Verwaltungsgericht Düsseldorf Urteil, 06. Nov. 2015 - 1 K 7540/14
Gericht
Tenor
Das Verfahren wird eingestellt, soweit es von den Beteiligten in der Hauptsache für erledigt erklärt worden ist.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin zu ¾ und der Beklagte zu ¼.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils beitreibbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils beizutreibenden Betrages leistet.
1
Tatbestand:
2Die Klägerin ist Mitglied des Rates der Stadt X. (Stadtverordnete). Sie wendet sich gegen einen ihr in der Sitzung des Rates am 30. September 2014 durch den Beklagten erteilten Ordnungsruf.
3Im September 2014 war die Klägerin Mitglied der Partei Q. . Nunmehr gehört sie der Partei Q. E. an und ist Vorsitzende der Fraktion Q. E. / S. im Rat der Stadt X. . Im Zeitpunkt der Ratssitzung am 30. September 2014 war Q1. K. (CDU) Oberbürgermeister der Stadt X. . Seit dem 21. Oktober 2015 übt B. N. (SPD) dieses Amt aus.
4In der Sitzung des Rates am 30. September 2014 wurde unter Tagesordnungspunkt 4.5 ein gemeinsamer Antrag der Fraktionen von SPD und CDU mit der Bezeichnung „Appell an den Landesgesetzgeber: Der Rat der Stadt X. muss handlungsfähig bleiben!“ (VO/0000/14) behandelt, mit dem die Einführung einer Drei-Prozent-Sperrklausel für die nächste Kommunalwahl befürwortet wurde.
5Der damalige Oberbürgermeister, der den Vorsitz in der Sitzung führte, erteilte der Klägerin, die zu diesem Zeitpunkt noch den Namen H. trug, zu diesem Tagesordnungspunkt das Wort. Nach dem ersten Satz ihrer Rede rief er sie zur Ordnung. In der Niederschrift über die öffentliche Sitzung des Rates der Stadt X. (SI/0000/14) wurde dieser Vorgang wie folgt protokolliert (S. 7):
6„Herr Oberbürgermeister K. ruft Frau Stadtverordnete H. nach ihrer Aussage ‚ja, da haben wir es ja endlich das wahlpolitische Ermächtigungsgesetz der Altparteien, die vor allem auf der Verteidigung ihrer Pfründe bedacht sind.‘ zur Ordnung und weist diese darauf hin, dass sie beim zweiten Ordnungsruf für diese Ratssitzung des Saales verwiesen werde.“
7Mit anwaltlichem Schreiben vom 17. Oktober 2014 forderte die Klägerin den Beklagten auf, in der nächsten Sitzung des Rates den Ordnungsruf zurückzunehmen und zu erklären, dass die Ankündigung, beim zweiten Ordnungsruf werde sie für die Ratssitzung des Saales verwiesen, nicht mit der Geschäftsordnung des Rates der Stadt X. im Einklang stehe. Ihre Äußerung sei weder beleidigend noch ungebührlich gewesen. Als Ratsmitglied sei sie nicht in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung eingeschränkt. Der Rat habe die von einem Mitglied geäußerte Meinung grundsätzlich hinzunehmen, auch wenn die Mehrheit der Ratsmitglieder diese Meinung nicht teile. Die Ankündigung des Ausschlusses von der weiteren Sitzung widerspreche § 14 Abs. 4 der Geschäftsordnung des Rates, wonach der Ausschluss nur durch Ratsbeschluss und erst nach drei Ordnungsrufen zulässig sei.
8Der Beklagte erwiderte mit Schreiben vom 24. Oktober 2014, der Ordnungsruf sei zulässigerweise erfolgt.
9Die Klägerin hat am 14. November 2014 Klage erhoben, mit der sie die Feststellung angestrebt hat, dass (1) der ihr gegenüber ausgesprochene Ordnungsruf und (2) die Ankündigung, sie werde beim zweiten Ordnungsruf des Saales verwiesen, rechtswidrig waren. In der mündlichen Verhandlung haben die Beteiligten das Verfahren hinsichtlich des zweiten Begehrens übereinstimmend für in der Hauptsache erledigt erklärt.
