Finanzgericht Hamburg EuGH-Vorlage, 22. Sept. 2017 - 4 K 129/17
Gericht
Tatbestand
I.
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Die Beteiligten streiten um die Einreihung von Instantnudelgerichten.
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Die Klägerin importiert Instantnudelgerichte. Eine ihr im Jahr 2010 erteilte verbindliche Zolltarifauskunft (vZTA) reihte „XX ... Instant Noodles, Vegetable Flavour, 60g“ als Warenzusammenstellung, nicht getrocknet, in die Position 1902 3090 KN ein. In der vZTA heißt es: „Charakterbestimmend sind die Nudeln. Diese sind vorgegart und frittiert. Ein Trocknen im herkömmlichen Sinn hat nicht stattgefunden. Eine Zubereitung zum Herstellen von Suppen im Sinne der Pos 2104 liegt nicht vor.“ Auf dieser Grundlage überführte die Klägerin über lange Zeit Instantnudelgerichte beanstandungslos in den zollrechtlich freien Verkehr.
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Mit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 767/2014 vom 11.07.2014 wurden Instantnudelgerichte, die mit den im vorliegenden Verfahren eingeführten Waren vergleichbar sind, als getrocknete Teigwaren in die Unterposition 1902 3010 KN eintarifiert. Im Zuge der sich anschließenden Diskussion zwischen der deutschen Zollverwaltung und der Kommission veröffentlichte die Kommission am 04.03.2015 eine neue Erläuterung zur Unterposition 1902 3010 KN, nach der als „getrocknet“ im Sinne dieser Unterposition auch das Rösten und Frittieren zu verstehen sei.
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Entsprechend der früheren Einreihungspraxis meldete die Klägerin auch im Juni 2015 mit verschiedenen vereinfachten Zollanmeldungen Instantnudelgerichte zur Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr an. Nach Abgabe der ergänzenden Zollanmeldung AT/F/40/... vom 10.06.2015 zum Abrechnungszeitraum 01.06.–30.06.2015 setze der Beklagte zunächst mit Bescheid vom 09.07.2015 (Registrierkennzeichen ATF-40-...) die Abgaben für die Einfuhr der Instantnudelgerichte auf der Grundlage der angegebenen Unterposition 1902 3090 KN abschließend fest.
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Nachdem dem Beklagten aufgefallen war, dass die angemeldete Zolltarifposition von der Position abweicht, die durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 767/2014 vorgegeben war, erhob er mit Einfuhrabgabenbescheid vom 05.08.2015 (Registrierkennzeichen ATF-11-…) für die Positionen 51, 91, 113-117, 154-157, 174-177, 237-242, 247,272-276, 372 und 373 der ergänzenden Zollanmeldung auf der Grundlage der Unterposition 1902 3010 KN weiteren Zoll i. H. v. 17.550,71 € nach. Den Zollanmeldungen zu diesen Positionen lagen Instantnudelgerichte in 55, 60, 70, 75 bzw. 85 Gramm-Plastikpackungen zugrunde, die jeweils aus einem Block frittierten Instantnudeln sowie einem oder mehreren Plastikbeuteln, die Gewürze, Pasten, Öle oder getrocknete Zutaten enthalten, bestehen. Die geringelten und vorgegarten (gedämpften) Nudeln haben nach dem Frittieren einen Fettgehalt von ca. 20%. Nach dem auf der Verpackung angegebenen „Zubereitungsbeispiel“ werden dem in eine Schüssel gegebenen Inhalt der Packung etwa 320 ml kochendes Wasser zugegeben. Die mit der genannten ergänzenden Zollanmeldung eingeführten Instantnudelgerichte der Geschmacksrichtungen vegetarisch (Positionen 51, 114, 274), Shrimp (Positionen 91, 113, 156, 174, 273), Rind (Positionen 115, 117), Kim Chi (Position 116), Huhn (Positionen 154, 157, 247, 276, 372), Curry (Positionen 175, 238), Gemüse (Positionen 176, 177, 240), Schwein (Position 237), geschmortes Rind (Position 239), Wasabi (Position 272), Meeresfrüchte (Position 275) und Beef + Lime (Position 373) unterscheiden sich lediglich hinsichtlich der beigefügten Gewürze, Pasten und Öle. Die Instantnudeln sind jeweils identisch. Auch wenn die Nudeln nach der Verpackungsangabe mit heißem Wasser übergossen zu einer Suppe zubereitet werden sollen, können sie auch ohne weitere Zubereitung, gleichsam wie Kartoffelchips, verzehrt werden.
