Verwaltungsgericht Aachen Urteil, 19. Aug. 2014 - 2 K 147/13
Tenor
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 27. Dezember 2012 verpflichtet, dem Kläger für die Jugendliche K. C. für den Zeitraum vom 1. Mai 2012 bis zum 30. September 2012 Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege zu bewilligen; bei der Festsetzung der auf dieser Grundlage zu zahlenden wirtschaftlichen Jugendhilfe sind die für diesen Zeitraum für die Jugendliche bereits erbrachten Sozialleistungen (Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII sowie Grundsicherungs-leistungen nach dem SGB II) zu berücksichtigen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
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T a t b e s t a n d:
2Der Kläger ist Rechtsanwalt und vom Amtsgericht Hamburg - Familiengericht - mit Beschluss vom 1. März 2012 - 285 F 31/12 - für den Bereich "Beantragung von Jugendhilfe" zum Ergänzungspfleger für die im streitbefangenen Zeitraum Jugendliche K. C. (*00.00.1997) bestellt worden. Er erstrebt in diesem Verfahren für K. für den Zeitraum 1. Mai 2012 bis 30. September 2012 die Bewilligung von Hilfe zur Erziehung (HzE) in Form der Vollzeitpflege im Haushalt ihrer Großmutter Frau D. C. in I. .
3K. C. ist die älteste Tochter von Frau G. U. (*00.00.1976) und wurde als Kind nicht miteinander verheirateter Eltern geboren. Ihr Vater stammt aus der Türkei und ist unbekannten Aufenthalts. Ihre Mutter ist seit 2005 mit Herrn L. U. verheiratet. Aus der Ehe sind die beiden Mädchen N1. U. (*00.00.2006) und B. U. (*00.00.2010) hervorgegangen.
4Anfang 2010 hat K. zunächst gegenüber dem Kinderschutzbund und später gegenüber dem Jugendamt öffentlich gemacht, dass ihr Stiefvater sich seit 2008 in einer Vielzahl von Fällen sexueller Übergriffe an ihr schuldig gemacht hatte. Durch die nachfolgende unverzügliche Intervention des Jugendamtes musste der Stiefvater die eheliche Wohnung verlassen und K. blieb zunächst weiterhin im Haushalt ihrer Mutter. Die Beklagte hat zur Unterstützung der damals schwangeren Mutter mit Bescheiden vom 19. Februar 2010 und vom 30. August 2010 Hilfe zur Erziehung in Form einer Erziehungsbeistandsschaft im Umfang von bis zu 48 Leistungsstunden pro Quartal bewilligt. Diese Hilfe wurde von Frau N. erbracht. Da eine Postraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert worden war, unterzog sich K. einer ambulanten Traumatherapie bei Dr. T. in der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters B1. , die nach Angaben von Dr. T. im Strafprozess abgeschlossen ist. Die großen Ferien im Sommer 2010 verbrachte K. in I. bei ihrer Großmutter.
5Dass die familiäre Situation für K. im Jahr 2010 in B1. nicht einfach war, ergibt sich zum einen aus einem Vermerk über ein Gespräch zwischen Jugendamt, Schule und Betreuer sowie Frau N. vom 28. Mai 2010, in dem insbesondere die Sorge der Schule um K. und die häusliche Situation zum Ausdruck kommt. Die Mutter K. versuchte zunächst den Spagat, zum einen ihre älteste Tochter vor dem Stiefvater zu schützen und zum andern den Kontakt mit ihrem Ehemann und Vater ihrer beiden jüngeren Töchter aufrecht zu erhalten. Auch der Vorbereitungsbericht für das Hilfeplangespräch (HPG) am 27. September 2010 vom 24. September 2010 zur familiären Situation zeigt eine auch nach Therapieabschluss fortbestehende Unsicherheit K. (etwa mit der Äußerung "in I. kann ich Kind sein in B1. nicht"). Die Äußerung ist ein deutlicher Hinweis für eine eher schwierige Lebenssituation in ihrem Zuhause. Trotz dieses Vermerks und dem Ablauf des HPG kommt das Jugendamt zur Einschätzung, der Wunsch K. nach I. zu wollen, sei für die Behörde eher überraschend gekommen und allein - ohne Einschaltung des Jugendamtes - als Entscheidung zwischen den Familienmitgliedern getroffen worden. In jedem Fall endete das HPG mit dem Entscheidungsvorschlag, die der Mutter K. gewährte HzE in Form der Erziehungsbeistandschaft Ende Oktober 2010 einzustellen, was in einem entsprechenden Bescheid vom 29. September 2010 umgesetzt wurde. Kurz nach diesem Hilfeplangespräch brachte ihre Mutter K. am 8. Oktober 2010 nach I. , wo sie seitdem im Haushalt ihrer Großmutter, Frau D. C. , lebt.
6Frau D. C. , von Beruf L1. und I1. , war nach 25-jähriger Ehe und Scheidung von ihrem Ehemann mit ihren beiden 1980 und 1981 geborenen Söhnen aus dem S. nach I. zurückgekehrt, während ihre Tochter, K. Mutter, im B. Raum blieb. Aus den dem Gericht vorliegenden Unterlagen ergibt sich, dass sie zumindest in den Jahren 2010/2011 noch in einem Beruf arbeitete. In ihrer Wohnung lebte im streitbefangenen Zeitraum noch der 1980 geborene Sohn P. C. , der damals noch studierte und seinen Lebensunterhalt als wissenschaftliche Hilfskraft finanzierte.
7In der Folge bat die Beklagte das Jugendamt der Stadt I. (künftig JA I. ) - um Mithilfe, ob die Großmutter zur Betreuung von K. in der Lage sei, und fügte einen Fallbericht bei. Im Anschreiben heißt es wörtlich:
8"Jetzt hat K. für sich entschieden, dass sie lieber bei der Oma in I. leben möchte, da sie in B1. weiter Angst hat, auf die Straße zu gehen, weil sie ihrem Stiefvater begegnen könnte. Zudem ist ihr der Druck hier zu groß. Sie hat Schuldgefühle, weil sich ihre Mutter von dem Mann trennen musste, um die Kinder zu behalten."
9Das JA I. kam nach einer entsprechenden Überprüfung der persönlichen und räumlichen Verhältnisse des Haushalts zum Ergebnis, dass die Großmutter, Frau C. , als Pflegeperson für die Betreuung ihrer Enkeltochter geeignet sei. Allerdings sei die finanzielle Situation im großelterlichen Haushalt prekär und zum andern seien die familiären Strukturen (Verhältnis der Großmutter zu K. Mutter) belastet. Bei den Fragen einer finanziellen Unterstützung K. durch die Kindesmutter spiele der Stiefvater immer noch eine ungute Rolle.
10In der Folge entstand zwischen den JA I. und dem JA B1. Streit, ob der personensorgeberechtigten Mutter für die Tochter K. HzE in Form der Vollzeitpflege im Haushalt einer Verwandten zu gewähren ist. Davon waren sowohl die Fragen einer Antragstellung als auch die Erforderlichkeit entsprechender pädagogischer Hilfe betroffen.
11Dabei bestand aus Sicht des JA I. die Erforderlichkeit einer entsprechenden Hilfe, während das JA B1. - nach Rücksprache mit Frau N. - kommunizierte, dass K. in I. zunächst keine weitere Hilfe in Anspruch nehmen möchte. Auch die Großmutter unterstütze diese Auffassung. Aus Aachener Sicht wünschten alle eine familieninterne Lösung ohne Jugendamt. Die Mutter K. habe erklärt, dass sie ihre Tochter nur aus rein familiären Gründen, nicht aber aus Sicherungsgründen nach I. habe gehen lassen. Es werde von ihr keine pädagogische Notwendigkeit gesehen. Es bestehe keine Veranlassung, weiter für K. eine HzE in Form der Vollzeitpflege einzurichten. Im HPG vom 27. September 2010 hätten K. und deren Mutter übereinstimmend erklärt, keine weitere Hilfe zu wollen. Die Kindesmutter wolle K. zwar finanziell unterstützen, was sich aber meist auf das Kindergeld beschränkt habe. Sie habe zeitweise erwogen, auch selbst nach I. zu gehen, um K. dann wieder in ihren eigenen Haushalt aufzunehmen. Von diesem Plan habe sie aber wieder Abstand genommen. Aus diesen Tatsachen und Verhalten habe das Jugendamt in B1. geschlossen, dass es immer nur um eine finanzielle Unterstützung bei der Finanzierung K. im Haushalt der Großmutter, nicht aber um pädagogische Hilfe gegangen sei. Allein wirtschaftliche Jugendhilfe könne nach den gesetzlichen Vorgaben aber nicht gewährt werden.
12Mit Bescheid vom 21. Dezember 2010 bewilligte das JA I. K. Mutter ab dem 1. November 2010 Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege im Haushalt der Großmutter und zahlte dieser das in I. übliche Pflegegeld ab dem 1. November 2010. Zugleich machte das JA I. bei der Beklagten Kostenerstattung geltend. Frau U. erhob gegen diese Bewilligung von HzE Widerspruch; sie habe weder am 5. November 2010 einen Antrag auf diese Hilfe gestellt, noch an einem HPG teilgenommen.
13Ende Dezember 2010 besuchte K. ihre Mutter und Halbgeschwister in B1. . Die Mutter war zu diesem Zeitpunkt auf Grund eines selbst erfahrenen sexuellen Übergriffs ihres Ehemannes sehr betroffen. Jetzt erst stellte K. in B1. eine Strafanzeige gegen den Stiefvater; die Mutter, die zunächst wegen des gerade selbst erlebten Vorfalls auch eine Strafanzeige gestellt hatte, nahm diese später zurück. Der Stiefvater blieb, da er geständig war, zunächst auf freiem Fuß. Erst im Herbst 2011 wurde er ‑ nachdem er eine Amoktat gegen alle Betroffenen angekündigt hatte ‑ wegen Verdunklungsgefahr verhaftet.