10Die Klägerin macht ergänzend zu ihrem außergerichtlichen Vorbringen geltend: Der Zulässigkeit der Klage stehe nicht entgegen, dass sie die Rechtswidrigkeit des Ordnungsrufes nicht schon in der Sitzung des Rates gerügt habe. Es genüge, dass sie den Beklagten im Anschluss an die Sitzung schriftlich aufgefordert habe, den Ordnungsruf zurückzunehmen. Der Ordnungsruf habe sie in ihrem Rederecht verletzt. Ihre von dem Beklagten beanstandete Äußerung habe den Rahmen der im politischen Meinungskampf zulässigen Kritik gewahrt. Sie habe die angestrebte Drei-Prozent-Sperrklausel, die kleinere Parteien wie Q. benachteiligen würde, als undemokratisch kritisiert und moniert, dass die Regelung der Sicherung der Machtstrukturen der etablierten Parteien dienen solle. Der Begriff „Ermächtigungsgesetz“ sei zwar als überspitzte Formulierung einzuordnen. Sie habe diesen Begriff aber im Kontext ihrer scharfen sachbezogenen Kritik verwendet. Ihre Äußerung habe sich damit nicht in einer bloßen Provokation oder Herabwürdigung anderer erschöpft. Sie müsse einen nach Auffassung des Beklagten ähnlichen Vorfall in einer Ratssitzung im Jahr 2013 nicht gegen sich gelten lassen, da sie erst 2014 in den Rat gewählt worden sei.
11Die Klägerin beantragt,
12festzustellen, dass der vom Beklagten in der öffentlichen Sitzung des Rates der Stadt X. am 30. September 2014 ihr gegenüber ausgesprochene Ordnungsruf rechtswidrig war.
13Der Beklagte beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Er tritt der Klage im Wesentlichen mit folgenden Erwägungen entgegen: In ihrer Eigenschaft als Mitglied des Rates könne sich die Klägerin nicht auf die Meinungsfreiheit, sondern nur auf ihr organschaftliches Rederecht berufen. Für die Klage fehle es bereits am Rechtsschutzinteresse, da die Klägerin gegen den Grundsatz der Organtreue verstoßen habe, indem sie den aus ihrer Sicht zu Unrecht erfolgten Ordnungsruf nicht schon in der Ratssitzung gerügt habe. Jedenfalls hätte sie unmittelbar nach der Sitzung den Ältestenrat oder den Hauptausschuss anrufen oder den Rat mit der Angelegenheit befassen müssen, was nicht geschehen sei. Der Ordnungsruf sei rechtmäßig ergangen. Mit dem Begriff „Ermächtigungsgesetz“ werde allgemein das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ vom 24. März 1933 in Verbindung gebracht, das als eine der rechtlichen Hauptgrundlagen der nationalsozialistischen Diktatur gelte. Durch Verwendung dieses Begriffs habe die Klägerin den „Altparteien“ SPD und CDU Verfassungsfeindlichkeit vorgeworfen. Sie habe die Äußerung als bewusste Provokation an den Anfang ihrer Rede gesetzt. Mit der Aussage habe sie gegen die Würde und Ordnung des Hauses verstoßen. Dabei sei insbesondere zu berücksichtigen, dass bereits in einer Ratssitzung am 16. Dezember 2013 ein Stadtverordneter den Begriff „Ermächtigungsgesetz“ verwendet habe, was zu erheblichem Aufruhr und Empörung im Rat geführt und das behandelte Sachthema in den Hintergrund gedrängt habe. Es bestehe ein fraktionsübergreifender Konsens, dass Vergleiche mit Geschehnissen aus der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur inakzeptabel seien.
16Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
17Entscheidungsgründe:
18Soweit die Beteiligten das Verfahren übereinstimmend für in der Hauptsache erledigt erklärt haben, war dieses einzustellen (§ 92 Abs. 3 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – analog).
19Im Übrigen ist die Klage zulässig, aber unbegründet.
20Die auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Ordnungsrufs, welcher der Klägerin erteilt wurde, gerichtete Klage ist als Feststellungsklage statthaft (§ 43 Abs. 1 VwGO).
21Vgl. dazu Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschluss vom 16. Mai 2013 – 15 A 785/12 –, juris, Rn. 23 m.w.N.
22Die Klägerin hat auch ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung im Sinne des § 43 Abs. 1 VwGO. Dieses ergibt sich – wie regelmäßig in Fällen dieser Art – daraus, dass das betroffene Ratsmitglied die im Kreis seiner Kollegen verbleibende diskriminierende Wirkung eines Ordnungsrufes abzuwenden sucht,
23vgl. Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (OVG RP), Urteil vom 29. November 1994 – 7 A 10194/94 –, juris, Rn. 22; OVG NRW, a.a.O., Rn. 27,
24und zudem im Hinblick auf die mögliche Wiederholung vergleichbarer Fallgestaltungen in der Zukunft.
