Sozialgericht München Urteil, 11. Dez. 2017 - S 28 KA 615/15

published on 11/12/2017 00:00
Sozialgericht München Urteil, 11. Dez. 2017 - S 28 KA 615/15
Urteilsbesprechung zu {{shorttitle}}
Referenzen - Gesetze
Referenzen - Urteile

Gericht

There are no judges assigned to this case currently.
addJudgesHint

Tenor

I. Der Honorar- und Richtigstellungsbescheid der Beklagten vom 18.11.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.04.2015 wird teilweise aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Leistungen hinsichtlich der Behandlungsfälle C., D., E., F., G., H., I., J., K., L., M., N. und O. i.H.v. 1.050,16 EUR nachzuvergüten.

II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Absetzung von dreizehn Behandlungsfällen im Quartal 2/2014 i.H.v. 1.050,16 EUR streitig. Die Klägerin ist Kinder- und Jugendmedizinerin mit Schwerpunkt Neuropädiatrie. Sie ist als Oberärztin am Klinikum A-Stadt tätig und verfügt über eine Ermächtigung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung im Bereich Neuropädiatrie. Erstmalig wurde sie zum 01.01.2012 ermächtigt.

Mit Bescheid vom 18.11.2014 setze die Beklagte das Honorar der Klägerin für das Quartal 2/2014 i.H.v. 21.973,77 EUR fest. Mit Richtigstellungsbescheid vom selben Tage stellte die Beklagte die Abrechnung der Klägerin für das Quartal 2/2014 sachlich und rechnerisch richtig und setzte die Leistungen von 18 Behandlungsfällen ab, da sie wegen des Umfangs der Ermächtigung nicht abgerechnet werden könnten.

Die Klägerin erhob gegen den Richtigstellungsbescheid Widerspruch, beschränkte diesen jedoch auf die Absetzung von dreizehn Behandlungsfällen. Zwölf dieser Patienten litten unter einer schweren Mehrfachbehinderung und würden deshalb langjährig (meist seit Geburt) in der Ambulanz des Klinikums der Klägerin betreut. Zudem sei häufig eine multidisziplinäre Betreuung erforderlich (z.B. psychosoziale Beratung). Der Entwicklungsstand entsprechend dem eines Kleinkindes, was einen entsprechenden Umgang sowohl bei der EEG-Ableitung als auch körperlichen Untersuchung erfordere. Die Betreuung erfolge aufgrund bislang fehlender alternativer Betreuung beim Erwachsenen-Neurologen auf ausdrücklichen Wunsch der Eltern weiterhin durch die Klägerin. Eine Patientin leide unter einem komplexen Fehlbildungssyndrom. Sie werde weiterhin von der Klägerin betreut, wegen bislang fehlender alternativer Betreuung beim Erwachsenen-Neurologen und wegen ausdrücklichen Wunsches der Eltern und der Patientin.

Mit Widerspruchsbescheid vom 15.04.2015 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Ein Arzt, der eine Gebietsbezeichnung führe, dürfe grundsätzlich nur in diesem Gebiet tätig werden. Das Gebiet Kinder- und Jugendmedizin umfasse nach der Weiterbildungsordnung nicht die Behandlung Erwachsener. Bei Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet hätten, könne regelmäßig davon ausgegangen werden, dass es sich nicht mehr um Kinder handele. Denn in aller Regel sei das körperliche Wachstum mit 18 Jahren im Wesentlichen abgeschlossen und auch die geistig-seelische Entwicklung in ihren wesentlichen Grundlagen festgelegt. Eine eventuelle Kostenübernahme durch die jeweilige Krankenkasse im Wege der Direktabrechnung wäre gegebenenfalls mit dem betreffenden Kostenträger zu klären.

Die Klägerin hat am 21.05.2015 Klage zum Sozialgericht München erhoben. Sie hat ausgeführt, dass jedenfalls der Normgeber des EBM, der bei der Versichertenpauschale fünf Altersklassen unterscheide, davon ausgehe, dass Kinderärzte auch Patienten behandeln dürften, die das 18. Lebensjahr vollendet haben. Die Zahl der Patienten, die das 18. Lebensjahr vollendet hätten und von der Klägerin behandelt würden, liege deutlich unter 5%. Dies sei mit der Rechtsprechung des BVerfG vereinbar. Von einer systematischen, fachfremden Tätigkeit könne keine Rede sein. Der Klägerin komme es nicht darauf an, gezielt ihre ärztliche Tätigkeit auszuweiten, sondern vielmehr darauf, im Interesse der Patienten in einzelnen Ausnahmefällen und in Ermangelung anderer Behandlungsmöglichkeiten der Patienten eine Vergütung auch für diejenigen Fälle zu erhalten, die das 18. Lebensjahr vollendet hätten.