14Nunmehr teilte die Kindesmutter dem JA I. mit, dass sie den Widerspruch gegen die Hilfebewilligung wieder zurücknehme, da die Tochter jetzt Strafanzeige gegen den Stiefvater gestellt habe.
15Die Beklagte hielt nach weiteren Gesprächen mit den Betroffenen an seiner Auffassung fest. So wird in einem Vermerk vom 23. März 2011 über ein Gespräch des JA B1. vom 11. März 2011 mit K. , Frau U. und Frau N. berichtet. Danach erklärte K. , dass sie keine Jugendhilfe brauche. Wenn sie diese brauchen würde, würde sie sie beantragen. Sie wolle nicht nach B1. zurückkehren. Nach der Strafanzeige gegen den Stiefvater habe sie zunächst Alpträume gehabt. Jetzt gehe es wieder. Die Haltung der Mutter werde in Bezug auf Stiefvater von ihr als ambivalent empfunden.
16Schließlich meldete sich eine Anwältin für die Kindesmutter bei beiden Jugendämtern und erklärt, dass ihre Mandantin in Bezug auf die Jugendämter in B1. und I. zwischen den Stühlen sitze und nicht wisse, wie sie sich verhalten solle. Sie bitte darum, dass die Jugendämter die erforderlichen Fragen untereinander klärten und ihr die erforderliche Hilfe in Form nachvollziehbarer und kompetenter Empfehlungen zukommen ließen. Als eigene Erklärung fügt die Anwältin hinzu, dass möglicherweise der Erklärung K. bei der Einschätzung des Jugendamtes B1. zu viel Gewicht beigemessen werde. Es sei aber schon fraglich, ob eine 13-Jährige eine solche Situation zutreffend einschätzen könne. Es gebe insbesondere im Hinblick auf den anstehenden Strafprozess gegen den Stiefvater keine Alternative zu einem Aufenthalt in I. .
17Mit Bescheid vom 31. Mai 2011 stellte das JA I. die HzE wieder ein, da die Angaben der Kindesmutter und K. bei den Jugendämtern in B1. und I. sich widersprochen hätten und das JA B1. , das sich einem aus seiner Sicht unbegründeten Kostenerstattungsverfahren ausgesetzt gesehen habe, als örtlich zuständiger Jugendhilfeträger der Hilfeerbringung durch das JA I. ausdrücklich widersprochen habe.
18Mit weiterem Bescheid des JA I. vom 31. Mai 2011 wurde K. in Obhut genommen und im Haushalt der Großmutter als Pflegestelle untergebracht. K. benötige Gewissheit und Sicherheit, dass sie in I. bleiben könne und auch ausreichend pädagogisch versorgt werde. Das Vertrauen zwischen Kindesmutter und Tochter sei sehr belastet. Die Kindesmutter halte weiterhin engen Kontakt mit dem Stiefvater und vertrete ihre Belange nicht ausreichend. Die stattgefundenen Ferienbesuche in B1. seien in der Vergangenheit retraumatisierend für K. verlaufen; sie brauche für ihre seelische Stabilität die Gewissheit, ernst genommen zu werden.
19Mit Schreiben vom 1. Juni 2011 wandte sich die Kindesmutter zunächst persönlich und mit Schreiben vom 15. Juni 2011 über ihre Anwältin gegen die Inobhutnahme K. . Mit Bescheid vom 29. Juni 2011 beendete das JA I. die Inobhutnahme. K. sei mit dem Einverständnis der Kindesmutter bei der Großmutter. Der Schutz von K. sei daher in I. gewährleistet.
20Mit Antrag ohne Datum, eingegangen bei der Beklagten am 24. November 2011, beantragte die Großmutter formlos unter Beifügung einer Vollmacht der Kindesmutter vom 3. November 2011 rückwirkend ab dem 1. November 2010 HzE in Form der Pflegestellenunterbringung in ihrem Haushalt. Die Beklagte übersandte dann mit Schreiben einen entsprechenden Antragsvordruck, der ausgefüllt am 26. März 2012 bei der Beklagten wieder einging. Mit an die Großmutter adressiertem Bescheid vom 14. Mai 2012 lehnte die Beklagte die begehrte Hilfe ab. Ein Rechtsmittel gegen diesen Bescheid wurde bislang nicht erhoben.
21Mit Beschluss vom 29. Februar 2012 entzog das Amtsgericht I. – Familiengericht – 285 F 110/11 – der alleinsorgeberechtigten Mutter das Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen, die Vermögenssorge und das Recht zur Erziehung für das Kind K. C. . Soweit die Rechte der Mutter entzogen wurden, wurde eine Ergänzungspflegschaft angeordnet und der Kläger zum Ergänzungspfleger bestellt. Dies ist ausweislich der dem Gericht vorliegenden Akten der Beklagten seit dem 26. März 2012 bekannt.
22Im Rahmen der vom Kläger erhobenen Untätigkeitsklage – 2 K 1830/12 - auf Bescheidung des Antrags der Kindesmutter vom 24. November 2011 erklärte die Beklagte ihre Bereitschaft über die HzE in Sachen K. C. für den Zeitraum ab dem 1. Mai 2012 erneut zu entscheiden.
23Der auf dieser Grundlage ergangene Bescheid der Beklagten vom 27. Dezember 2012 lehnte den vom Kläger unter dem 9. Mai 2012 gestellten Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB VIII, insbesondere von HzE in Form von Vollzeitpflege, ab. Die Gewährung von HzE setze das Bestehen eines erzieherischen Bedarfs voraus, der durch die sorgeberechtigte Mutter nicht erfüllt werden könne. Nach Erkenntnis des Jugendamtes sei die Kindesmutter stets in der Lage gewesen, ihre Tochter ausreichend zu versorgen und zu erziehen. Da der Umzug der Jugendlichen nach I. ohne Vorliegen einer pädagogischen Veranlassung ausschließlich auf deren Wunsch hin erfolgt sei, seien vorliegend die Voraussetzungen für eine Hilfegewährung nach dem SGB VIII nicht gegeben. In diesem Zusammenhang sei zu betonen, dass die Jugendliche stets selbst erklärt habe, für sich keine Hilfe zur Erziehung in Anspruch nehmen zu wollen.
24Der Kläger hat am 25. Januar 2013 Klage erhoben, mit der er für die Jugendliche K. C. HzE in Form der Vollzeitpflege im Haushalt ihrer Großmutter für den Zeitraum vom 1. Mai 2012 bis 30. September 2012 erstrebt. Ggfls. behalte er sich vor, die Klage auf den Zeitraum ab dem 1. November 2011 zu erstrecken. In der Vergangenheit habe sich die behördliche Unterstützung für K. seit ihrem Aufenthalt in I. wie folgt dargestellt:
25- 01.11.2010 bis 31.05.2011 HzE und wirtschaftliche Jugendhilfe durch JA I. auf Grund eines Bescheides
26- 01.06.2011 bis 30.06.2011 Inobhutnahme durch JA HH und wirtschaftliche Jugendhilfe
27- bis 31.10.2011 faktische Weiterzahlung des Pflegegeldes ohne Bescheid
28- 01.11.2011 bis zum 17.8.2012 pauschalisierte Hilfe zum Lebensunterhalt von der Stadt B1.
29- 18.08.2012 (15. Geburtstag) bis 30.9.2012 Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II durch den Träger „team.arbeit.I. “
30- 01.10.2012 bis auf weiteres HzE durch JA HH durch entsprechenden Bescheid.
31Entgegen der Auffassung der Beklagten bestehe seit Beginn des Aufenthalts ein erzieherischer Bedarf. K. sei in B1. noch während des Zusammenlebens mit dem Stiefvater von der Mutter nicht ausreichend geschützt worden. Diesbezüglich sei ein Strafverfahren gegen die Kindesmutter beim AG B1. unter dem Aktenzeichen Ls 201 Js 904/11 anhängig. Die Strafanzeige gegen den Stiefvater sei auch erst ein Jahr nach Offenlegung der sexuellen Übergriffe angezeigt worden. K. habe dabei ein schlechtes Gewissen gehabt, weil damit auch der die Mutter, Stiefvater und ihre beiden Schwestern umfassenden Familie die Grundlage entzogen werde. Das Strafverfahren gegen den Stiefvater sei auch erst im Jahr 2012 nach Rücknahme der Berufungen im Termin zur mündlichen Verhandlung rechtskräftig abgeschlossen worden. Auch in dem nach der Inobhutnahme K. eingeleiteten familiengerichtlichen Verfahren, das mit dem Entzug von Teilen des Personensorgerechts geendet habe, sei die Entscheidung des Gerichts nach § 1666 BGB mit der Abwendung einer Gefahr für K. C. begründet worden. Bereits in der entsprechenden Antragsschrift sei auf die Gefährdungen der Jugendlichen hingewiesen worden, die sich der Kläger auch für dieses Verfahren zu eigen mache. K. habe in keinem Fall in B1. im Haushalt der Mutter bleiben können. Sie habe Angst gehabt, auch nur zufällig dem Stiefvater zu begegnen. K. empfinde Hass und Ekel vor ihrem Stiefvater. Frau U. sei emotional noch sehr an ihren Ehemann gebunden, mit dem sie zwei Töchter habe. Sie halte regelmäßig Kontakt mit ihm und sei wirtschaftlich von ihm abhängig. Bei ihren Besuchen in B1. habe K. immer wieder feststellen müssen, dass sich der Stiefvater nach wie vor in ihrem Umfeld aufhalte. Dies obwohl der Stiefvater gegenüber K. Bekundungen hinsichtlich zukünftiger sexueller Übergriffe gegenüber den beiden kleinen Schwestern gemacht habe. Die Mutter habe sich auch nicht darum gekümmert, dass im Strafverfahren gegen den Stiefvater für K. ein Verfahrenspfleger bestellt werde. Das Vertrauen zwischen K. und ihrer Mutter sei deshalb sehr belastet. Die Mutter habe selbst bekundet, nicht in der Lage zu sein zu beurteilen, was für ihre Tochter erforderlich sei. Noch vor der Inobhutnahme habe sie bekundet, nicht zu wissen, was im Interesse ihrer Tochter sei. So habe sie sich in Bezug auf die beiden Jugendämter als zwischen den Stühlen sitzend empfunden. K. brauche für ihre weitere seelische Stabilität die Gewissheit, dass die Institutionen und die Mutter sie ernst nähmen im Erleben und in der Wahrnehmung des erfolgten Missbrauchs. Dabei brauche sie auch pädagogische Betreuung. Zum Beleg dieses Vortrags wurde die Vernehmung der zuständigen Mitarbeiter des JA I. angeboten. Es sei bei dieser Sachlage unverständlich, weshalb die Beklagte keinerlei Bedarf für eine Hilfe zur Erziehung sehe.