25Vgl. OVG RP, a.a.O.
26Der nach der Sitzung des Rates am 30. September 2014 mit Wirkung vom 21. Oktober 2015 eingetretene Wechsel in der Person des Oberbürgermeisters steht dem Feststellungsinteresse nicht entgegen.
27Vgl. OVG RP, a.a.O.
28Die Klägerin kann sich in dem vorliegenden Kommunalverfassungsstreitverfahren zwar nicht auf die Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 des Grundgesetzes – GG) berufen. Sie kann aber geltend machen, durch den Ordnungsruf in ihren organschaftlichen Rechten als Ratsmitglied, namentlich dem aus § 43 Abs. 1 der Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen (GO NRW) folgenden Rederecht, verletzt zu sein (§ 42 Abs. 2 VwGO analog). Sie war gezwungen, sich auf die Auffassung des Beklagten als Ratsvorsitzenden über die Ordnung in der Sitzung einzustellen, wollte sie nicht weitere Ordnungsmaßnahmen (Entzug des Wortes, § 14 Abs. 3 der Geschäftsordnung für den Rat der Stadt X. vom 16. Dezember 1991 in der seit dem 24. November 2010 geltenden Fassung – im Folgenden: GO Rat –; Ausschluss von der Sitzung, § 14 Abs. 4 GO Rat) und damit unwiederbringliche Nachteile für die weitere Ausübung des Rederechts und die weitere Teilnahme an der Sitzung, also den Kernbereich der Mandatsausübung, in Kauf nehmen.
29Vgl. OVG NRW, a.a.O., Rn. 29 ff. m.w.N.
30Der Klägerin ist auch nicht das Rechtsschutzinteresse abzusprechen. Entgegen der Auffassung des Beklagten hat sie insbesondere vor Klageerhebung dem Grundsatz der Organtreue hinreichend Rechnung getragen. Dieser Grundsatz gebietet die rechtzeitige Rüge der für rechtswidrig gehaltenen Maßnahme gegenüber dem zuständigen Organ selbst, um diesem die Möglichkeit zu geben, Einwände zu prüfen und ggf. für Abhilfe Sorge zu tragen.
31Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 19. August 2011 – 15 A 1555/11 –, juris, Rn. 21, und vom 16. Mai 2013 – 15 A 785/12 –, juris, Rn. 39; ferner Urteil vom 15. September 2015 – 15 A 1961/13 –, juris, Rn. 55.
32Dem hat die Klägerin entsprochen, indem sie den Ordnungsruf mit Schreiben vom 17. Oktober 2014 gegenüber dem Beklagten beanstandet und Abhilfe verlangt hat, was dieser mit Schreiben vom 24. Oktober 2014 abgelehnt hat. Die Klägerin war nicht gehalten, den Ordnungsruf unmittelbar in der Sitzung am 30. September 2014 zu rügen. Würde man dem Grundsatz der Organtreue derart hohe Anforderungen entnehmen, würde dies die Rechtsschutzmöglichkeit des betroffenen Ratsmitglieds unverhältnismäßig einschränken. Die Klägerin musste auch nicht statt ihres Schreibens an den Beklagten oder ergänzend den Ältestenrat, den Hauptausschuss oder den Rat anrufen. Anders als offenbar in dem Fall, der dem Beschluss des OVG NRW vom 16. Mai 2013
33– 15 A 785/12 –, juris, Rn. 39 ff.,
34zugrunde lag, sieht die Geschäftsordnung des Rates der Stadt X. nicht vor, dass vor der Inanspruchnahme verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes in einer kommunalverfassungsrechtlichen Angelegenheit zunächst der Hauptausschuss (oder ein anderes Gremium) anzurufen ist.
35Die Klage hat aber in der Sache keinen Erfolg.
36Der Beklagte hat die Klägerin zu Recht gemäß § 51 Abs. 1 GO NRW i.V.m. § 14 Abs. 2 GO Rat zur Ordnung gerufen. Das Statusrecht der Klägerin aus § 43 Abs. 1 GO NRW wird hierdurch nicht verletzt.