Die Klägerin beantragt,

den Honorar- und Richtigstellungsbescheid der Beklagten vom 18.11.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.04.2015 teilweise aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Leistungen hinsichtlich der Behandlungsfälle C., D., E., F., G., H., I., J., K., L., M., N. und O. i.H.v. 1050,16 EUR nachzuvergüten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie weist darauf hin, dass nicht mehr von einer ausnahmsweisen Behandlung von Patienten, die das 18. Lebensjahr bereits vollendet haben, ausgegangen werden könne. Es handele sich um eine systematische Behandlung von Patienten, die das 18. Lebensjahr vollendet hätten und mangels alternativer Behandlungsmöglichkeiten so lange in der Behandlung der Klägerin verbleiben sollten, bis eine entsprechende Übernahme der Patienten durch einen Erwachsenen-Neurologen erfolgen könne. Die Klägerin führe damit Gründe der Sicherstellung an, die nicht zu einer Abrechenbarkeit der streitigen Leistungen führen könnten.

Im Rahmen des Gerichtsverfahrens hat die Klägerin mitgeteilt, dass die Beklagte in dem streitgegenständlichen Quartal 2/2014 erstmalig die Behandlungsfälle mittlerweile erwachsener Patienten abgesetzt habe. Zuvor habe die Beklagte die Behandlung von schwer mehrfach Behinderten, die das 18. Lebensjahr überschritten hätten, stets vergütet.

Die Beklagte hat die Behandlungsscheine der 13 streitigen Behandlungsfälle vorgelegt. Alle Behandlungsscheine enthalten den Vermerk: „Aufgrund der Erkrankung erfolgt bereits seit einigen Jahren auf Wunsch des Patienten kontinuierlich eine spezielle ambulante sowie ggf. stationäre Betreuung in der I. Klinik für Kinder und Jugendliche.“ Die Beklagte hat ausgeführt, dass die vorgenommenen Streichungen ab Quartal 2/2014 bei allen ermächtigten Kinder- und Jugendärzten in Bayern vollzogen worden seien. Aus Kulanzgründen seien Ausnahmen gemacht worden bei Patienten, die das 18. Lebensjahr im Behandlungsquartal vollendeten sowie bei Patienten im Alter zwischen 18 und 21 Jahren, bei denen die Behandlung mit der Diagnose Schwerst- bzw. Mehrfachbehinderung und damit begründet worden sei, dass die Betreuung/Anbehandlung bereits im Kindes- bzw. Jugendalter erfolgt sei. Ab einem Patientenalter von 21 Jahren sei schließlich eine ausnahmslose Absetzung der Leistungen erfolgt. Es habe zwar im Jahr 2008 eine E-Mail-Anfrage des Klinikums A-Stadt wegen der Abrechnung ermächtigter Kinderärzte gegeben, diese habe jedoch nur die zum damaligen Zeitpunkt ermächtigten Prof. Dr. P. und Dr. Q. betroffen. Eine Absprache oder Vereinbarung mit der Klägerin selbst über die Behandlung von Patienten, die das 18. Lebensjahr schon vollendet hätten, liege nicht vor. Es stelle sich für die Beklagte die Frage, ob für die Klägerin - welche erst ab dem 01.01.2012 zur vertragsärztlichen Versorgung ermächtigt worden sei - die damalige Auskunft aus dem Jahre 2008 überhaupt übernommen werden könne. Eine allgemein gültige Absprache mit dem Klinikum A-Stadt hinsichtlich der Behandlung von über achtzehnjährigen Patienten durch sämtliche am Klinikum ermächtigten Kinderärzte habe nicht bestanden. Da sich der vorgelegte Schriftverkehr gerade nicht an die Klägerin persönlich gerichtet habe, könne sich diese vorliegend nicht auf Vertrauensschutzgesichtspunkte berufen.