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Gegen den Einfuhrabgabenbescheid vom 05.08.2015 legte die Klägerin mit Schreiben vom 11.08.2015 Einspruch ein (RL ...), den sie wie folgt begründete: Frittierte Instantnudeln seien keine getrockneten Teigwaren. Diese Auffassung habe die deutsche Zollverwaltung bis zum Erlass der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 767/2014 und der Erläuterung zur Unterposition 1902 3010 KN vertreten. Das Frittieren sei kein Trocknungsverfahren, sondern eine Zubereitungsmethode. Da es in der Kombinierten Nomenklatur keine Definition des Begriffs „getrocknet“ gebe, müsse auf den allgemeinen Sprachgebrauch zurückgegriffen werden. Hier seien beispielsweise die „Leitsätze für Teigwaren“ der deutschen Lebensmittel-Kommission heranzuziehen. Danach seien Instantteigwaren zwar als Teigwaren zu bezeichnen; dies gelte jedoch ausdrücklich nicht für frittierte Waren. Verschiedene Mitgliedstaaten hätten auf der Sitzung des Ausschusses für den Zollkodex am 27./28.10.2014 Bedenken gegen den Erlass der Erläuterung zur Position 1902 3010 KN geäußert.
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Mit Einspruchsentscheidung vom 12.07.2017 wies der Beklagte den Einspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Da die Einfuhr vor dem 01.05.2016 stattgefunden habe, sei der Zollkodex anzuwenden. Die Zollschuld sei gemäß Art. 201 Abs. 3 ZK entstanden und auf der Grundlage der Unterposition 1902 3010 KN zu berechnen. Der Beklagte sei an die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 767/2014 sowie die Erläuterungen zur Unterposition 1902 3010 KN gebunden, die diese Einreihung vorsähen. Sie stünden auch mit dem Wortlaut der Unterposition 1902 3010 KN im Einklang. Danach sei einzig entscheidend, ob die Teigware durch die Behandlung eine Trocknung erfahren habe. Welche anderen Beschaffenheitsmerkmale sie durch das Trocknen erhalten habe, spiele keine Rolle.
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Mit der am 25.07.2017 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Die Unterposition 1902 3010 KN könne nicht so ausgelegt werden, dass auch frittierte Nudeln darunter fielen. Sie verweist insoweit auf ihren Vortrag im Verfahren 4 K 161/15 sowie das Vorabentscheidungsersuchen, das der beschließende Senat in jenem Verfahren an den Europäischen Gerichtshof gerichtet hat (Rechtssache C-471/17). Die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 767/2014 stehe nicht im Einklang mit dem so verstandenen Wortlaut der Unterposition 1902 3010 KN und sei daher nichtig. Aus denselben Gründen sei die hier in Rede stehende Erläuterung zu dieser Unterposition unbeachtlich.
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Die Klägerin beantragt,
1. den Einfuhrabgabenbescheid vom 05.08.2015 (Registrierkennzeichen ATF-11-...) in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 12.07.2017 aufzuheben;
2. die Zuziehung des Bevollmächtigten im Vorverfahren für notwendig zu erklären.
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Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Er verweist auf die Einspruchsentscheidung.
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Ergänzend wird auf die Sachakte des Beklagten Bezug genommen.
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Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (Bl. 16 f., 25 der Akte) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II.
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Der Senat setzt das Verfahren in analoger Anwendung des § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) aus und legt dem Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 267 S. 1 Buchst. b) des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) die im Tenor genannten Fragen zur Vorabentscheidung vor, weil die rechtliche Würdigung des Falles unionsrechtlich zweifelhaft ist.