32Der Kläger beantragt,
33die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 27. Dezember 2012 zu verpflichten, ihm für die Jugendliche K. C. HzE in Form der Vollzeitpflege unter Anrechnung bereits geleisteter Sozialleistungen (Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII und Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II) für den Zeitraum vom 1. Mai 2012 bis zum 30. September 2012 zu bewilligen.
34Die Beklagte beantragt,
35die Klage abzuweisen.
36Sie hält die Klage für unbegründet. Es bestehe kein Anspruch auf HzE für den streitbefangenen Zeitraum. Sie halte auch unter Berücksichtigung des Vortrags des Klägers an ihrer im Vorverfahren geäußerten Auffassung fest, dass es am entsprechenden Wunsch von Mutter und Kind auf Bewilligung der HzE fehle und auch kein pädagogischer Bedarf ersichtlich sei. Die vom JA I. in dieser Angelegenheit entfalteten Aktivitäten könnten aus der Sicht der Beklagten nur schwer nachvollzogen werden. Sie bleibe bei ihrer Auffassung, dass im Fall der K. C. eine ambulante Hilfe zur Erziehung ausreichend gewesen wäre, um ihr Kindeswohl zu sichern. Dies basiert auf dem persönlichen Eindruck der Mitarbeiter des Jugendamtes und insbesondere dem Eindruck von Frau N. , die als Erziehungsbeistand in der Vergangenheit bereits bestellt gewesen sei. Hier habe immer der Eindruck vorgeherrscht, dass die Kindesmutter in der Lage und willens war, den Schutz ihrer Tochter in jeder Hinsicht sicherzustellen. Nach ihrer Erfahrung habe es kein Zusammentreffen zwischen der Tochter K. und dem Stiefvater mehr gegeben. Unter pädagogischen Gesichtspunkten habe das hiesige Jugendamt den Wunsch von K. , aus B1. wegzugehen, der schon sehr früh entstanden sei, eher als Flucht gesehen, die pädagogisch nicht unbedingt zu befürworten gewesen sei. Soweit in der sicherlich problembehafteten Familie der Schutz und das Kindeswohl des Kindes sichergestellt werden könne, halte sie es unter pädagogischen Gesichtspunkten für sinnvoll, wenn das Kind mit entsprechender Unterstützung sich den daraus erwachsenden Problemen stelle. Insofern sei sie immer bereit gewesen, die Erziehungsbeistandschaft fortzusetzen, wenn K. weiter in B1. gelebt hätte. Tatsächlich sei es auch so gewesen, dass Frau N. weiterhin für die Kindesmutter und die zwei im Haushalt noch befindlichen Kinder als Erziehungsbeistand tätig gewesen sei. Für den Fall, dass für K. der Aufenthalt in der Ursprungsfamilie nicht mehr für zuträglich angesehen worden wäre, hätte sich für sie, die Beklagte, die Frage gestellt, ob eine Verwandtenpflege wirklich die beste Hilfsmaßnahme gewesen wäre oder ob nicht eine andere Pflegefamilie oder eine Wohngruppe sinnvoller gewesen wäre. Darüber hinaus gebe es immer noch Rechtsprechung, wie z. B. eine neuere Entscheidung des OVG Rheinland-Pfalz, die Verwandtenpflege nur unter sehr engen Voraussetzungen überhaupt als Hilfe zur Erziehung für möglich erachtet. Die tatsächliche Entscheidung von K. , die Familie zu verlassen und zur Großmutter zu gehen, die von ihrer Mutter zumindest akzeptiert worden sei, sei von ihrem Jugendamt nicht abgelehnt worden. Vielmehr habe es sie als verantwortungsvolle Entscheidung der Familie akzeptiert, sie aber nicht als die notwendige und von uns befürwortete Jugendhilfemaßnahme angesehen. In der Folgezeit habe sie sich nur noch Gewissheit darüber verschafft, dass durch den Aufenthalt bei der Großmutter keine neue Gefährdungssituation für K. eintrete und die Großmutter geeignet sei, die Erziehung von K. zu übernehmen. Darüber hinaus habe aus ihrer Sicht kein Anlass mehr für ein Tätigwerden der Jugendhilfe bestanden. Die behördlichen Entscheidungen seien nach den entsprechenden Bedarfsüberprüfungen ergangen. Sollte zukünftig ein entsprechender pädagogischer Unterstützungsbedarf an das JA B1. herangetragen werden, werde man selbstverständlich in eine neue Bedarfsüberprüfung eintreten und bei Feststellung einer entsprechenden Bedarfslage die erforderlichen Leistungen der Jugendhilfe erbringen.
37Der Stiefvater von K. C. ist vom Amtsgericht B1. durch Urteil vom 29. November 2011 - 338/ Ls-201 Js 129/11-66/11 - wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern in 39 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt. In der nichtöffentlichen Sitzung der 2. großen Jugendkammer des Landgerichts B1. - 92 Ns-201 Js 129/11-1/12 - vom 13. April 2012 haben sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft ihre jeweiligen Berufungen zurückgenommen. Das von der Staatsanwaltschaft B1. unter dem Aktenzeichen 201 Js 904/11 eingeleitete Strafverfahren gegen die Mutter K. wurde von der Ermittlungsbehörde mit Beschluss vom 22. Oktober 2013 mangels Beweises gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Diese Entscheidung beruht unter anderem darauf, dass K. C. in diesem Ermittlungsverfahren gegen ihre Mutter von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hat. Das Gericht hat die oben genannten Strafakten gegen den Stiefvater und das staatsanwaltliche Verfahren gegen die Mutter beigezogen
38Das Gericht hat dem Kläger mit Beschluss vom 26. Juni 2014 Prozesskostenhilfe bewilligt.
39Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die im vorliegenden und im Verfahren 2 K 1830/12 beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Jugendämter B1. und I. sowie die vorliegende Gerichtsakte und die des Verfahrens 2 K 1830/12 Bezug genommen.
40E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:
41Die fristgerecht erhobene Klage ist zulässig.
42Der gerichtlichen Überprüfung steht insbesondere nicht die Bestandskraft des an die Großmutter K. , Frau D. C. , adressierten Bescheides vom 14. Mai 2012 entgegen. Da der Kläger sich am 26. März 2012 gegenüber der Beklagten mit einer Kopie der Bestallungsurkunde als Ergänzungspfleger für K. C. für den Wirkungskreis Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen nach den §§ 27 ff. SGB VIII, die Vermögenssorge und das Recht zur Erziehung bestellt hatte, konnte Anfang Mai 2012 der von der Kindesmutter über die Großmutter eingereichte Antrag auf HzE in Form der Vollzeitpflege nur noch gegenüber dem Kläger wirksam beschieden werden. Dies ist aber nicht erfolgt. Eine Bescheidung des Antrags gegenüber der Großmutter seines Mündels, Frau D. C. , ist keine rechtswirksame Bekanntgabe des Verwaltungsaktes an den Kläger als Vormund im Sinne des § 37 Abs. 1 SGB X. Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 14. Mai 2012 ist deshalb weder wirksam noch bestandskräftig geworden.
43Die Klage ist auch begründet.
44Der Kläger hat bezüglich des Zeitraums vom 1. Mai 2012 bis 30. September 2012 als Ergänzungspfleger für sein Mündel K. C. einen Anspruch auf HzE in Form der Vollzeitpflege im Haushalt von Frau D. C. . Der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 27. Dezember 2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, vgl. § 113 Abs. 1 VwGO.
45Der Beklagte ist gemäß § 36 a Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 27 des Sozialgesetzbuches 8. Buch (SGB VIII) verpflichtet, die Aufwendungen für die hier selbstbeschaffte Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege zu übernehmen.
46Gemäß § 36 a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat ein Jugendhilfeträger grundsätzlich nur dann die Kosten der Hilfe zu tragen, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird. Für den davon abweichenden Fall der sogenannten Selbstbeschaffung, d.h. eine Inanspruchnahme einer Hilfe ohne vorherige Entscheidung des Jugendhilfeträgers oder eine Zulassung der Hilfe durch ihn, regelt § 36 a Abs. 3 SGB VIII einen Anspruch auf Kostenübernahme.