Die Klägerin hat darauf verwiesen, dass die Beklagte in der E-Mail-Korrespondenz 2008 dem Klinikum der Klägerin eine Liste mit Diagnosen zugeleitet habe, bei deren Vorliegen eine Behandlung von Patienten über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus möglich sei. Die Liste enthalte Diagnosen, die zahlreiche Bereiche der Kinderheilkunde beträfen und nicht lediglich die Schwerpunktbereiche der Kinderärzte Prof. Dr. P. und Dr. Q. Die Beklagte habe auch betont, dass diese Liste „ohne Anspruch auf Vollständigkeit“ übermittelt werde. Im Übrigen habe die Beklagte in einem Schreiben vom 24.03.2009 gegenüber dem Klinikum A-Stadt, Klinik für Kinder und Jugendliche, Prof. Dr. P., Kinderkardiologie, mitgeteilt, dass eine über das 18. Lebensjahr hinausgehende Behandlung von Kindern durch einen Kinder- und Jugendarzt ausnahmsweise in den Fällen möglich sei, in denen die somatische Entwicklung des Kindes tatsächlich im Wesentlichen noch nicht abgeschlossen sei. Ebenfalls könne von der fachgebietsbezogenen Beschränkung auf die Behandlung von Kindern bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres in folgenden Ausnahmefällen abgesehen werden: Notfälle; Familienangehörige des Kinderarztes; Praxispersonal des Kinderarztes; schwer-, mehrfach Behinderte, die bereits im Kindesalter betreut wurden; Impfleistungen. Die Ausnahmefälle seien auf dem Behandlungsausweis/Datensatz kurz zu begründen. Die Klägerin ist daher der Auffassung, dass es eine allgemein gültige Festlegung zwischen der Beklagten und dem Klinikum A-Stadt für die bei ihm beschäftigten persönlich ermächtigten Kinderärzte über die Behandlung von Patienten, die das 18. Lebensjahr bereits vollendet haben, gebe bzw. gegeben habe. Die persönlich ermächtigten Ärzte und die Verwaltung des Klinikums hätten sich entsprechend der Mitteilungen der Beklagten verhalten und die Beklagte habe die Leistungen der Klägerin und der übrigen Kinderärzte für Patienten älter 18 bis zum zweiten Quartal 2014 anstandslos vergütet. Die Absetzung der Beklagten sei ohne entsprechende Ankündigung oder Hinweise im Vorfeld erstmals mit der Abrechnung des Quartals 2/2014 erfolgt.

Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestandes auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Gründe

Die Klage ist zulässig und begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 18.11.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.04.2015 ist teilweise rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat einen Anspruch auf eine Vergütung der Behandlungsfälle C., D., E., F., G., H., I., J., K., L., M., N. und O. i.H.v. 1050,16 EUR.

Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Klage sind erfüllt.

Die Klage ist auch begründet.

Rechtsgrundlage für die sachlich-rechnerische Richtigstellung ist § 106a Abs. 2 Satz 1 SGB V (in der Fassung vom 20.12.2012).

Bei den von der Klägerin in den streitgegenständlichen 13 Behandlungsfällen erbrachten Leistungen handelt es sich um sog. fachfremde Leistungen, für die grundsätzlich keine Vergütung beansprucht werden kann. Der sachlich-rechnerischen Richtigstellung steht jedoch im vorliegenden Fall schützenswertes Vertrauen der Klägerin entgegen.

Alle Patienten waren in den streitgegenständlichen Behandlungsfällen 18 Jahre alt oder älter (drei Patienten waren 18 Jahre alt, zwei Patienten 19 Jahre, drei Patienten 20 Jahre sowie ein Patient jeweils 21 Jahre, 23 Jahre, 25 Jahre, 26 Jahre und 27 Jahre).