37Zum Status des Ratsmitglieds gehört das Rederecht. Dieses Recht ist nicht gleichbedeutend mit der von Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Meinungsfreiheit, die jedermann zukommt. Der Rat einer Gemeinde ist kein Forum zur Äußerung und Verbreitung privater Meinungen, sondern ein Organ der Gemeinde, das die Aufgabe hat, die divergierenden Vorstellungen seiner gewählten Mitglieder im Wege der Rede und Gegenrede und der nachfolgenden Abstimmung zu einem einheitlichen Gemeindewillen zusammenzuführen und der Gemeinde so die nötige Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu verschaffen. Demgemäß nimmt das Ratsmitglied, wenn es sich in der Ratssitzung zu einem Gegenstand der Tagesordnung zu Wort meldet, nicht seine im Grundgesetz verbürgten Freiheitsrechte gegenüber dem Staat, sondern organschaftliche Befugnisse in Anspruch, die ihm als Teil eines Gemeindeorgans verliehen sind. Die freie Rede des Ratsmitglieds dient mithin – anders als die Meinungsäußerung einer Privatperson – unmittelbar der Erfüllung staatlicher Aufgaben. Aus den unterschiedlichen Funktionen der Meinungsfreiheit und des Rederechts des Ratsmitglieds folgt, dass sich die beiden Rechte auch in ihrer Reichweite unterscheiden können. Das Rederecht des Ratsmitglieds kann einerseits weiter reichen als die Meinungsfreiheit. Andererseits kann eine Äußerung im Rat die Ordnung im Rat verletzen und zu einem rechtmäßigen Ordnungsruf des Ratsvorsitzenden führen, obschon die Äußerung in anderem Kontext von Art. 5 Abs. 1 GG gedeckt wäre.
38Vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Urteil vom 8. Juni 1982 – 2 BvE 2/82 –, juris, Rn. 20 f. (zum Rederecht im Bundestag); Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschluss vom 12. Februar 1988 – 7 B 123/87 –, juris, Rn. 6; Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen (VerfGH Sachsen), Urteil vom 3. Dezember 2010 – Vf. 12-I-10 –, juris, Rn. 46 (zum Rederecht in einem Landtag).
39Aufgrund seiner Funktion wird das Rederecht des Ratsmitglieds durch andere Rechtsgüter begrenzt. Ebenso wie andere Statusrechte der Ratsmitglieder bedarf es zum Zwecke der Sicherung der Effektivität und Funktionsfähigkeit des Rates sowie der Abstimmung mit den Rederechten der anderen Ratsmitglieder der näheren Ausgestaltung in der Geschäftsordnung. Neben den Regelungen etwa zur Redezeit und zu den formellen Anforderungen an Wortmeldungen dient die dem Ratsvorsitzenden nach § 51 GO NRW obliegende sog. Disziplinargewalt der Sicherstellung der Rechte der Ratsmitglieder, der Ordnung der Debatte, der Effektivität und Funktionsfähigkeit des Rates sowie – traditionell – auch der Wahrung des Ansehens des Rates.
40Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2013 – 15 A 785/12 –, juris, Rn. 44; ferner VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2010 – Vf. 12-I-10 –, juris, Rn. 49.
41§ 14 GO Rat konkretisiert die Disziplinargewalt des Ratsvorsitzenden durch ein abgestuftes Instrumentarium. Der der Klägerin erteilte Ordnungsruf findet seine Grundlage in Abs. 2 der Vorschrift. Danach kann der Vorsitzende Stadtverordnete, die durch beleidigende oder – was vorliegend allein in Betracht kommt – ungebührliche Äußerungen oder auf andere Weise die Ordnung verletzen, zur Ordnung rufen. Diese Regelung ist gemessen an der GO NRW nicht zu beanstanden.
42Zwar wird das Rederecht eines Ratsmitglieds durch die Funktionsfähigkeit des Rates und die Rederechte anderer Ratsmitglieder begrenzt. Bei dem durch den Ratsvorsitzenden mittels des Ordnungsrechts vorzunehmenden Ausgleich zwischen diesen widerstreitenden Rechtsgütern ist aber auch der Bedeutung des Rederechts für die Demokratie und die Funktionsfähigkeit des Rates Rechnung zu tragen. Der Rat ist ebenso wie ein Landtag oder der Bundestag Ort von Rede und Gegenrede, der Darstellung unterschiedlicher Perspektiven und Interessen. Darin gründet seine Repräsentativfunktion, die eine – wenn nicht die – Grundfunktion einer Volksvertretung, seiner Untergliederungen und Mitglieder ist. Insoweit ist der Rat wie ein Parlament Forum der Interessendarstellung, Interessenvermittlung und Kontrolle. Der Widerstreit der politischen Positionen auf diesem Forum der Repräsentation lebt nicht zuletzt von Debatten, die mit Stilmitteln wie Überspitzung, Polarisierung, Vereinfachung oder Polemik arbeiten.
43Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2013 – 15 A 785/12 –, juris, Rn. 47; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2010 – Vf. 12-I-10 –, juris, Rn. 55 m.w.N.
44Das Ordnungsrecht des Ratsvorsitzenden ist im Lichte dieser mit der Repräsentationsfunktion zusammenhängenden Bedeutung des Rederechts kein Instrumentarium zur Ausschließung bestimmter inhaltlicher Positionen aus der Debatte in der Volksvertretung. Der Rat ist auch ein Ort der Austragung von Meinungsverschiedenheiten, der Darstellung von Positionen von Minderheiten, der Formulierung anderer, von der Mehrheit nicht getragener Sichtweisen. Diese sind so lange hinzunehmen, wie ihre Darstellung nicht in einer Weise geschieht, die die Arbeit des Rates in Frage stellt. Die Grenze zur Verletzung der Ordnung in der Volksvertretung „Rat“ ist jedenfalls dort erreicht, wo es sich nicht mehr um eine inhaltliche Auseinandersetzung handelt, sondern eine bloße Provokation im Vordergrund steht oder wo es um die schiere Herabwürdigung anderer oder die Verletzung von Rechtsgütern Dritter geht.
45Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2013 – 15 A 785/12 –, juris, Rn. 49; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2010 – Vf. 12-I-10 –, juris, Rn. 56.
46Dabei bilden neben dem geschriebenen Recht auch ungeschriebene, tradierte Regeln der Sitzungspraxis den Maßstab für das Verhalten der Ratsmitglieder. Letztere können insbesondere dort Bedeutung entfalten, wo es um die Wahrung von Ansehen und Würde des Rates geht.
47Vgl. VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2010 – Vf. 12-I-10 –, juris, Rn. 54 m.w.N.
48Da Beschränkungen des Rederechts zugleich die Funktionsfähigkeit des Systems der Volksvertretung berühren, bedarf die Anwendung der Ordnungsmaßnahmen stets der Beachtung des Kontextes, in dem das Ratsmitglied sein Recht in Anspruch nimmt. Je mehr die inhaltliche Auseinandersetzung im Vordergrund steht, je gewichtiger die mit dem Redebeitrag thematisierten Fragen für den Rat und die Öffentlichkeit sind und je intensiver diese politische Auseinandersetzung geführt wird, desto eher müssen konkurrierende Rechtsgüter hinter dem Rederecht zurückstehen. Dabei bleibt zu berücksichtigen, dass Redebeiträge schon aufgrund ihres Wortlauts Raum für verschiedene Deutungsmöglichkeiten eröffnen können. Ferner ist dem situativen Charakter der mündlichen Rede und der Notwendigkeit der zeitnahen Reaktion des Ratsvorsitzenden, dem namentlich bei Ordnungsrufen ein im Rahmen der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle zu respektierender Beurteilungsspielraum zukommt, hinreichend Rechnung zu tragen. Die Einordnung des Verhaltens eines Ratsmitglieds beruht regelmäßig auf einer wertenden Betrachtung durch den Vorsitzenden, für die insbesondere der Ablauf und die Atmosphäre der jeweiligen Sitzung Bedeutung gewinnen. Mit Blick auf den auch präventiven Charakter der Ordnungsmaßnahmen spielen auch prognostische Erwägungen eine Rolle. Hieran ist die verwaltungsgerichtliche Kontrolldichte auszurichten. Dabei gilt, dass die Kontrolle umso intensiver ist, je deutlicher der Ordnungsruf auf den Inhalt der Äußerung und nicht auf das Verhalten des Ratsmitglieds reagiert.
49Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 16. Mai 2013 – 15 A 785/12 –, juris, Rn. 51; VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2010 – Vf. 12-I-10 –, juris, Rn. 58 ff. m.w.N.