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1. Rechtlicher Rahmen
Den rechtlichen Ausgangspunkt für die Entscheidung bildet die im maßgeblichen Zeitpunkt der Einfuhr (dazu 1.1) gültige Unterposition 1902 30 KN („andere Teigwaren“) mit ihren TARIC-Untergliederungen (dazu 1.2). Von Bedeutung sind weiter die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 767/2014 (dazu 1.3) sowie die Erläuterung zur Unterposition 1902 3010 KN (dazu 1.4). Im Einzelnen:
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1.1 Die Klägerin hat eine Anfechtungsklage (§ 100 Abs. 1 FGO) erhoben. Das vorlegende Gericht würde den angefochtenen Nacherhebungsbescheid aufheben, wenn die Einfuhrabgaben auf der Grundlage der Unterposition 1902 3090 KN festgesetzt werden müssten. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Sach- und Rechtslage ist nach mitgliedstaatlichem Verfahrensrecht unter Berücksichtigung des materiellen Rechts der Zeitpunkt der Einfuhr. Dies ist hier Juni 2015.
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1.2 Damit gilt Anhang I der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif vom 23.07.1987 (ABl. EG L 256/1; im Folgenden: Kombinierte Nomenklatur [KN]) in der Fassung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 1101/2014 vom 16.10.2014 (ABl. EU L 312/1) sowie die hierauf aufbauenden Unterpositionen des Integrierten Tarifs der Europäischen Gemeinschaften (TARIC) gemäß Art. 2 Verordnung (EWG) Nr. 2658/87.
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Die Position 1902 KN lautet:
Teigwaren, auch gekocht oder gefüllt (mit Fleisch oder anderen Stoffen) oder in anderer Weise zubereitet, z. B. Spaghetti, Makkaroni, Nudeln, Lasagne, Gnocchi, Ravioli, Cannelloni; Couscous, auch zubereitet[.]
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Während die Unterpositionen 1902 11 und 1902 19 KN nicht zubereitete Teigwaren und die Unterposition 1902 20 KN gefüllte Teigwaren erfassen, befasst sich die hier relevante Unterposition 1902 30 KN mit „anderen Teigwaren“. Diese Unterposition lautet:
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KN-Code
Warenbezeichnung
vertragsmäßiger Zollsatz (%)
1902 30
– andere Teigwaren:
1902 3010
– – getrocknet
6,4 + 24,6 €/
100 kg/net
1902 3090
– – andere:
6,4 + 9,7 €/
100 kg/net
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Die Unterposition 1902 3010 KN wird im TARIC wie folgt weiter untergliedert:
1902 3010 10 0
durchsichtige Nudeln, in Stücke geschnitten, hergestellt aus Bohnen der Art Vigna radiata (L.) Wilczek, nicht in Aufmachungen für den Einzelverkauf
1902 3010 91
andere
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Die Unterposition 1902 3090 KN wird im TARIC nicht weiter untergliedert.
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1.3 Mit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 767/2014 der Kommission vom 11.07.2014 zur Einreihung bestimmter Waren in die Kombinierte Nomenklatur (ABl. EU L 209/12) wurde eine für den Einzelverkauf aufgemachte Warenzusammenstellung zur Zubereitung eines Nudelgerichts in die Unterposition 1902 3010 KN eingereiht. Dort heißt es:
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Warenbezeichnung
Begründung
Ware, bestehend aus einem Block aus getrockneten vorgekochten Nudeln (etwa 65 g), einem Beutel mit Würzmitteln (etwa 3,4 g), einem Beutel mit Speiseöl (etwa 2 g) und einem Beutel mit getrocknetem Gemüse (etwa 0,8 g).
Einreihung gemäß den Allgemeinen Vorschriften 1, 3 b und 6 für die Auslegung der Kombinierten Nomenklatur sowie nach dem Wortlaut der KN-Codes 1902, 1902 30 und 1902 30 10.
Bei der Ware handelt es sich um eine für den Einzelverkauf aufgemachte Warenzusammenstellung (zusammen verpackt) zur Zubereitung eines Nudelgerichts.