Nach der Rechtsprechung des BSG können Ärzte für fachfremde Leistungen grundsätzlich keine Vergütung beanspruchen. „Die Heilberufs- bzw. Kammergesetze der Länder und die auf der Grundlage von Ermächtigungen in diesen Gesetzen von den Ärztekammern der Länder erlassenen Weiterbildungsordnungen normieren die Verpflichtung derjenigen Ärzte, die - wie der Kläger - eine Gebietsbezeichnung führen, ihre Tätigkeit auf dieses Fachgebiet zu beschränken. ( …) Die Bindung an die Grenzen seines Fachgebietes gilt für den Arzt auch in seiner Tätigkeit als Vertragsarzt. Welche ärztlichen Leistungen zu einem bestimmten Fachgebiet gehören oder aber außerhalb dieses Gebiets liegen und deshalb als fachfremd zu behandeln sind, beurteilt sich in erster Linie nach der jeweiligen Gebietsdefinition in der Weiterbildungsordnung. Ergänzend können die Richtlinien über den Inhalt der Weiterbildung ( …) herangezogen werden ( …)“ (BSG, Urteil vom 22.03.2006, Az. B 6 KA 75/04 R, Rn. 12 m.w.N.).

Ebenso wie Vertragsärzte dürfen auch ermächtigte Krankenhausärzte nicht in ihr Fachgebiet fallende Leistungen grundsätzlich nicht abrechnen (Pawlita in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, Stand 04.05.2017, § 95 Rn. 41 m.w.N.; vgl. auch Teil I Allgemeine Bestimmungen, I 2.3 EBM).

Im Übrigen umfasst die Ermächtigung der Klägerin (Beschluss vom 11.12.2013) gemäß Nr. 2.1 bei Überweisung durch zugelassene Vertragsärzte und in zugelassenen MVZ tätige Ärzte nur Leistungen zur Diagnostik und Therapie bei Kindern und Jugendlichen (mit im Einzelnen näher aufgeführten Erkrankungen). Nach Auskunft der Klägerin sind sämtliche streitgegenständliche Behandlungsfälle von Kinder- und Jugendärzten oder Hausärzten überwiesen worden.

Nach Abschnitt B Nr. 14 der Weiterbildungsordnung der Bayerischen Landesärztekammer vom 24.04.2004 umfasst das Gebiet der Kinder- und Jugendmedizin die Erkennung, Behandlung, Prävention, Rehabilitation und Nachsorge aller körperlichen, neurologischen, psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, Verhaltensauffälligkeiten, Entwicklungsstörungen und Behinderungen des Säuglings, Kleinkindes, Kindes und Jugendlichen von Beginn bis zum Abschluss seiner somatischen Entwicklung einschließlich pränataler Erkrankungen, Neonatologie und der Sozialpädiatrie.

Damit sind Leistungen für Erwachsene nicht Gegenstand der Weiterbildung von Ärzten für Kinder- und Jugendmedizin. Das BSG hat zum Gebiet der Kinder- und Jugendmedizin ausgeführt, dass für die Abgrenzung dieses Fachgebietes nicht die angewandte Methode oder ein Organsystem maßgebend, sondern der behandelte Personenkreis, nämlich Säuglinge, Kleinkinder, Kinder und Jugendliche sei. Dass damit Erwachsene von der Behandlung durch Ärzte für Kinder- und Jugendmedizin grundsätzlich ausgeschlossen werden, werde durch die Ergänzung „von Beginn bis zum Abschluss seiner somatischen Entwicklung einschließlich pränataler Erkrankungen“ betont (BSG, Beschluss vom 28.10.2015, Az. B 6 KA 12/15 B, Rn. 12). Nach der Rechtsprechung des BSG haben Schwerpunktbezeichnungen oder Zusatzbezeichnungen keinen Einfluss auf die Beurteilung der Fachfremdheit einer Leistung; ebenso wenig hat eine Spezialisierung innerhalb eines Fachgebiets generell einen Einfluss auf die Fachgebietsgrenzen und die Fachfremdheit einer Leistung (BSG, ebenda, Rn. 15, 16). Im Übrigen können auch Sicherstellungsgesichtspunkte nicht gegen die Fachfremdheit angeführt werden (vgl. BSG, ebenda, Rn. 17).

