatlichen Gesundheitsvorsorge. Auch wenn eine medizinische Notfallversorgung in dafür bestimmten Notfallkliniken auch für nicht Registrierte gewährleistet ist (vgl. AA, Lagebericht v. 15.02.2006), ist die Reduzierung der gesundheitlichen Versorgung ihres nicht einmal zweijährigen Kindes auf die Behandlung akuter Notfälle der Klägerin nicht zumutbar, weil für ihr Kind die tatsächliche Gefahr bestünde, ernsthafte und irreparable Gesundheits- und Entwicklungsschäden zu erleiden. Während der nicht prognostizierbaren Dauer ihres Lebens in der Illegalität wäre die Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit außer Stande, den existenziellen Lebensbedarf für sich und ihre Tochter zu bestreiten und gezwungen, insbesondere auch ihr Kind der Verelendung auszusetzen. Die Betreuungsleistungen für ihr Kind, die sie voraussichtlich selbst zu erbringen hätte, da sie auf die Hilfe von Verwandten und Bekannten nicht zurückgreifen könnte, hindern die Klägerin auch daran, in der sog. Schattenwirtschaft einer das wirtschaftliche Existenzminimum der Familie gewährleistenden Erwerbstätigkeit nachzugehen. Auf ihre Ausbildung oder Berufserfahrung - die Klägerin hat ein Jahr lang als Lehrerin für Biologie und ca. ein dreiviertel Jahr bei der Posteingangsstelle des tschetschenischen Parlaments gearbeitet - kann die Klägerin voraussichtlich nicht zurückgreifen. Das wirtschaftliche Existenzminimum könnte sie nach alledem auch unter Berücksichtigung einer eventuellen finanziellen Starthilfe bei einer freiwilligen Rückkehr in die Russische Föderation weder aus eigener Kraft noch mit Hilfe Dritter gewährleisten.
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Die existenziellen Gefährdungen, denen die Klägerin gegenwärtig in den übrigen Gebieten der Russischen Föderation ausgesetzt wäre, bestünden so für die Klägerin in Tschetschenien nicht. Die Bevölkerung in Tschetschenien lebt zwar gegenwärtig unter sehr schweren Bedingungen. Die Grundversorgung insbesondere in Grosny mit Nahrungsmitteln ist äußerst mangelhaft. Die Lieferung von Nahrungsmitteln durch internationale Hilfsorganisationen in das Krisengebiet ist nur sehr begrenzt und punktuell möglich. Die Infrastruktur (Strom, fließendes Wasser, Heizung etc.) und das Gesundheitssystem waren nahezu vollständig zusammengebrochen, doch zeigen Wiederaufbauprogramme und die geleisteten Kompensationszahlungen erste zaghafte Erfolge. Missmanagement und Korruption verhindern allerdings in vielen Fällen, dass die Gelder für die vorgesehenen Projekte verwendet werden. Etwa 50 % des Wohnraumes ist seit dem ersten Krieg (1994 bis 1996) in Tschetschenien zerstört. Die Arbeitslosigkeit beträgt nach der offiziellen Statistik 80 % (russischer Durchschnitt: 7,5 % im November 2005). Das reale pro-Kopf-Einkommen ist in Tschetschenien sehr niedrig. Es beträgt nach den offiziellen Statistiken etwa 1/10 des Einkommens in Moskau. Haupteinkommensquelle ist der Handel. Andere legale Einkommensmöglichkeiten gibt es kaum. Die medizinische Grundversorgung in Tschetschenien ist unzureichend. Durch den Krieg waren medizinische Einrichtungen in Tschetschenien weitgehend nicht mehr funktionsträchtig. Der Wiederaufbau verläuft zwar schleppend, doch gibt es dank internationaler Hilfe Fortschritte bei der personellen, technischen und materiellen Ausstattung in einigen Krankenhäusern, die eine bessere medizinische Grundversorgung gewährleisten (AA, Lagebericht v. 15.02.2006). Trotz dieser im Verhältnis zu anderen Regionen der Russischen Föderation weitaus schlechteren ökonomischen Lage in Tschetschenien wären die Möglichkeiten zum physischen Überleben für die Klägerin bei einer Rückkehr dorthin vergleichsweise besser, weil ihr in ihrem Herkunftsgebiet das unabdingbare soziale Beziehungsgeflecht zur Verfügung stünde, das ihr zum Überleben in der übrigen Russischen Föderation fehlt. In Tschetschenien könnte die Klägerin in ihr früheres familiäres Umfeld zurückkehren. Es kann ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass sie bei ihren nach wie vor in Grosny lebenden Eltern mit ihrer Tochter leben könnte. Selbst wenn diese nicht in der Lage wären, sie finanziell zu unterstützen, könnte die Klägerin realistischerweise zumindest Beistandsleistungen etwa in Form einer zeitweisen Betreuung ihrer Tochter erwarten, die es ihr ermöglichen würde, durch Arbeit ihren Unterhalt und den ihrer Tochter zu sichern.
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Besteht nach alledem kein Anlass für eine Entscheidung über das Vorliegen weiterer ausländerrechtlicher Abschiebungshindernisse (vgl. § 31 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG), ist auch die Entscheidung des Bundesamtes, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen (Ziff. 3), aufzuheben. Zwar spricht der Wortlaut des Gesetzes für ein Ermessen der Behörde, von einer Entscheidung zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG abzusehen. Indes muss Berücksichtigung finden, dass bei einer Asylanerkennung oder dem Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG eine Bejahung des Vorliegens von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht geeignet ist, dem Ausländer im Verhältnis zu den für ihn positiven Entscheidungen in Bezug auf seine Anerkennung und die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG irgendeinen Vorteil zu bringen. Von daher ist regelmäßig das Ermessen der Beklagten in den Fällen des § 31 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 und 2 AsylVfG dahin reduziert, dass aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung von einer Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 bis 7 AufenthG abzusehen ist. Schließlich ist auch die Abschiebungsandrohung (Ziff. 4) aufzuheben. Sie ist rechtswidrig, da sie die Russische Föderation nicht als den Staat bezeichnet, in den die Klägerin nicht abgeschoben werden darf (vgl. § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG, § 60 Abs. X Satz 2 AufenthG). Eine auf die Benennung der Russischen Föderation als Zielstaat einer Abschiebung beschränkte Teilaufhebung der Abschiebungsandrohung kommt daher nicht in Betracht.
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Über den gestellten Hilfsantrag bedarf es keiner Entscheidung mehr.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b Abs. 1 AsylVfG).
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