Bei der Ware handelt es sich um eine für den Einzelverkauf aufgemachte Warenzusammenstellung im Sinne der Allgemeinen Vorschrift 3 b. Ihr wesentlicher Charakter wird der Ware durch die Nudeln verliehen, da diese den größten Teil der Ware ausmachen. Eine Einreihung der Ware in die Position 2104 als Suppen oder Brühen oder Zubereitungen zum Herstellen von Suppen oder Brühen ist somit ausgeschlossen.
Gemäß den Angaben auf der Verpackung muss vor dem Verzehr kochendes Wasser hinzugegeben werden.
Die Ware ist als Teigwaren, auch gekocht oder gefüllt oder in anderer - Weise zubereitet, in die Position 1902 einzureihen.
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1.4 Nach Auffassung der deutschen Zollverwaltung war auch nach Erlass der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 767/2014 noch nicht abschließend geklärt, welche Nudeln als „getrocknet“ im Sinne der Unterposition 1902 3010 KN gelten. Zur Klärung dieser Frage hat die Kommission eine Erläuterung zur Unterposition 1902 3010 KN erlassen, die erstmals in der konsolidierten Fassung der Erläuterungen der Europäischen Kommission zur Kombinierten Nomenklatur der Europäischen Union (im Folgenden: Erläuterungen zur KN), die am 04.03.2015 veröffentlicht wurde (ABl. EU C 76/1), enthalten ist. Diese neue Erläuterung lautet:
Der Ausdruck „getrocknet“ im Sinne dieser Unterposition bezieht sich auf Waren in trockenem und brüchigem Zustand mit einem geringen Feuchtigkeitsgehalt (bis etwa 12%), die entweder direkt in der Sonne getrocknet oder einem industriellen Trocknungsverfahren (z. B. Tunneltrocknung, Rösten oder Frittieren) unterzogen wurden.
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2. Erste Vorlagefrage
2.1 Entscheidungserheblichkeit
2.1.1 „Getrocknet“ im Sinne der Unterposition 1902 3010 KN
Die Klägerin begehrt die Aufhebung eines Nacherhebungsbescheids, mit dem für die Einfuhr von Instantnudeln im Juni 2015 Zoll nacherhoben wurde. Die Klägerin hatte diese Nudeln als „andere“ als „getrocknet[e] andere Teigwaren“ unter der Unterposition 1902 3090 KN (vertragsmäßiger Zollsatz: 6,4 % + 9,7 €/100 kg/net) zur Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr angemeldet. Der Beklagte akzeptierte diese Einreihung zunächst, erhob wenig später jedoch den Zoll nach, der sich aus der Differenz zwischen der Unterposition 1902 3090 KN und der Unterposition 1902 3010 KN (6,4 % + 24,6 €/100 kg/net) ergibt. Die Klage hätte Erfolg, wenn die Instantnudeln – innerhalb der einzig in Betracht kommenden Unterposition 1902 30 KN für „andere Teigwaren“ – nicht in die Unterposition 1902 3010 KN, sondern in die Unterposition 1902 3090 KN einzureihen wären. Hierfür kommt es darauf an, ob die hier in Rede stehenden Instantnudeln, die frittiert sind, als getrocknete Teigwaren (Unterposition 1902 3010 KN) oder als andere, d. h. nicht getrocknete, Teigwaren (Unterposition1902 3090 KN) anzusehen sind. Konziser formuliert kommt es darauf an, ob frittiert getrocknet ist.
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Ob dies allein auf der Grundlage der Auslegung der Unterposition 1902 3010 KN der Fall ist, ist Gegenstand des Vorlageersuchens in der Rechtssache C-471/17, für das die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 767/2014 sowie die Erläuterungen zur Unterposition 1902 3010 KN zeitlich noch nicht anwendbar sind (siehe S. 15-17 des Vorlagebeschlusses).