Die von der Klägerin angeführte Rechtsprechung des BVerfG, insbesondere der Beschluss vom 01.02.2011, Az. 1 BvR 2383/10, führt zu keiner anderen Bewertung. Bei diesem Verfahren handelte es sich um ein berufsrechtliches Verfahren, das nicht die Begrenzung der vertragsärztlichen Tätigkeit zum Gegenstand hatte. In einem früheren Verfahren hatte das BVerfG es verfassungsrechtlich nicht beanstandet, dass das BSG „zur Abgrenzung abrechnungsfähiger ärztlicher Leistungen auf die für das jeweilige Fachgebiet in der Weiterbildungsordnung genannten Inhalte und Ziele der Weiterbildung und die dort genannten Bereiche, in denen eingehende Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten erworben werden müssen, abstellt.“ Sie konkretisierten die allgemeinen Gebietsdefinitionen und gäben die speziellen Anforderungen an die Weiterbildung vor. Ungeachtet der Frage, wie der Kern eines Fachgebietes aus dem Blickwinkel des Berufsrechts zu bestimmen sei und ob die Berufstätigkeit auf diesen Kernbereich beschränkt werden dürfe, könne jedenfalls zur Sicherung von Qualität und Wirtschaftlichkeit in der gesetzlichen Krankenversicherung eine Beschränkung auf einen engeren Bereich zulässig sein, für den die Weiterbildungsordnung eingehende Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten vorschreibe (BVerfG, Beschluss vom 16.07.2004, Az. 1 BvR 1127/01, Rn. 22).

Im Übrigen liegt auch kein Fall vor, in dem das BSG ausnahmsweise ein Tätigwerden des Vertragsarztes außerhalb seiner Fachgebietsgrenzen billigt. Weder handelt es sich bei den streitgegenständlichen 13 Behandlungsfällen um Notfallbehandlungen, noch um Leistungen, bei denen dem behandelnden Arzt ausnahmsweise im Einzelfall die Überweisung an einen anderen Gebietsarzt nicht zumutbar wäre bzw. um fachfremde Leistungen, die im Verhältnis zu der vorgenommenen Fachbehandlung von gänzlich untergeordneter Bedeutung sind (vgl. BSG, ebenda, Rn. 19 m.w.N.).

Nach alledem handelt es sich bei den von der Klägerin erbrachten streitgegenständlichen Leistungen um sog. fachfremde Leistungen.

Nach Einschätzung der fachkundig besetzten Kammer zeigt der vorliegende Fall jedoch die Nachteile bzw. Risiken einer strikten Orientierung an den gemäß der Weiterbildungsordnung definierten Fachgebietsgrenzen deutlich auf. Die im hiesigen Fall betroffenen Patienten, die unter einer schweren Mehrfachbehinderung leiden, deren Entwicklungsstand dem eines Kleinkindes entspricht und die auf eine stark spezialisierte ambulante (fachärztliche) Versorgung - häufig auch dringend - angewiesen sind, laufen Gefahr, jedenfalls vorübergehend keinen bzw. keinen geeigneten (neurologischen) Behandler zu finden. Die Kammer hat aufgrund des Vortrags der Klägerin keine Zweifel, dass jedenfalls im Raum A-Stadt der Übergang von Kinder-Neurologen auf Erwachsenen-Neurologen nicht reibungslos funktioniert und (zeitweise) Versorgungslücken entstehen (können). Aus diesem Grund scheint die bisherige Verwaltungspraxis der Beklagten, in Ausnahmefällen eine ambulante Behandlung von Patienten über das 18. Lebensjahr hinaus durch Kinderärzte zu ermöglichen, durchaus sinnvoll gewesen zu sein.

Nach Auffassung der Kammer bedarf es - um die Gefahr künftiger Versorgungsdefizite möglichst gering zu halten - politischer Lösungen, etwa durch die Regelung von Übergangszeiten, Übergangssprechstunden etc. (vgl. auch BSG, ebenda, Rn. 21 mit Verweis auf die Vorschläge des Sachverständigenrates „zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen - Koordination und Integration - Gesundheitsversorgung in einer Gesellschaft des längeren Lebens“ (Gutachten 2009, BT-Drucks. 16/13770 S. 219 ff.), der einen rechtzeitig eingeleiteten koordinierten Übergang der Versorgung sowie eine verbesserte Zusammenarbeit von Pädiatern und Erwachsenenmedizinern empfiehlt). Ggf. sind in nicht ausreichend versorgten Gebieten (weitere) im Krankenhaus tätige Erwachsenen-Neurologen zu ermächtigen. Im Übrigen sollten betroffene Patienten bereits frühzeitig vor dem 18. Geburtstag Kontakt mit ihrer Krankenkasse aufnehmen, um ggf. eine individuelle Lösung zu erreichen.