50An diesen Grundsätzen gemessen hat der Ordnungsruf die Klägerin nicht in ihrem Rederecht verletzt. Der Beklagte hat die Klägerin zu Recht zur Ordnung gerufen. Die beschriebene Verwendung des Begriffs „Ermächtigungsgesetz“ durch die Klägerin ist als ungebührliche Äußerung einzustufen, die die Ordnung in der Sitzung verletzt hat (vgl. § 14 Abs. 2 GO Rat).
51Bei der Ausübung seiner sog. Disziplinargewalt hatte der Beklagte mit Blick auf die zu schützende Funktionsfähigkeit des Rates und den auch präventiven Charakter eines Ordnungsrufes – anders als im Bereich der von Art. 5 Abs. 1 GG geschützten individuellen Meinungsfreiheit – nicht die der Klägerin günstigste Auslegungsmöglichkeit zugrunde zu legen. Vielmehr war von einer verständigen Würdigung auszugehen, die den situativen Charakter der Rede und den Empfängerhorizont der Ratsmitglieder und etwaiger Zuhörer berücksichtigt.
52Vgl. in diesem Sinne, i.E. aber offen gelassen OVG RP, Urteil vom 29. November 1994 – 7 A 10194/94 –, juris, Rn. 25.
53Ist ein Begriff im allgemeinen Verständnis historisch geprägt, muss die Auslegung den historischen Hintergrund einbeziehen. Wenngleich der Begriff „Ermächtigungsgesetz“ sprachlich auch andere Deutungen zuließe, wird dieser Begriff in Deutschland aufgrund seines historischen Kontextes zwangsläufig mit dem „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ vom 24. März 1933 verknüpft, das in der Kurzform seinem verfassungsrechtlichen Charakter nach üblicherweise als „Ermächtigungsgesetz“ bezeichnet wird. Dieses Gesetz, mit dem der Hitler-Regierung pauschal die Befugnis eingeräumt wurde, Gesetze ohne Beteiligung des Reichstages zu erlassen und sich dabei über wesentliche Vorschriften der Weimarer Reichsverfassung hinwegzusetzen, gilt zusammen mit der Reichstagsbrandverordnung als rechtliche Hauptgrundlage der nationalsozialistischen Diktatur.
54Vgl. zusammenfassend www.wikipedia.org, Stichwort „Ermächtigungsgesetz“.
55Der Klägerin ist zwar zuzugestehen, dass die beanstandete Äußerung im Zusammenhang ihrer sachlichen Kritik an der Einführung einer Drei-Prozent-Sperrklausel bei Kommunalwahlen stand, welche die Fraktionen von SPD und CDU mit ihrem in den Rat eingebrachten Antrag befürworteten. Hätte die Klägerin den Begriff „Ermächtigungsgesetz“ nicht verwendet, hätte der Satz ihrer Rede, auf den der Ordnungsruf des Beklagten folgte, die Grenzen des Rederechts wohl gewahrt und keinen berechtigten Anlass zu einem Ordnungsruf gegeben.
56Ungeachtet dieser Einbettung in die Rede der Klägerin verletzte sie durch die Verwendung des gerügten Begriffs die Ordnung in der Sitzung. Aufgrund des dargestellten historischen Kontextes war mit diesem Ausdruck der implizite Vorwurf an die Fraktionen von SPD und CDU verbunden, sie befürworteten Methoden, wie sie die Nationalsozialisten mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 zur Verfestigung ihrer Macht eingesetzt hätten. Die in dieser Stigmatisierung liegende Provokation überlagerte den sachlichen Beitrag zum Thema der Debatte. Auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass im politischen Alltag ein rauer Ton üblich sein mag, wurden durch die gezogene historische Parallele und den sich daraus ergebenden Vorwurf gegenüber den Mitgliedern der Fraktionen von SPD und CDU die der Würde des Gremiums entsprechenden Umgangsformen im Rat verletzt und das Ansehen des Rates in der Öffentlichkeit gefährdet.
57Bei seiner prognostischen Entscheidung durfte der Beklagte auch berücksichtigen, dass in der Sitzung des Rates am 16. Dezember 2013 ein anderer Stadtverordneter den Begriff „Ermächtigungsgesetz“ verwendet hatte und daraufhin eine Debatte über diese Äußerung entstand, die ausweislich der mit der Klageerwiderung vorgelegten Zeitungsauszüge auch öffentlich geführt wurde und die Sachdebatte im Rat vorübergehend unmöglich machte. Dem kann die Klägerin nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass sie im Dezember 2013 noch nicht Mitglied des Stadtrats war. Maßgeblich für die Beurteilung des Ratsvorsitzenden ist die objektive Prognose, welche Konsequenzen eine Äußerung für den weiteren Verlauf der Ratssitzung haben kann, ohne dass es auf eine subjektive Komponente – etwa Verschulden des betroffenen Ratsmitglieds – ankäme.