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2.1.2 Durchführungsverordnung (EU) Nr. 767/2014
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Im vorliegenden Verfahren ist die Gültigkeit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 767/2014 streitentscheidend. Als gegenüber der Kombinierten Nomenklatur speziellere Regelungen mit Normcharakter (EuGH, Urt. v. 13.07.2006, C-14/05, EU:C:2006:465, Rn. 29 – Anagram; Urt. v. 15.12.1971, Rs. 77/71, EU:C:1971:129, Rn. 8 – Gervais-Danone) sind Einreihungsverordnungen, durch die die Einreihung der von ihr erfassten Produkte verbindlich geregelt wird, vorrangig heranzuziehen (EuGH, Urt. v. 22.03.2017, C-435/15 und C-666/15, EU:C:2017:232, Rn. 35 m. w. N. – Grofa). Dies gilt auch im vorliegenden Fall, weil die Durchführungsverordnung zeitlich und sachlich anwendbar ist. Zeitlich ist sie anwendbar, weil sie seit dem 05.08.2014 – dem 20. Tag nach ihrer Veröffentlichung am 16.07.2014 (Art. 3 der Verordnung) – gilt und die hier in Rede stehenden Einfuhren im Juni 2015 stattfanden. Sachlich ist sie anwendbar, weil sich die eingeführten Waren und die durch die Verordnung erfassten Waren hinreichend ähnlich sind (zu diesem Maßstab: EuGH, Urt. v. 22.03.2017, C-435/15 und C-666/15, EU:C:2017:232, Rn. 38 m. w. N. – Grofa). Für die Beantwortung der Frage, ob Waren einander hinreichend ähnlich sind, ist auch die Begründung der Einreihungsverordnung zu berücksichtigen (a. a. O.). Die eingeführten Instantnudelgerichte wiegen zwischen 55 und 85 g. Sie machen daher, wie bei der Ware der Einreihungsverordnung, die 65 g Nudeln enthält, den weitaus größten Warenanteil aus. Soweit die Warenbezeichnung der Einreihungsverordnung von getrockneten Nudeln spricht, handelt es sich hierbei bereits um eine rechtliche Wertung. Die Beteiligten des Verfahrens sind sich einig, dass diese Nudeln – genau wie die hier in Rede stehenden Nudeln – frittiert wurden. Bei Anwendung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 767/2014 wären die Instantnudelgerichte in die Unterposition 1902 3010 KN einzureihen, weil die Verordnung derartige Waren dieser Unterposition zuweist.
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2.2 Rechtliche Erwägungen des Senats
Der Senat hat jedoch Zweifel, ob die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 767/2014 wirksam ist.
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Zwar hat nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die Kommission ein weites Ermessen bei der näheren Bestimmung des Inhalts der Tarifpositionen, die für die Einreihung einer bestimmten Ware in Frage kommen. Dennoch hat sie aufgrund ihrer Befugnis zum Erlass von Maßnahmen gemäß Art. 9 der Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 nicht das Recht, den Inhalt oder die Tragweite der Tarifpositionen zu ändern (EuGH, Urt. v. 22.03.2017, C-435/15 und C-666/15, EU:C:2017:232, Rn. 49 – Grofa; Urt. v. 04.03.2004, C-130/02, EU:C:2004:122, Rn. 26 – Krings; Urt. v. 13.12.1994, C-401/93, EU:C:1994:411, Rn. 19 m. w. N. – Goldstar).
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Der Senat hat Bedenken, ob durch die Einreihung von frittierten Instantnudeln in der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 767/2014 die Reichweite des Begriffs „getrocknet“ im Sinne der Unterposition 1902 3010 KN verändert wird. Wie der Senat im Vorlageersuchen in der Rechtssache C-471/17 (S. 17 ff.) dargelegt hat, ist zweifelhaft, ob frittierte Nudeln getrocknete Teigwaren im Sinne der Unterposition 1902 3010 KN sind. Sollte der Europäische Gerichtshof die dortige Vorlagefrage verneinen, wäre geklärt, dass frittierte Teigwaren nicht „getrocknet“ im Sinne der Unterposition 1902 3010 KN sind. Da die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 767/2014 frittierte Teigwaren als getrocknete Teigwaren behandelt, würde in diesem Fall die Durchführungsverordnung die Reichweite der genannten Unterposition verändern. Sollte der Europäische Gerichtshof die Vorlagefrage dagegen bejahen, wäre gleichzeitig geklärt, dass keine Zweifel an der Wirksamkeit der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 767/2014 bestehen.