Die - grundsätzlich bestehende - Befugnis der Beklagten zur sachlich-rechnerischen Richtigstellung war jedoch im streitgegenständlichen Quartal eingeschränkt. Die Klägerin kann sich auf Vertrauensschutz berufen:

Die Kammer vertritt die Auffassung, dass auch im Rahmen quartalsgleicher sachlich-rechnerischer Richtigstellungen Vertrauensschutzgesichtspunkte zugunsten des Vertragsarztes in den Fällen wirken, „in denen die Kassenärztliche Vereinigung die Erbringung bestimmter Leistungen in Kenntnis aller Umstände längere Zeit geduldet hatte, diese jedoch später für den betroffenen Vertragsarzt als fachfremd beurteilt oder auf das Fehlen einer Abrechnungsgenehmigung verweist und deshalb insgesamt von einer Vergütung ausschließt ( …). Hierzu bedarf es einer wissentlichen Duldung unberechtigter Leistungserbringung und deren Vergütung über längere Zeit ( …); eine länger andauernde Verwaltungspraxis allein ist nicht ausreichend“ (Engelhard in: Hauck/Noftz, SGB, Stand 12/2015, § 106a SGB V Rn. 33d m.w.N.). Soweit in Frage gestellt wird, ob das BSG diese Fallgruppe des Vertrauensschutzes zukünftig noch aufrecht erhält, soll es darauf ankommen, ob der Kassenärztlichen Vereinigung nach einer früheren Schaffung eines Vertrauenstatbestandes nunmehr ein widersprüchliches Verhalten anzulasten ist (Clemens in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 3. Aufl. 2016, § 106a Rn. 232).

Vorliegend hat die Beklagte die unberechtigte Leistungserbringung der Klägerin und deren Vergütung über einen Zeitraum von neun Quartalen wissentlich geduldet.

Die Klägerin hat seit der erstmaligen Erteilung ihrer Ermächtigung zum 01.01.2012 in jedem Quartal regelmäßig einzelne Patienten über 18 Jahren, die unter einer schweren Mehrfachbehinderung leiden und deren Entwicklungsstand dem eines Kleinkindes entspricht, behandelt und gegenüber der Beklagten abgerechnet. Auf dem Behandlungsschein wurde jeweils der Vermerk „Aufgrund der Erkrankung erfolgt bereits seit einigen Jahren auf Wunsch des Patienten kontinuierlich eine spezielle ambulante sowie ggf. stationäre Betreuung in der I. Klinik für Kinder und Jugendliche“ angebracht. Infolge des Vermerks war für die Beklagte erkennbar, dass es sich um fachfremde Leistungen handeln musste. Die Beklagte vergütete diese Leistungen bis einschließlich Quartal 1/2014.

Dass die Beklagte die Erbringung fachfremder Leistungen durch die Klägerin über neun Quartale lang wissentlich duldete, ergibt sich zudem aus dem email-Wechsel, der im Jahr 2008 zwischen der Beklagten und dem Klinikum der Klägerin stattfand. Die damalige Anfrage des Klinikums bezog sich zwar auf die ausnahmsweise Behandlung von über 18jährigen Patienten durch die ermächtigten Kinderärzte Dr. Q. und Prof. Dr. P. (beides Kinder- und Jugendärzte mit Schwerpunkt Kinder-Kardiologie). In ihrer email vom 23.10.2008 übersandte die Beklagte dem Klinikum daraufhin „als kleine Hilfestellung eine Zusammenstellung von Diagnosen der Poliklinik für Kinder und Jugendliche, die eine ambulante Behandlung von Patienten über das 18. LJ hinaus durch Kinderärzte ermöglicht.“ Es wurde darauf verwiesen, dass die Übersicht keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebe. Eine Behandlung über 18jähriger komme nur dann in Betracht, wenn aufgrund der Schwere der Erkrankung diese geboten sei, weil z.B. keine Therapiemethoden in der Erwachsenenmedizin zur Verfügung stünden oder der physische bzw. psychische Entwicklungsstand des Erwachsenen dem eines Kindes entspreche. Die von der Beklagten übersandte Zusammenstellung der Diagnosen umfasste solche aus der Hämostaseologie, Infektiologie, Kardiologie, der Mukoviszidose-Ambulanz, Nephrologie, Onkologie, Rheumatologie, der Spina bifida-Ambulanz sowie den Stoffwechsel und Ultraschall betreffende Diagnosen/Leistungen. Aus der Neuropädiatrie war die Diagnose „schwer therapierbare cerebrale Anfälle und/oder psychomotorische Retardierung“ aufgeführt.