58Mit Blick auf die gemessen an den unmittelbaren Folgen für die Rede der Klägerin und im Vergleich zu anderen Ordnungsmaßnahmen geringe Intensität des Eingriffs in das Rederecht durch den Ordnungsruf war dieser auch angemessen. Der Ordnungsruf hatte ausschließlich für den unmittelbar zuvor von der Klägerin gesprochenen Satz Konsequenzen. Im Übrigen konnte sie ihre (vorbereitete) Rede wie beabsichtigt fortsetzen.
59Vgl. insoweit zum gerichtlichen Prüfungsmaßstab VerfGH Sachsen, Urteil vom 3. Dezember 2010‑ Vf. 12-I-10 –, juris, Rn. 62.
60Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 1, 161 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Hierbei hat die Kammer zugrunde gelegt, dass die beiden ursprünglich mit der Klage verfolgten Begehren nach ihrer Bedeutung für die Klägerin in etwa gleich zu gewichten sind. In Bezug auf den Teil des Verfahrens, den die Beteiligten übereinstimmend für in der Hauptsache erledigt erklärt haben (Ankündigung, die Klägerin werde beim zweiten Ordnungsruf des Saales verwiesen), entspricht es billigem Ermessen, die Kosten des Verfahrens den Beteiligten je zur Hälfte aufzuerlegen, da die Erfolgsaussichten der Klage insoweit im Erledigungszeitpunkt als offen anzusehen waren. Insbesondere war nicht geklärt, ob die Klägerin eine mögliche Verletzung in ihren organschaftlichen Rechten durch den Hinweis des Beklagten, beim zweiten Ordnungsruf werde sie des Saales verwiesen, geltend machen konnte (§ 42 Abs. 2 VwGO analog). Dafür kam der Frage Bedeutung zu, ob die angegriffene Äußerung des Beklagten als bloßer Hinweis auf die Geschäftsordnung des Rates zu verstehen war, der für sich genommen – wenn er auch möglicherweise inhaltlich nicht zutraf – keine unmittelbare Rechtswirkung entfaltete, oder ob schon diese Ankündigung einen Eingriff in das Rederecht der Klägerin darstellte, da sie sich auf die darin zum Ausdruck kommende Auffassung des Ratsvorsitzenden einstellen musste, wollte sie nicht weitere Ordnungsmaßnahmen in Kauf nehmen.
61Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 Abs. 1 VwGO, 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).
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(1) Der Kläger kann bis zur Rechtskraft des Urteils seine Klage zurücknehmen. Die Zurücknahme nach Stellung der Anträge in der mündlichen Verhandlung setzt die Einwilligung des Beklagten und, wenn ein Vertreter des öffentlichen Interesses an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat, auch seine Einwilligung voraus. Die Einwilligung gilt als erteilt, wenn der Klagerücknahme nicht innerhalb von zwei Wochen seit Zustellung des die Rücknahme enthaltenden Schriftsatzes widersprochen wird; das Gericht hat auf diese Folge hinzuweisen.
(2) Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als zwei Monate nicht betreibt. Absatz 1 Satz 2 und 3 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und § 155 Abs. 2 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Das Gericht stellt durch Beschluß fest, daß die Klage als zurückgenommen gilt.
(3) Ist die Klage zurückgenommen oder gilt sie als zurückgenommen, so stellt das Gericht das Verfahren durch Beschluß ein und spricht die sich nach diesem Gesetz ergebenden Rechtsfolgen der Zurücknahme aus. Der Beschluß ist unanfechtbar.
(1) Durch Klage kann die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses oder der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat (Feststellungsklage).
(2) Die Feststellung kann nicht begehrt werden, soweit der Kläger seine Rechte durch Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann oder hätte verfolgen können. Dies gilt nicht, wenn die Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts begehrt wird.
(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts (Anfechtungsklage) sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts (Verpflichtungsklage) begehrt werden.
(2) Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein.
(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.
(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.
(3) Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.
(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts (Anfechtungsklage) sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts (Verpflichtungsklage) begehrt werden.
(2) Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein.
(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.
(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.