47Die Voraussetzungen des § 36 a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII für den Zeitraum vom 1. Mai 2012 bis zum 30. September 2012 sind vorliegend auch erfüllt. Die Beklagte war vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt worden, § 36 a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII. Denn die Frage, ob wegen der sexuellen Übergriffe Hilfe zur Erziehung zu gewähren ist, war spätestens seit dem Weggang K. aus B1. nach I. Ende September/Anfang Oktober 2010 Gegenstand zahlreicher Besprechungen der Mitarbeiterinnen des Jugendamtes mit K. und ihrer Mutter. Für den hier streitigen Zeitraum war sogar dem Antragserfordernis für die Hilfe zur Erziehung Genüge getan, da im November 2011 die personensorgeberechtigte Mutter K. über die Großmutter einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung gestellt hatte, den sich in der Folge der Kläger als Ergänzungspfleger zu eigen machte.
48Der Antrag vom 24. November war auch so rechtzeitig gestellt, dass die Beklagte als Jugendhilfeträger zur pflichtgemäßen Prüfung sowohl der Anspruchsvoraus-setzungen als auch möglicher Hilfemaßnahmen in der Lage war,
49vgl. dazu etwa OVG NRW, Beschlüsse vom 21. Juni 2012 ‑ 12 A 2229/11 - und 25. April 2012 - 12 A 659/11 - sowie Urteil vom 22. März 2006 - 12 A 806/03 -, jeweils juris.
50Ferner sind ebenfalls die Voraussetzungen für die Bewilligung einer - von dem Kläger ausdrücklich beantragten - Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII gegeben.
51Gemäß § 27 Abs. 1 SGB VIII hat ein Personensorgeberechtigter bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung ist danach nicht gewährleistet, wenn ein erzieherischer Bedarf (Erziehungsdefizit) des Kindes im Einzelfall vorliegt und diese Mängellage durch die Erziehungsleistung der Eltern nicht behoben wird, d.h. es muss sich um einen objektiven Ausfall von Erziehungsleistungen der Eltern/Personensorgeberechtigten handeln.
52Die Hilfe zur Erziehung wird gemäß § 27 Abs. 2 SGB VIII insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 SGB VIII gewährt und richtet sich in Art und Umfang nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall. In § 27 Abs. 2 a SGB VIII ist heute als eine Möglichkeit ausdrücklich die Verwandtenpflege durch Unterhaltspflichtige, z.B. Großeltern, zugelassen. Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen und seinen persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kinder und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten. Dem Jugendamt steht insoweit ein Beurteilungs- und Ermessensspielraum zu, der von dem Verwaltungsgericht nur eingeschränkt überprüfbar ist. Zu beachten ist, dass es sich bei der Entscheidung über die Auswahl und Umfang der Hilfe um das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses zwischen den Beteiligten handelt, welches nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, jedoch eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthält, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss. Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich dabei darauf zu beschränken, ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet worden sind, ob keine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind,
53vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 24. Juni 1999 - 5 C 24/98 -, juris Rz. 39; Bay.VGH, Beschlüsse vom 17. Juni 2004 - 12 CE 04/578 - und 24. Januar 2008 - 12 C 08/6 -, juris; OVG Rheinland -Pfalz, Urteil vom 26. März 2007 - 7 E 10212/07 -, juris; OVG NRW, Beschluss vom 24. Mai 2005 - 12 A 2451/03 - und Urteil vom 5. Dezember 2001 ‑ 12 A 4215/00 ‑, juris.
54Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe kann die ablehnende Entscheidung der Beklagte vom 27. Dezember 2012 keinen Bestand haben.
55Die Kammer geht zunächst davon aus, dass für K. im streitbefangenen Zeitraum die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 27 Abs. 1 SGB VIII gegeben sind, weil in diesem Zeitraum im Haushalt der Mutter eine dem Wohl K. entsprechende Erziehung nicht (mehr) gewährleistet war. Diese Auffassung des Gerichts stützt sich vor allem darauf, dass K. Mutter, Frau G. U. , sich spätestens seit Mitte 2011 in einer schwierigen Situation befand, in der sie eine angemessene Erziehung ihre Tochter überhaupt nicht mehr gewährleisten konnte. Sie wollte zum einen ihre älteste Tochter, von der sie spätestens seit Januar 2010 wusste, dass sie das Opfer zahlreicher sexueller Übergriffe ihres Stiefvaters geworden war, sicherlich vor weiteren Übergriffen schützen; zugleich wollte sie den beiden jüngeren Töchtern die Beziehung zu ihrem leiblichen Vater erhalten. Gegenüber dem Stiefvater war zwar ein Aufenthaltsverbot in der Wohnung ausgesprochen; neben den Modalitäten des Kontakts und des Umgangs mit seinen beiden Kindern waren seine Frau und seine Kinder wirtschaftlich in weitem Umfang von ihm abhängig. Ihm gehörte zusammen mit K. Mutter die Wohnung, in der die Restfamilie lebte. Daneben fühlte sie sich wohl auch noch emotional stark mit ihrem Ehemann, der schließlich der Vater ihrer beiden Töchter war, verbunden. Ihre Erziehungsfähigkeit war seit Juni 2011 weiter dadurch belastet, dass sie nun selbst im Fokus staatsanwaltlicher Ermittlungen wegen eines Anfangsverdachts wegen Beihilfe zum sexuellen Missbrauch von Kindern durch Unterlassen stand. Dabei stellte sich alsbald heraus, dass der Ausgang des Verfahrens von der Aussagebereitschaft ihrer ältesten Tochter abhing, die letztlich von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machte. Dieses staatsanwaltliche Verfahren ist zwar am 23. Oktober 2013 nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden. Im Einstellungsvermerk hat die Staatsanwältin allerdings in Bezug auf K. Mutter ausgeführt:
56"Die Unterzeichnerin hat die Beschuldigte im Rahmen des gegen den gesondert verfolgten L. U. geführten Verfahrens persönlich kennengelernt. Die Beschuldigte hat auf die Unterzeichnerin einen sehr naiven und verschüchterten Eindruck gemacht, die in einem absoluten psychischen, physischen und ökonomischen Abhängigkeitsverhältnis zum getrennt lebenden Ehemann stand bzw. teilweise immer noch steht.
57…..
58Die Beschuldigte scheint allerdings die Tragweite der Handlungen ihres Ehemannes nicht erfasst zu haben und diesen mit einer hochgradigen Naivität und Gutgläubigkeit entgegengetreten zu sein."
59In eine ähnliche Richtung gehen auch die Bewertungen der Mutter durch K. Therapeuten, Dr. T. , bei seiner Anhörung vor dem Amtsgericht im Strafprozess des Stiefvaters.
60Hinzu kam der Druck der Jugendämter in B1. und I. auf K. Mutter, die unterschiedliche Lösungen für ihre Töchter für erforderlich hielten. In Bezug auf die beiden jüngeren Kinder fühlte sie sich dem Druck des Jugendamtes B1. vor etwaig drohenden jugendhilferechtlichen Maßnahmen ausgesetzt; das Jugendamt I. hatte den Entzug der Personensorge für K. angedacht. Dies alles führte dazu, dass sie nicht nur lange zögerte, überhaupt einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung für K. zu stellen, sondern statt der Wahrnehmung der Interessen von Mutter und Tochter gegenüber den Jugendämtern immer nur das bekundete, was diese nach ihrer Einschätzung gerade hören wollten. Dass die Mutter K. in dieser Situation weder einen Ausweg wusste, noch ihre älteste Tochter bei der Bewältigung des damals anstehenden Strafverfahrens des Stiefvaters adäquat unterstützen konnte, bestätigt schließlich das Schreiben ihre Anwältin von Mitte 2011. Dort ist ausgeführt, dass sie in Bezug auf die Jugendämter in B1. und I. zwischen den Stühlen sitze und nicht wisse, wie sie sich verhalten solle. Sie bitte darum, dass die Jugendämter die erforderlichen Fragen untereinander klärten und ihr die erforderliche Hilfe in Form nachvollziehbarer und kompetenter Empfehlungen zukommen zuließen. Als eigene Erklärung fügt die Anwältin hinzu, dass möglicherweise der mehrfachen Erklärung K. , keine Jugendhilfe zu wollen, bei der Einschätzung des Jugendamtes B1. zu viel Gewicht beigemessen werde. Es sei aber schon fraglich, ob eine 13-Jährige eine solche Situation zutreffend einschätzen könne. Es gebe insbesondere im Hinblick auf den anstehenden Strafprozess gegen den Stiefvater keine Alternative zu einem Aufenthalt in I. . Die Verhandlungstermine vor dem Amtsgericht B1. fanden im November und Dezember 2011 und das Berufungsverfahren vor dem Landgericht B1. am 13. April 2012 statt.
61Schließlich ist im Rahmen der Bewertung des Erziehungsdefizits die Situation der Jugendlichen selbst zu berücksichtigen. So hat ihr Therapeut, Herr Dr. T. , bei seiner gerichtlichen Anhörung im Strafprozess gegen den Stiefvater vor dem Amtsgericht bekundet, dass es Hinweise auf eine schwere posttraumatische Belastungsstörung bei K. gebe. Sie sei nicht Opfer eines einmaligen Übergriffs gewesen, sondern diese hätten sich über einen Zeitraum von 1 ½ Jahren hingezogen. K. habe schon im Erstgespräch mehrfach ihre Schuldgefühle betont, durch das Öffentlichmachen der Übergriffe die Familie zerstört zu haben. Während K. im Erstgespräch offen ihre Erlebnisse und Probleme ausgesprochen habe, sei die Mutter unsicher, ambivalenter gewesen und habe immer noch gehofft, die entstandene familiäre Situation durch Gespräche gütlich klären zu können. K. habe die Therapie, die fünf Einheiten umfasste, gut umgesetzt. Aber auch wenn es gut verarbeitet sei, könne das Erlebte immer wieder aktualisiert werden. Es sei nicht untypisch, dass das vor einer Verhandlung wieder hochkomme. Letztlich sei das auch der Grund, warum sie nach I. gegangen sei.