Die mit email vom 23.10.2008 übersandte - nicht abschließende - Diagnoseliste umfasst Diagnosen aus allen Bereichen der Poliklinik für Kinder und Jugendliche und beschränkte sich nicht auf die Schwerpunktbereiche von Dr. Q. und Prof. Dr. P. Dies sowie der allgemein gehaltene Wortlaut der email sprechen dafür, dass sie sich nicht nur auf die Kinderärzte Dr. Q. und Prof. Dr. P., sondern auf alle ermächtigte Kinderärzte des Klinikums bezog. Der Umstand, dass die Klägerin zum Zeitpunkt der email der Beklagten noch nicht ermächtigt war, ist aus Sicht der Kammer nicht von Bedeutung. Die Auskunft der Beklagten aus dem Jahr 2008 hatte auch noch in der Zeit ab 01.01.2012 ihre „Gültigkeit“. Sie war von Seiten der Beklagten weder gegenüber dem Klinikum noch gegenüber den ermächtigten Kinder- und Jugendärzten des Klinikums korrigiert bzw. widerrufen worden.

Nach Einschätzung der Kammer hat die Beklagte mit der email vom 23.10.2008 sowie der beigefügten umfassenden Diagnoseliste einen Rechtsschein gesetzt, auf den sich die Klägerin berufen kann. Den streitgegenständlichen Behandlungsfällen lagen Diagnosen schwer therapierbarer cerebraler Anfälle und/oder psychomotorischer Retardierung zugrunde. Die unerwartete erstmalige Absetzung von Behandlungsfällen über 18 Jahre alter Patienten im Quartal 2/2014 erweist sich als widersprüchlich gegenüber dem früheren, Rechtsschein schaffenden Verhalten der Beklagten.

Die Klägerin hat auf die Fortsetzung der jahrelangen Abrechnungspraxis der Beklagten im streitgegenständlichen Quartal vertraut und auch vertrauen dürfen.

Dieses Vertrauen steht vorliegend der sachlich-rechnerischen Richtigstellung durch die Beklagte entgegen. Der Klage war daher stattzugeben.

Die Kostenentscheidung basiert auf § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.

Urteilsbesprechung zu {{shorttitle}}
{{count_recursive}} Urteilsbesprechungen zu {{shorttitle}}

moreResultsText


(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

(1) Gehört in einem Rechtszug weder der Kläger noch der Beklagte zu den in § 183 genannten Personen oder handelt es sich um ein Verfahren wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens (§ 202 Satz 2), werden Kosten nach den Vorschriften des Gerichtskosten

(1) Die Wirtschaftlichkeit der erbrachten ärztlichen Leistungen kann auf begründeten Antrag einer einzelnen Krankenkasse, mehrerer Krankenkassen gemeinsam oder der Kassenärztlichen Vereinigung arztbezogen durch die jeweilige Prüfungsstelle nach § 106
{{title}} zitiert {{count_recursive}} §§.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, we

(1) Gehört in einem Rechtszug weder der Kläger noch der Beklagte zu den in § 183 genannten Personen oder handelt es sich um ein Verfahren wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens (§ 202 Satz 2), werden Kosten nach den Vorschriften des Gerichtskosten

(1) Die Wirtschaftlichkeit der erbrachten ärztlichen Leistungen kann auf begründeten Antrag einer einzelnen Krankenkasse, mehrerer Krankenkassen gemeinsam oder der Kassenärztlichen Vereinigung arztbezogen durch die jeweilige Prüfungsstelle nach § 106
1 Referenzen - Urteile
{{Doctitle}} zitiert oder wird zitiert von {{count_recursive}} Urteil(en).

published on 28/10/2015 00:00

Tenor Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 10. Dezember 2014 wird zurückgewiesen.
{{Doctitle}} zitiert {{count_recursive}} Urteil(e) aus unserer Datenbank.

