Verwaltungsgericht Düsseldorf Beschluss, 21. Aug. 2015 - 8 L 2811/15.A
Gericht
Tenor
Der Beschluss vom 17. Juli 2015 im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes 8 L 1895/15.A wird geändert.
Die aufschiebende Wirkung der Klage 8 K 3925/15.A gegen Ziffer 2 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. Mai 2015 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
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Gründe:
2Der Einzelrichter ist im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes für die Entscheidung zuständig (§ 76 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG).
3Nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Das Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO dient allerdings nicht in der Art eines Rechtsmittelverfahrens der Überprüfung, ob die vorangegangene Entscheidung – hier der Beschluss vom 17. Juli 2015 – formell und materiell richtig ist. Es eröffnet vielmehr die Möglichkeit, einer nachträglichen Änderung der Sach- und Rechtslage Rechnung zu tragen. Prüfungsmaßstab für die Entscheidung ist daher auf der Grundlage des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO allein, ob nach der jetzigen Sach- und Rechtslage die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage geboten ist. Bei einer Entscheidung nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO sind mithin dieselben materiellen Gesichtspunkte maßgebend, wie sie im Falle eines erstmaligen Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO gegenwärtig zu gelten hätten.
4Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 10. März 2011 – 8 VR 2/11 –, vom 25. August 2008 – 2 VR 1.08 – und vom 21. Juli 1994 – 4 VR 1/94 –; jeweils juris.
5Der Beschluss vom 17. Juli 2015 im Verfahren 8 L 1985/15.A ist von Amts wegen wie tenoriert zu ändern. Die nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung geht nunmehr zu Gunsten des Antragstellers aus. Der angefochtene Bescheid begegnet nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
6Es gibt aufgrund der zum 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderungen des ungarischen Asylrechts Gründe für die Annahme, dass dem Antragsteller im Falle der Abschiebung nach Ungarn wegen systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GR-Charta) bzw. Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) droht.
7EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris, Rdnr. 83 ff., 99; EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 -.
8Systemische Mängel in diesem Sinne können angenommen werden, wenn Grundrechtsverletzungen einer Art. 4 EU-GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK entsprechenden Schwere nicht nur in Einzelfällen, sondern strukturell bedingt, eben systemisch, vorliegen. Diese müssen dabei aus Sicht des überstellenden Staates offensichtlich sein. In der Diktion des Europäischen Gerichtshofs dürfen diese systemischen Mängel dem überstellenden Mitgliedstaat nicht unbekannt sein können.
9Vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 et al. -, juris, Rdnr. 94.
10Die im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem grundsätzlich bestehende Vermutung, dass jeder Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat ist und die Grundrechte von Asylbewerbern einschließlich des Refoulement-Verbots achtet, ist nicht unwiderleglich. Vielmehr hat eine Überstellung in einen Mitgliedstaat zu unterbleiben, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Artikel 4 EU-GR-Charta implizieren.
11EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10 et al. –, juris, Rdnr. 86.
12Eine Widerlegung der Vermutung ist aber wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft: Nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder geringste Verstöße gegen die Richtlinien 2003/9, 2004/83 oder 2005/85 genügen, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den zuständigen Mitgliedstaat zu untersagen. Das Gericht muss sich vielmehr die Überzeugungsgewissheit verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen in dem zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird.
13Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. März 2014 – 10 B 6.14 –, juris, Rdnr. 6 ff.
14Nach diesen Maßgaben ergeben sich hinreichende Anhaltspunkte für systemische Mängel im ungarischen Asylverfahren aus den zum 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderungen des ungarischen Asylrechts.
15Vgl. ausführlich Hungarian Helsinki Commitee, Building a legal fence – Changes to Hungarian asylum law jeopardise access to protection in Hungary, http://helsinki.hu/wp-content/uploads/HHC-HU-asylum-law-amendment-2015-August-info-note.pdf; Information im englischsprachigen Internetangebot der ungarischen Regierung, http://www.kormany.hu/en/news/government-has-identified-list-of-safe-countries; UNHCR vom 2. Juli 2015, „UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste”, http://www.unhcr.org/559641846.html; aida: „Hungary adopts list of safe countries of origin and safe third countries”, http://www.asylumineurope.org/news/23-07-2015/hungary-adopts-list-safe-countries-origin-and-safe-third-countries; amnesty international: „Hungary: Change to Asylum Law puts tens of thousands at risk”, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2015/07/hungary-change-to-asylum-law-puts-tens-of-thousands-at-risk/.
16Es besteht insbesondere durch die Aufnahme von Serbien – neben allen anderen an Ungarn angrenzenden Staaten – in die Liste der sicheren Drittstaaten die Gefahr, dass der Antragsteller nach einer Überstellung nach Ungarn dort keinen Zugang zu einem Asylverfahren erhält, in dem eine inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe vorgenommen wird, sondern er stattdessen ohne inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe nach europäischen Mindeststandards nach Serbien abgeschoben wird. Nach den Feststellungen des Europäischen Kommissars für Menschenrechte bestehen jedoch jedenfalls hinsichtlich Serbien erhebliche Zweifel daran, dass das dortige Asylverfahren den europäischen Mindestanforderungen entsprechen.
17vgl. Schreiben an den serbischen Premierminister und Innenminister vom 27. November 2013, https://wcd.coe.int/com.instranet.InstraServlet?command=com.instranet.CmdBlobGet&InstranetImage=2444713&SecMode=1&DocId=2108062&Usage=2.
18Damit besteht für den Antragsteller bei einer Überstellung nach Ungarn die Gefahr eines Verstoßes gegen das Refoulement-Verbot durch eine Abschiebung in nicht sichere Drittländer oder das Herkunftsland.
19Vgl. Verwaltungsgericht Düsseldorf, Beschluss vom 6. August 2015 – 22 L 2205/15.A.
20Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs.1 VwGO, § 83b AsylVfG.
21Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).
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Annotations
(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).
(2) Die aufschiebende Wirkung entfällt nur
- 1.
bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten, - 2.
bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten, - 3.
in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen, - 3a.
für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die die Zulassung von Vorhaben betreffend Bundesverkehrswege und Mobilfunknetze zum Gegenstand haben und die nicht unter Nummer 3 fallen, - 4.
in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.
(3) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Einer besonderen Begründung bedarf es nicht, wenn die Behörde bei Gefahr im Verzug, insbesondere bei drohenden Nachteilen für Leben, Gesundheit oder Eigentum vorsorglich eine als solche bezeichnete Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse trifft.
(4) Die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, kann in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten kann sie die Vollziehung auch gegen Sicherheit aussetzen. Die Aussetzung soll bei öffentlichen Abgaben und Kosten erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.
(5) Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3a ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.
(6) In den Fällen des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 ist der Antrag nach Absatz 5 nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder zum Teil abgelehnt hat. Das gilt nicht, wenn
- 1.
die Behörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat oder - 2.
eine Vollstreckung droht.
(7) Das Gericht der Hauptsache kann Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.
(8) In dringenden Fällen kann der Vorsitzende entscheiden.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.