62Unter Würdigung all dieser Fakten hat die Kammer die Überzeugung gewonnen, dass die Einschätzung der Beklagten, nach Erkenntnis des Jugendamtes liege kein Erziehungsdefizit vor und die Kindesmutter sei stets in der Lage gewesen, ihre Tochter ausreichend zu versorgen und zu erziehen, der konkreten Hilfesituation nicht gerecht wird. Dies gilt auch für die Bewertung, dass der Umzug der Jugendlichen nach I. ohne Vorliegen einer pädagogischen Veranlassung ausschließlich auf deren Wunsch hin erfolgt sei. Bei einer defizitären Erziehungssituation in der Herkunftsfamilie sieht die Kammer auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass diese mit ambulanten Hilfen angemessen bearbeitet werden könnten.
63Schließlich erscheint dem Gericht auch die weitere Bewertung, unter pädagogischen Gesichtspunkten habe das hiesige Jugendamt den Wunsch von K. , aus B1. wegzugehen, der schon sehr früh entstanden sei, eher als Flucht gesehen, die pädagogisch nicht unbedingt zu befürworten gewesen sei, nicht haltbar. Es gibt nach Aktenlage außer dem Angebot einer Erziehungsbeistandsschaft keine konkreten Angebote wie in der problembehafteten Familie der Schutz und das Kindeswohl Julias hätte sichergestellt werden können. Es gibt Berichte über Gespräche mit Mutter und Tochter; es ist aber nicht eine Rückfrage nach dem Stand etwaiger Strafprozesse oder in diesem Rahmen eines deshalb bestehenden besonderen Schutzbedarfs der Jugendlichen aktenkundig.
64Ist aber die Erziehung Julias in der Herkunftsfamilie nicht gesichert, hat der Kläger im Rahmen des Wunsch- und Wahlrechts einen Anspruch auf HzE in Form der Vollzeitpflege nach § 33 SGB VIII. Das Jugendamt I. hat die Eignung der Frau D. C. als Pflegeperson festgestellt und ihr eine Erlaubnis nach § 44 SGB VIII erteilt. Gründe, die dem Wunsch des Klägers, K. im Haushalt ihrer Großmutter unterzubringen, entgegenstehen, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
65Soweit der Beklagte die Zulässigkeit der Verwandtenpflege unter Bezugnahme auf die neuere obergerichtliche Rechtsprechung in Zweifel zieht,
66vgl. OVG Koblenz, Urteil vom 27. Juni 2013 - 7 A 10040/23, juris,
67vermag das Gericht dieser Auffassung nicht zu folgen. Nach den Gesetzesmaterialien des 1990 verabschiedeten ursprünglichen SGB VIII war die Verwandtenpflege vom Gesetzgeber gewollt, aber im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. In einer ersten Entscheidung hat das Bundesverwaltungsgericht,
68Urteil vom 12. September 1996 - 5 C 31.95 -, NJW 1997, 2831 f,
69mit Blick auf den Nachrang der Jugendhilfe gegenüber den bürgerlich rechtlichen Unterhaltspflichten für die Verwandtenpflege so hohe Hürden gesetzt, dass sie als jugendhilferechtliche Leistung faktisch nicht stattfinden konnte. Nachdem der Gesetzgeber zum 1. Oktober 2005 die Verwandtenpflege in § 27 a Abs. 2a SGB VIII ausdrücklich in das Gesetz aufgenommen hat, hat das Bundesverwaltungsgericht,
70Urteil vom 1. März 2012 - 5 C 12/11 -, BVerwGE 142, 115 ff.,
71seine Auffassung revidiert und die Verwandtenpflege zugelassen. Dieser Auffassung folgt deshalb auch das erkennende Gericht. Im Übrigen wird die genannte Entscheidung des OVG Koblenz in einem Revisionsverfahren vom Bundesverwaltungsgericht überprüft werden.
72Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
73Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO in Verbindung mit den §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung.
Urteilsbesprechung zu Verwaltungsgericht Aachen Urteil, 19. Aug. 2014 - 2 K 147/13
Urteilsbesprechungen zu Verwaltungsgericht Aachen Urteil, 19. Aug. 2014 - 2 K 147/13
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Verwaltungsgericht Aachen Urteil, 19. Aug. 2014 - 2 K 147/13 zitiert oder wird zitiert von 1 Urteil(en).
(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.
(2) In der Regel ist anzunehmen, dass das Vermögen des Kindes gefährdet ist, wenn der Inhaber der Vermögenssorge seine Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind oder seine mit der Vermögenssorge verbundenen Pflichten verletzt oder Anordnungen des Gerichts, die sich auf die Vermögenssorge beziehen, nicht befolgt.
(3) Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach Absatz 1 gehören insbesondere
- 1.
Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen, - 2.
Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen, - 3.
Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu nutzen, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten oder zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind regelmäßig aufhält, - 4.
Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen oder ein Zusammentreffen mit dem Kind herbeizuführen, - 5.
die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge, - 6.
die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge.
(4) In Angelegenheiten der Personensorge kann das Gericht auch Maßnahmen mit Wirkung gegen einen Dritten treffen.
(1) Bieten die Ermittlungen genügenden Anlaß zur Erhebung der öffentlichen Klage, so erhebt die Staatsanwaltschaft sie durch Einreichung einer Anklageschrift bei dem zuständigen Gericht.
(2) Andernfalls stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Hiervon setzt sie den Beschuldigten in Kenntnis, wenn er als solcher vernommen worden ist oder ein Haftbefehl gegen ihn erlassen war; dasselbe gilt, wenn er um einen Bescheid gebeten hat oder wenn ein besonderes Interesse an der Bekanntgabe ersichtlich ist.
(1) Ein Verwaltungsakt ist demjenigen Beteiligten bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird. Ist ein Bevollmächtigter bestellt, kann die Bekanntgabe ihm gegenüber vorgenommen werden.
(2) Ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, gilt am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Ein Verwaltungsakt, der im Inland oder Ausland elektronisch übermittelt wird, gilt am dritten Tag nach der Absendung als bekannt gegeben. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.
(2a) Mit Einwilligung des Beteiligten können elektronische Verwaltungsakte bekannt gegeben werden, indem sie dem Beteiligten zum Abruf über öffentlich zugängliche Netze bereitgestellt werden. Die Einwilligung kann jederzeit mit Wirkung für die Zukunft widerrufen werden. Die Behörde hat zu gewährleisten, dass der Abruf nur nach Authentifizierung der berechtigten Person möglich ist und der elektronische Verwaltungsakt von ihr gespeichert werden kann. Ein zum Abruf bereitgestellter Verwaltungsakt gilt am dritten Tag nach Absendung der elektronischen Benachrichtigung über die Bereitstellung des Verwaltungsaktes an die abrufberechtigte Person als bekannt gegeben. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang der Benachrichtigung nachzuweisen. Kann die Behörde den von der abrufberechtigten Person bestrittenen Zugang der Benachrichtigung nicht nachweisen, gilt der Verwaltungsakt an dem Tag als bekannt gegeben, an dem die abrufberechtigte Person den Verwaltungsakt abgerufen hat. Das Gleiche gilt, wenn die abrufberechtigte Person unwiderlegbar vorträgt, die Benachrichtigung nicht innerhalb von drei Tagen nach der Absendung erhalten zu haben. Die Möglichkeit einer erneuten Bereitstellung zum Abruf oder der Bekanntgabe auf andere Weise bleibt unberührt.
(2b) In Angelegenheiten nach dem Abschnitt 1 des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes gilt abweichend von Absatz 2a für die Bekanntgabe von elektronischen Verwaltungsakten § 9 des Onlinezugangsgesetzes.
(3) Ein Verwaltungsakt darf öffentlich bekannt gegeben werden, wenn dies durch Rechtsvorschrift zugelassen ist. Eine Allgemeinverfügung darf auch dann öffentlich bekannt gegeben werden, wenn eine Bekanntgabe an die Beteiligten untunlich ist.
(4) Die öffentliche Bekanntgabe eines schriftlichen oder elektronischen Verwaltungsaktes wird dadurch bewirkt, dass sein verfügender Teil in der jeweils vorgeschriebenen Weise entweder ortsüblich oder in der sonst für amtliche Veröffentlichungen vorgeschriebenen Art bekannt gemacht wird. In der Bekanntmachung ist anzugeben, wo der Verwaltungsakt und seine Begründung eingesehen werden können. Der Verwaltungsakt gilt zwei Wochen nach der Bekanntmachung als bekannt gegeben. In einer Allgemeinverfügung kann ein hiervon abweichender Tag, jedoch frühestens der auf die Bekanntmachung folgende Tag bestimmt werden.
(5) Vorschriften über die Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes mittels Zustellung bleiben unberührt.
(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.
(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.
(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
(1) Ein Personensorgeberechtigter hat bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist.
(2) Hilfe zur Erziehung wird insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 gewährt. Art und Umfang der Hilfe richten sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall; dabei soll das engere soziale Umfeld des Kindes oder des Jugendlichen einbezogen werden. Unterschiedliche Hilfearten können miteinander kombiniert werden, sofern dies dem erzieherischen Bedarf des Kindes oder Jugendlichen im Einzelfall entspricht.