Annotations

(1) Die Wirtschaftlichkeit der erbrachten ärztlichen Leistungen kann auf begründeten Antrag einer einzelnen Krankenkasse, mehrerer Krankenkassen gemeinsam oder der Kassenärztlichen Vereinigung arztbezogen durch die jeweilige Prüfungsstelle nach § 106c geprüft werden. Die Prüfung kann neben dem zur Abrechnung vorgelegten Leistungsvolumen auch Überweisungen sowie sonstige veranlasste ärztliche Leistungen, insbesondere aufwändige medizinisch-technische Leistungen umfassen; honorarwirksame Begrenzungsregelungen haben keinen Einfluss auf die Prüfungen.

(2) Veranlassung für die Prüfung der Wirtschaftlichkeit nach Absatz 1 besteht insbesondere

1.
bei begründetem Verdacht auf fehlende medizinische Notwendigkeit der Leistungen (Fehlindikation),
2.
bei begründetem Verdacht auf fehlende Eignung der Leistungen zur Erreichung des therapeutischen oder diagnostischen Ziels (Ineffektivität),
3.
bei begründetem Verdacht auf mangelnde Übereinstimmung der Leistungen mit den anerkannten Kriterien für ihre fachgerechte Erbringung (Qualitätsmangel), insbesondere in Bezug auf die in den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses enthaltenen Vorgaben,
4.
bei begründetem Verdacht auf Unangemessenheit der durch die Leistungen verursachten Kosten im Hinblick auf das Behandlungsziel oder
5.
bei begründetem Verdacht, dass Leistungen des Zahnersatzes und der Kieferorthopädie unvereinbar mit dem Heil- und Kostenplan sind.

(3) Die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen und der Spitzenverband Bund der Krankenkassen vereinbaren bis zum 30. November 2019 das Nähere zu den Voraussetzungen nach Absatz 2 in Rahmenempfehlungen. Die Rahmenempfehlungen sind bei den Vereinbarungen nach § 106 Absatz 1 Satz 2 zu berücksichtigen.

(4) Die in § 106 Absatz 1 Satz 2 genannten Vertragspartner können über die Prüfung nach Absatz 1 hinaus Prüfungen ärztlicher Leistungen nach Durchschnittswerten oder andere arztbezogene Prüfungsarten vereinbaren. Hat der Landesausschuss der Ärzte und Krankenkassen eine Feststellung nach § 100 Absatz 1 oder Absatz 3 getroffen, dürfen bei Ärzten der betroffenen Arztgruppe keine Prüfungen nach Durchschnittswerten durchgeführt werden. In den Vereinbarungen nach § 106 Absatz 1 Satz 2 sind die Zahl der je Quartal höchstens zu prüfenden Ärzte in einer Kassenärztlichen Vereinigung sowie im Rahmen der Prüfungen nach Absatz 1 und der Prüfungen nach Satz 1 als Kriterien zur Unterscheidung Praxisbesonderheiten festzulegen, die sich aus besonderen Standort- und Strukturmerkmalen des Leistungserbringers oder bei besonderen Behandlungsfällen ergeben. Die Praxisbesonderheiten sind vor Durchführung der Prüfungen als besonderer Versorgungsbedarf durch die Prüfungsstellen anzuerkennen; dies gilt insbesondere auch bei der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit von Besuchsleistungen.

(1) Gehört in einem Rechtszug weder der Kläger noch der Beklagte zu den in § 183 genannten Personen oder handelt es sich um ein Verfahren wegen eines überlangen Gerichtsverfahrens (§ 202 Satz 2), werden Kosten nach den Vorschriften des Gerichtskostengesetzes erhoben; die §§ 184 bis 195 finden keine Anwendung; die §§ 154 bis 162 der Verwaltungsgerichtsordnung sind entsprechend anzuwenden. Wird die Klage zurückgenommen, findet § 161 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung keine Anwendung.

(2) Dem Beigeladenen werden die Kosten außer in den Fällen des § 154 Abs. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung auch auferlegt, soweit er verurteilt wird (§ 75 Abs. 5). Ist eine der in § 183 genannten Personen beigeladen, können dieser Kosten nur unter den Voraussetzungen von § 192 auferlegt werden. Aufwendungen des Beigeladenen werden unter den Voraussetzungen des § 191 vergütet; sie gehören nicht zu den Gerichtskosten.

(3) Die Absätze 1 und 2 gelten auch für Träger der Sozialhilfe einschließlich der Leistungen nach Teil 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch, soweit sie an Erstattungsstreitigkeiten mit anderen Trägern beteiligt sind.

(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.