(2a) Ist eine Erziehung des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses erforderlich, so entfällt der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nicht dadurch, dass eine andere unterhaltspflichtige Person bereit ist, diese Aufgabe zu übernehmen; die Gewährung von Hilfe zur Erziehung setzt in diesem Fall voraus, dass diese Person bereit und geeignet ist, den Hilfebedarf in Zusammenarbeit mit dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach Maßgabe der §§ 36 und 37 zu decken.
(3) Hilfe zur Erziehung umfasst insbesondere die Gewährung pädagogischer und damit verbundener therapeutischer Leistungen. Bei Bedarf soll sie Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen im Sinne des § 13 Absatz 2 einschließen und kann mit anderen Leistungen nach diesem Buch kombiniert werden. Die in der Schule oder Hochschule wegen des erzieherischen Bedarfs erforderliche Anleitung und Begleitung können als Gruppenangebote an Kinder oder Jugendliche gemeinsam erbracht werden, soweit dies dem Bedarf des Kindes oder Jugendlichen im Einzelfall entspricht.
(4) Wird ein Kind oder eine Jugendliche während ihres Aufenthalts in einer Einrichtung oder einer Pflegefamilie selbst Mutter eines Kindes, so umfasst die Hilfe zur Erziehung auch die Unterstützung bei der Pflege und Erziehung dieses Kindes.
(1) Bieten die Ermittlungen genügenden Anlaß zur Erhebung der öffentlichen Klage, so erhebt die Staatsanwaltschaft sie durch Einreichung einer Anklageschrift bei dem zuständigen Gericht.
(2) Andernfalls stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Hiervon setzt sie den Beschuldigten in Kenntnis, wenn er als solcher vernommen worden ist oder ein Haftbefehl gegen ihn erlassen war; dasselbe gilt, wenn er um einen Bescheid gebeten hat oder wenn ein besonderes Interesse an der Bekanntgabe ersichtlich ist.
Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen und seinen persönlichen Bindungen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kindern und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten. Für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche sind geeignete Formen der Familienpflege zu schaffen und auszubauen.
(1) Wer ein Kind oder einen Jugendlichen über Tag und Nacht in seinem Haushalt aufnehmen will (Pflegeperson), bedarf der Erlaubnis. Einer Erlaubnis bedarf nicht, wer ein Kind oder einen Jugendlichen
- 1.
im Rahmen von Hilfe zur Erziehung oder von Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche auf Grund einer Vermittlung durch das Jugendamt, - 2.
als Vormund oder Pfleger im Rahmen seines Wirkungskreises, - 3.
als Verwandter oder Verschwägerter bis zum dritten Grad, - 4.
bis zur Dauer von acht Wochen, - 5.
im Rahmen eines Schüler- oder Jugendaustausches, - 6.
in Adoptionspflege (§ 1744 des Bürgerlichen Gesetzbuchs)
(2) Die Erlaubnis ist zu versagen, wenn das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen in der Pflegestelle nicht gewährleistet ist. § 72a Absatz 1 und 5 gilt entsprechend.
(3) Das Jugendamt soll den Erfordernissen des Einzelfalls entsprechend an Ort und Stelle überprüfen, ob die Voraussetzungen für die Erteilung der Erlaubnis weiter bestehen. Ist das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen in der Pflegestelle gefährdet und ist die Pflegeperson nicht bereit oder in der Lage, die Gefährdung abzuwenden, so ist die Erlaubnis zurückzunehmen oder zu widerrufen.
(4) Wer ein Kind oder einen Jugendlichen in erlaubnispflichtige Familienpflege aufgenommen hat, hat das Jugendamt über wichtige Ereignisse zu unterrichten, die das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen betreffen.
Tatbestand
- 1
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Die Kläger begehren jugendhilferechtlichen Aufwendungsersatz für die Vollzeitpflege ihres Enkelkindes.
- 2
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Die Kläger sind die Großeltern der am 23. November 2005 geborenen Emily M. Die Mutter des Kindes war zum Zeitpunkt seiner Geburt erst 15 Jahre alt. Daher hat das Amtsgericht den Großeltern die Vormundschaft für das Kind übertragen, in deren Haushalt die minderjährige Mutter und ihr Kind von Anfang an lebten. Die Kläger beantragten am 19. April 2006 die Gewährung von Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege und die Bewilligung von Pflegegeld. Die Beklagte lehnte dies mit Bescheid vom 19. Mai 2006 ab. Hiergegen haben die Kläger am 22. Juni 2006 Klage erhoben, die Pflege ihres Enkelkindes aber fortgesetzt. Nachdem die gesamte Großfamilie am 21. Juni 2007 in den Nachbarlandkreis umgezogen war, beantragten die Kläger dort mit Schreiben vom 21. Oktober 2007 die Bewilligung von Vollzeitpflege, was mit Bescheid vom 10. Dezember 2007 ebenfalls abgelehnt wurde und Gegenstand eines weiteren Verwaltungsrechtstreits ist. Den Großeltern wurde nach dem Auszug der Kindesmutter aus der gemeinsamen Wohnung ab August 2009 Vollzeitpflege bewilligt.
- 3
-
Das Verwaltungsgericht hat der zuerst erhobenen Klage gegen die beklagte Stadt mit Urteil vom 21. Mai 2008 stattgegeben und diese verpflichtet, den Klägern "Hilfe zur Erziehung in Form der Gewährung von Pflegegeld" für ihr Enkelkind ab dem 19. April 2006 zu bewilligen. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hat mit Beschluss vom 13. Januar 2011 das Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Ein Anspruch auf Pflegegeld bestehe schon deswegen nicht, weil das Kind von Geburt an mit seiner Mutter und seinen Großeltern zusammen gelebt habe, so dass keine Pflege "außerhalb des Elternhauses" im Sinne der § 27 Abs. 2a, § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII vorliege. Unter dem Begriff des Elternhauses sei der Ort zu verstehen, an dem sich der Minderjährige mit seinen Eltern aufhalte und an dem sich Eltern-Kind-Beziehungen entwickeln könnten. § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII regele die Sicherstellung des Lebensunterhalts eines Kindes oder Jugendlichen, der außerhalb der eigenen Familie erzogen werde. Da Mutter und Kind hier nicht getrennt seien, finde keine Pflege außerhalb des Elternhauses statt. Dementsprechend sehe auch § 33 Satz 1 SGB VIII die Gewährung von Vollzeitpflege nur vor, wenn zwischen der "Herkunftsfamilie" und der die Pflege durchführenden "anderen Familie" unterschieden werden könne. Eine solche Unterscheidung sei aber nicht möglich, wenn das Kind, die Mutter und die Großeltern in einer aus drei Generationen bestehenden Familie in einem Haushalt zusammen lebten. Es liege somit auch keine Vollzeitpflege vor.
- 4
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Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügen die Kläger eine Verletzung der §§ 27, 33, 39 SGB VIII. Hilfe zur Erziehung in Form von Vollzeitpflege sei nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil die Betreuung durch Großeltern in deren Familie erfolge. Die Großeltern zählten unabhängig von den Wohnverhältnissen nicht zur "Herkunftsfamilie", zu der nur die hilfebedürftigen Kinder und ihre Eltern zu rechnen seien. Es bestünden im vorliegenden Fall keine Zweifel darüber, dass die Kindesmutter als "Herkunftsfamilie" nicht erziehungsfähig sei. Bei dem Haus der Großeltern handele es sich auch nicht um das "Elternhaus" des Enkelkindes. Vielmehr verfüge die leibliche Mutter nicht über einen eigenen Haushalt. Aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK ergebe sich zudem die Verpflichtung des Staates, familiäre Bindungen des Kindes zu seinen Eltern oder Großeltern möglichst zu erhalten oder wiederherzustellen, so dass auch beim Zusammenleben von drei Generationen unter einem Dach Vollzeitpflege gewährt werden müsse. In zeitlicher Hinsicht bestehe der Anspruch auf Vollzeitpflege vom Zeitpunkt der Antragstellung am 19. April 2006 bis zum Zeitpunkt der erstmaligen Befriedigung am 1. August 2009. Im vorliegenden Rechtsstreit sei die beklagte Stadt zur Hilfegewährung bis 21. Oktober 2007 verpflichtet. Dass die Kläger im Juni 2007 aus dem Bereich der Beklagten weggezogen seien, berühre den Anspruch nicht.
- 5
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Die Beklagte verteidigt den angegriffenen Beschluss. Der Vertreter des Bundesinteresses hat sich der Rechtsauffassung der Kläger angeschlossen.
Entscheidungsgründe
- 6
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Die zulässige Revision ist begründet. Der angegriffene Beschluss beruht auf der Verletzung von Bundesrecht und stellt sich auch nicht im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Da der entscheidungserhebliche Sachverhalt geklärt ist, kann der Senat in der Sache selbst entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO). Die Kläger haben einen Anspruch auf Übernahme ihrer erforderlichen Aufwendungen für die von ihnen in der Zeit vom 19. April 2006 bis zum 21. Oktober 2007 erbrachte Vollzeitpflege ihres Enkels (1.). Der Anspruch richtet sich gegen die Beklagte (2.) Die Kläger sind nicht aus prozessualen Gründen gehindert, diesen Anspruch im Revisionsverfahren geltend zu machen (3.).
- 7
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1. Das Begehren der Kläger ist nach § 36a Abs. 3 Satz 1 des Sozialgesetzbuches - Achtes Buch - (SGB VIII) begründet.
- 8
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Diese Bestimmung verleiht einen Anspruch auf die Übernahme der erforderlichen Aufwendungen für selbst beschaffte Hilfen. Das sind Hilfen, die - wie hier - vom Leistungsberechtigten abweichend von § 36a Abs. 1 und 2 SGB VIII erbracht werden, ohne dass eine Entscheidung des Trägers der Jugendhilfe oder eine Zulassung durch diesen vorangegangen ist. Der Übernahmeanspruch setzt nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII voraus, dass der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat (Nr. 1), die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen (Nr. 2) und die Deckung des Bedarfs keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat (Nr. 3). Dies war hier der Fall.
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a) Die Kläger hatten die Beklagte zu Beginn des Zeitraums, für den die Übernahme der Aufwendung beansprucht wird, von dem Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt. Dies geschah spätestens mit Antrag vom 19. April 2006, mit dem die Gewährung von Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege und die Bewilligung von Pflegegeld begehrt wurde.
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b) Die Kläger hatten in dem hier in Rede stehenden Zeitraum einen Anspruch auf Gewährung von Vollzeitpflege.
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Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat ein Personenberechtigter bei der Erziehung eines Kindes oder Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Hilfe zur Erziehung wird insbesondere nach Maßgabe der §§ 28 bis 35 SGB VIII gewährt (§ 27 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII). Nach § 33 Satz 1 SGB VIII soll Hilfe zur Erziehung in Gestalt der Vollzeitpflege Kindern oder Jugendlichen unter anderem entsprechend den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine auf Dauer angelegte Lebensform bieten. Ist eine Erziehung des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses erforderlich, so entfällt der Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nicht dadurch, dass eine andere unterhaltspflichtige Person bereit ist, diese Aufgabe zu übernehmen (§ 27 Abs. 2a Halbs. 1 SGB VIII). Wird Hilfe zur Erziehung unter anderem in Form der Vollzeitpflege gewährt, so ist auch der notwendige Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen außerhalb des Elternhauses sicherzustellen (§ 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Danach konnten die Kläger die Vollzeitpflege einschließlich des Unterhalts für ihren Enkel beanspruchen.
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aa) Die Voraussetzungen des § 33 Satz 1 SGB VIII lagen vor. Insbesondere wurde die Vollzeitpflege durch die Kläger "in einer anderen Familie" erbracht.
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§ 33 Satz 1 SGB VIII unterscheidet zwischen der "Herkunftsfamilie" und der "anderen Familie". Findet die Pflege in der Herkunftsfamilie statt, scheidet ein Anspruch nach § 33 Satz 1 SGB VIII aus. In der Rechtsprechung des Senats ist geklärt, dass aus Sicht des § 33 Satz 1 SGB VIII die Herkunftsfamilie die Familie ist, aus der das Kind oder der Jugendliche ursprünglich herkommt. Das ist die aus den Eltern und gegebenenfalls Geschwistern bestehende sogenannte Kernfamilie (vgl. Urteile vom 12. September 1996 - BVerwG 5 C 31.95 - Buchholz 436.511 § 27 KJHG/SGB VIII Nr. 3 S. 10 und vom 15. Dezember 1995 - BVerwG 5 C 2.94 - BVerwGE 100, 178 <179 f.>). Demnach gehören die Großeltern nicht zur Herkunftsfamilie. Erbringen sie die Vollzeitpflege, sind sie als "andere Familie" im Sinne von § 33 Satz 1 SGB VIII anzusehen (vgl. Urteil vom 12. September 1996 a.a.O. S. 10). Dies entspricht den Erwägungen, aus denen der Gesetzgeber mit § 27 Abs. 2a SGB VIII die Verwandtenpflege unter erleichterten Bedingungen zugelassen hat. In der Begründung des Gesetzentwurfs wird insoweit dargelegt (vgl. BTDrucks 15/3676 S. 35), es entspreche einer jahrzehntelangen Praxis, Vollzeitpflege als Leistung der Kinder- und Jugendhilfe nicht nur in Haushalten von Personen zu gewähren, die mit dem Kind oder Jugendlichen nicht (näher) verwandt seien, sondern auch in Haushalten von nahen Verwandten wie insbesondere Großeltern. Diese seien insoweit als "andere Familie" anzusehen und gehörten nicht zur Herkunftsfamilie.
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Die die Pflege erbringenden Großeltern sind auch dann als "andere Familie" anzusehen, wenn zwischen ihnen und den Eltern des Kindes oder Jugendlichen keine räumliche Trennung besteht, weil alle drei Generationen in einem Haushalt zusammenleben. Die gegenteilige Auffassung des Oberverwaltungsgerichts ist mit Bundesrecht nicht vereinbar. Bereits der Wortlaut des § 33 Satz 1 SGB VIII weist in die Richtung, dass es für die Unterscheidung von "Herkunftsfamilie" und "anderer Familie" nicht (auch) auf die Wohnverhältnisse in räumlicher Hinsicht ankommt, sondern allein darauf, ob aus verwandtschaftlicher Sicht die Pflege in der Herkunftsfamilie gewährt wird oder nicht.
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Eine an Sinn und Zweck des § 33 Satz 1 SGB VIII ausgerichtete Auslegung gebietet die Annahme, dass eine von den Großeltern geleistete Vollzeitpflege auch dann in einer "anderen Familie" stattfindet, wenn die Eltern des Kindes oder Jugendlichen im selben Haushalt leben. § 33 SGB VIII verfolgt das Ziel, die Erziehungsbedingungen eines Kindes oder Jugendlichen durch Einschaltung von Pflegepersonen zu verbessern, wenn der erzieherische Bedarf durch Mitglieder der Herkunftsfamilie nicht abgedeckt werden kann. Bei der Auswahl der Pflegepersonen sind die persönlichen Bindungen des Kindes oder Jugendlichen in besonderer Weise zu berücksichtigen. Hat ein Kind oder Jugendlicher eine besondere Beziehung etwa zu seinen Großeltern, liefe es dem Sinn und Zweck des § 33 SGB VIII zuwider, diese deshalb nicht als "andere Familie" anzusehen und von dem Anspruch auf Vollzeitpflege auszuschließen, weil in ihrem Haushalt auch noch die Eltern oder ein Elternteil leben und es damit an einer räumlichen Trennung fehlt. Aus der Entstehungsgeschichte des § 33 SGB VIII folgt nichts anderes (vgl. BTDrucks 11/5948 S. 16).
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Die Auslegung unter systematischen Gesichtspunkten läuft dem aus der teleologischen Deutung gewonnenen Befund nicht zuwider. Insbesondere folgt aus dem Zusammenhang des § 33 Satz 1 SGB VIII mit dem Tatbestandsmerkmal "außerhalb des Elternhauses" in § 27 Abs. 2a SGB VIII und § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII nicht, dass Großeltern, die mit ihrem Kind und einem Enkel einen Haushalt teilen, keinen Anspruch auf Vollzeitpflege haben. Anders läge es nur, wenn das Merkmal "außerhalb des Elternhauses" stets eine räumliche Trennung zwischen dem Ort, an dem Hilfe zur Erziehung gewährt wird, und demjenigen, an dem die Eltern des Kindes oder Jugendlichen leben, voraussetzt und ein solcher Begriffsinhalt die Auslegung des Merkmals "andere Familie" im Sinne von § 33 Satz 1 SGB VIII maßgeblich steuert. Dies ist nicht der Fall.
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§ 27 Abs. 2a SGB VIII und § 39 Abs. 1 SGB VIII beziehen sich nicht nur auf die Vollzeitpflege im Sinne von § 33 SGB VIII, sondern auch auf andere in den §§ 28 ff. SGB VIII geregelte Hilfearten. Soweit die Bestimmungen § 33 SGB VIII betreffen, wird Erziehungshilfe auch dann außerhalb des Elternhauses gewährt, wenn die in Rede stehende räumliche Trennung nicht gegeben ist. Dies ergibt sich allerdings nicht schon aus dem Wortlaut des Begriffs "Elternhaus". Dieser wird im allgemeinen Sprachgebrauch in zwei Bedeutungen verwendet, einer räumlich-konkreten und einer übertragen-funktionellen. Im ersten Sinn bedeutet er das elterliche Haus als Ort, in dem die Kindheit verbracht wird. In der zweiten Bedeutung meint er die Familie als Stätte der Erziehung mit ihrem prägenden Einfluss (vgl. Brockhaus/Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 2. Band, 1981, S. 470). Im Zusammenhang mit der Vollzeitpflege ist der Begriff des Elternhauses in § 27 Abs. 2a SGB VIII und § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII im übertragenen Sinn zu verstehen. Dafür sprechen bereits die Begründungen der Entwürfe zu § 33 SGB VIII und § 39 Abs. 1 SGB VIII, in denen die Begriffe "außerhalb des Elternhauses" und "außerhalb der eigenen Familie" synonym gebraucht werden (vgl. BTDrucks 11/5948 S. 71 und 75). Dies erweist sich als deutlicher Hinweis dahin, dass dem Merkmal "außerhalb des Elternhauses" die gleiche Bedeutung beizumessen ist, wie demjenigen der "anderen Familie", bei dem es - wie aufgezeigt - mit Blick auf den Sinn und Zweck des § 33 SGB VIII nicht auf eine räumliche Trennung von der Herkunftsfamilie ankommt. Nur ein übertragenes Begriffsverständnis des "Elternhauses" im Sinne des elterlichen Haushalts trägt der aufgezeigten Zielsetzung des § 27 Abs. 2a SGB VIII ausreichend Rechnung, die nahen Verwandten des hilfebedürftigen Kindes oder Jugendlichen stärker an der Vollzeitpflege zu beteiligen. Die Gesetzesmaterialien zu jener Vorschrift liefern keinen Anhaltspunkt dafür, dass durch die Formulierung "außerhalb des Elternhauses" eine Einschränkung der Vollzeitpflege durch Verwandte im Sinne eines räumlichen Trennungsgebots bezweckt ist. Auch die Stellung des § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII im Kontext der gemeinsamen Vorschriften der Hilfe zur Erziehung streitet dafür, den Begriff "außerhalb des Elternhauses" als synonyme Formulierung zu "außerhalb der eigenen Familie", wie er sich auch in § 36 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB VIII findet, zu verstehen. Ferner widerspräche es - wie von den Klägern zutreffend hervorgehoben wird - der Intention des § 33 SGB VIII sowie des § 37 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB VIII, die Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie zu verbessern, wenn das Zusammenleben der Pflegeeltern mit einem altersbedingt noch nicht erziehungsfähigen leiblichen Elternteil das entscheidende Kriterium für die Ablehnung des Anspruchs auf Vollzeitpflege wäre. Denn ein solches Zusammenleben kann auch dazu führen, die Erziehungsfähigkeit und -bereitschaft des Elternteils zu stärken. Mithin wird eine Vollzeitpflege im Sinne von § 33 SGB VIII auch dann außerhalb des Elternhauses gewährt, wenn - wie hier - die Pflegeeltern und ein Elternteil im selben Haushalt leben.
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bb) Auch die übrigen Voraussetzungen für die Gewährung von Vollzeitpflege lagen vor.
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Da das Amtsgericht den Klägern mit Beschluss vom 1. Dezember 2005 die Vormundschaft für das Kind übertragen hat (vgl. § 1793 Abs. 1 Satz 1 BGB), sind sie im Sinne des § 27 Abs. 1 SGB VIII als Personensorgeberechtigte zur Geltendmachung des Anspruchs auf Vollzeitpflege und des Annexanspruchs auf Pflegegeld berechtigt gewesen (vgl. Urteil vom 12. September 1996 a.a.O. S. 8). Auch hat für das Enkelkind der Kläger ein ungedeckter erzieherischer Bedarf im Sinne des § 27 Abs. 1 SGB VIII bestanden, weil die Mutter des Kindes aufgrund ihres jugendlichen Alters zur Erziehung nicht in der Lage gewesen ist. Zwar haben die Kläger als Großeltern die Erziehungsaufgabe nach der Geburt des Kindes etwa ein halbes Jahr lang freiwillig und unentgeltlich übernommen. Seit sie mit ihrem Antrag vom 19. April 2006 erklärt haben, nicht mehr zur weiteren Erziehung des Kindes ohne staatliche Unterstützung bereit zu sein, ist der Bedarf jedoch nicht mehr von dritter Seite gedeckt gewesen (vgl. Urteil vom 15. Dezember 1995 a.a.O. <181>).
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Vor diesem Hintergrund ist die beantragte Vollzeitpflege durch die Großeltern eine im Hinblick auf das Kindeswohl im Sinne des § 27 Abs. 1 SGB VIII geeignete und notwendige Maßnahme gewesen. Dass aufgrund der ab Geburt bestehenden persönlichen Bindungen des Kindes die Vollzeitpflege durch die Großeltern dem Kindeswohl entsprochen hat, drängt sich auf, zumal an der persönlichen Eignung der Kläger zur Erziehung des Kindes kein vernünftiger Zweifel besteht. Die Klägerin zu 1 hat nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts ihre Arbeitsstelle aufgegeben, um sich im gebotenen Umfang um ihre Enkeltochter zu kümmern. Auch die Bereitschaft der Kläger, die Vollzeitpflege ihres Enkelkindes nach § 27 Abs. 2a SGB VIII in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt der Beklagten entsprechend einem Hilfeplan zu leisten, ist von der Beklagten im Revisionsverfahren nicht in einer Weise substanziiert in Frage gestellt worden, die den Senat veranlassen könnte, insoweit eine weitere Sachverhaltsaufklärung für erforderlich zu erachten. Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass im konkreten Fall eine niedrigschwelligere Hilfeform ausgereicht hätte, um den erzieherischen Bedarf des im maßgeblichen Zeitraum einhalb- bis eineinhalbjährigen Kindes zu decken.
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c) Die Vollzeitpflege duldete auch keinen zeitlichen Aufschub im Sinne von § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII, was zwischen den Parteien auch nicht umstritten ist. Der erkennende Senat ist im Zusammenhang mit der sozialhilferechtlichen Hilfe zum Lebensunterhalt stets davon ausgegangen, dass schon während des Verwaltungsverfahrens ein unaufschiebbarer Bedarf vorliegt (vgl. Urteil vom 23. Juni 1994 - BVerwG 5 C 26.92 - BVerwGE 96, 152 <158>). Nichts anderes gilt, wenn es um die Deckung des erzieherischen Bedarfs eines Kleinkindes durch jugendhilferechtliche Maßnahmen und die Sicherstellung des Unterhalts geht.
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d) Der Umfang der nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII zu übernehmenden erforderlichen Aufwendungen entspricht dem Betrag, der bei rechtzeitiger Gewährung der Hilfe vom Jugendhilfeträger nach den zugrunde liegenden öffentlich-rechtlichen Bestimmungen zu tragen gewesen wäre.
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Vor Inkrafttreten des § 36a Abs. 3 SGB VIII waren die Jugendhilfeträger im Falle zulässiger Selbstbeschaffung nach der Rechtsprechung verpflichtet, die begehrte Hilfe durch einen Hilfebescheid rückwirkend zu bewilligen und auf dieser Grundlage die entsprechenden Kosten zu übernehmen (vgl. Urteil vom 15. Dezember 1995 a.a.O. <182>). Im Anwendungsbereich des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII ist eine Bewilligung für die Vergangenheit entbehrlich. Mit dem Anspruch auf Übernahme der erforderlichen Aufwendungen hat der Gesetzgeber im Vergleich zur früheren Rechtslage keine Schlechterstellung der Berechtigten bezweckt. Dies ergibt sich bereits aus den in der Begründung des Gesetzentwurfs enthaltenen Verweisen auf die bisherige Rechtsprechung (vgl. BTDrucks 15/3676 S. 13, 26 und 36 sowie BTDrucks 15/5616 S. 8 und 26), die im Fall der rechtswidrigen Vorenthaltung einer Hilfe den Betroffenen in finanzieller Hinsicht nicht schlechter gestellt hat als im Fall der rechtzeitigen Leistungsgewährung. Auch die von Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG gebotene Gleichbehandlung beider Fallgruppen schließt es aus, bei der Bestimmung des Umfangs der erforderlichen Aufwendungen sich auf die von den Betroffenen tatsächlich erbrachten Vermögensopfer zu beschränken. Vielmehr sind nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII alle Kosten, die vom Jugendhilfeträger bei rechtzeitiger Bewilligung zu erstatten gewesen wären, zu übernehmen. Mithin sind im Fall der selbst beschafften Hilfe nicht nur die tatsächlich nachweisbaren Vermögenseinbußen, sondern auch die in § 39 SGB VIII vorgesehenen Pauschalen zu übernehmen. Hängt im Fall der Leistungsbewilligung die Höhe des Pflegegeldes nach § 39 Abs. 4 Satz 4 SGB VIII von einer Prüfung der Einkommensverhältnisse und gegebenenfalls von einer Ermessensentscheidung des Jugendhilfeträgers ab, muss auch bei der Übernahme der Aufwendungen nach § 36a Abs. 3 SGB VIII eine entsprechende Prüfung und Ermessensentscheidung stattfinden.
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2. Die Kläger sind berechtigt, den Anspruch uneingeschränkt gegenüber der Beklagten geltend zu machen. Diese war während des gesamten Zeitraums, für den die Übernahme der Aufwendungen begehrt wird, für die Gewährung von Vollzeitpflege (auch) örtlich zuständig. Für die Zeit des Aufenthalts der Mutter im Bereich der Beklagten folgt dies aus § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII bzw. aus § 86 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 SGB VIII. Der Umzug der Mutter in den Bereich des Landkreises Stade führte nach § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII zu keiner Änderung der Zuständigkeit, weil die Personensorge keinem Elternteil zustand und in einem solchen Fall die bestehende Zuständigkeit trotz Aufenthaltswechsels eines Elternteils erhalten bleibt (vgl. Urteil vom 19. Oktober 2011 - BVerwG 5 C 25.10 - juris Rn. 34 ff. m.w.N.)
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3. Die Kläger sind nicht aus prozessrechtlichen Gründen gehindert, im Revisionsverfahren die Übernahme der erforderlichen Aufwendungen für den in Rede stehenden Zeitraum zu begehren. Eine im Revisionsverfahren nach § 142 Abs. 1 Satz 1 VwGO unzulässige Klageänderung liegt nicht darin, dass anders als in den Vorinstanzen nicht die Gewährung von Vollzeitpflege nach § 33 Abs. 1 SGB VIII und Unterhalt im Sinne von § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, sondern Aufwendungsübernahme begehrt wird. Dies ist nach § 173 VwGO i.V.m. § 264 Nr. 3 ZPO nicht als Klageänderung anzusehen, weil dasselbe Interesse weiterverfolgt wird. Soweit im Vergleich zu den Vorinstanzen das Begehren auf die Zeit bis zum 21. Oktober 2007 beschränkt wird, liegt darin eine Konkretisierung des Begehrens in zeitlicher Hinsicht.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.
(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.
(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.
Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:
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Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen; - 2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a; - 3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird; - 4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden; - 5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären; - 6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden; - 7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen; - 8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht; - 9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung; - 10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist; - 11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.