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3. Zweite Vorlagefrage
3.1 Entscheidungserheblichkeit
Falls die erste Vorlagefrage verneint werden sollte, die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 767/2014 also ungültig wäre, würde die Einreihung allein anhand des Wortlautes der Unterposition 1902 3010 KN erfolgen. Bei der Auslegung der Tragweite der einzelnen Tarifpositionen sind die Erläuterungen zur Kombinierten Nomenklatur ein wichtiges, wenn auch nicht rechtsverbindliches Hilfsmittel (EuGH, Urt. v. 15.12.2016, C-700/15, EU:C:2016:95, Rn. 41 – LEK; Urt. v. 17.02.2016, C-124/15, EU:C:2016:87, Rn. 31 – Salutas Pharma; Urt. v. 20.11.2014, C-666/13, EU:C:2014:2388, Rn. 25 – Rohm Semiconductor; Urt. v. 15.05.2014, C-297/13, EU:C:2014:331, Rn. 31 – Data I/O; Urt. v. 17.07.2014, C-480/13, EU:C:2014:2097, Rn. 30 m. w. N. – Sysmex Europe). Die Anwendung der Erläuterung der Europäischen Kommission zur Unterposition 1902 3010 KN (ABl. EU 2015 C 76/1), die vor den hier in Rede stehenden Einfuhren veröffentlicht wurde und daher zeitlich anwendbar ist, würde im vorliegenden Fall dazu führen, dass frittierte Teigwaren als getrocknete Teigwaren im Sinne der Unterposition 1902 3010 KN betrachtet werden müssen, weil die Erläuterung insbesondere das Frittieren als Beispiel für ein industrielles Trocknungsverfahren nennt.
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3.2 Rechtliche Erwägungen des Senats
3.2.1 Der Europäische Gerichtshof ist für die Auslegung der Erläuterungen zuständig, auch wenn diese nicht rechtsverbindlich sind. Er darf nämlich über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Union ohne jede Ausnahme im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens entscheiden (EuGH, Urt. v. 13.12.1989, Rs. 322/88, EU:C:1989:646, Slg. 1989, 4407, Rn. 8 – Grimaldi). Hierzu gehört auch die Auslegung der Erläuterungen (EuGH, Urt. v. 05.06.2008, C-312/07, EU:C:2008:324, Rn. 33-37 – JVC France).
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3.2.2 Der beschließende Senat geht davon aus, dass – falls über die zweite Vorlagefrage entschieden werden muss – diese nur bejaht werden kann. Der Inhalt der Erläuterungen zur Kombinierten Nomenklatur muss mit den Bestimmungen der Kombinierten Nomenklatur in Einklang stehen und darf dessen Bedeutung nicht verändern. Die Erläuterungen sind nicht zu berücksichtigen, wenn sich herausstellt, dass sie dem Wortlaut der Positionen und der Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln zuwiderlaufen (EuGH, Urt. v. 05.03.2015, C-178/14, EU:C:2015:152, Rn. 22 – Vario Tek). Die erste Vorlagefrage würde nur verneint werden, wenn frittierte Teigwaren keine getrockneten Teigwaren im Sinne der Unterposition 1902 3010 KN wären. Da sich aus der hier in Rede stehenden Erläuterung zur KN das Gegenteil ergibt, würde sie in diesem Fall die Tragweite der Unterposition 1902 3010 KN verändern. Sie wäre daher bei der Auslegung dieser Unterposition nicht zu berücksichtigen. Dabei ist es unerheblich, dass die Erläuterung neben dem Frittieren auch das Rösten als Beispiel für ein industrielles Trocknungsverfahren nennt. Hinsichtlich des Röstens – einer Garmethode wie dem Frittieren – gelten nämlich dieselben Bedenken wie beim Frittieren.
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4. Angesichts dieser Zweifel an der Gültigkeit sowie der Auslegung des einschlägigen Unionsrechts hat der Senat beschlossen, dem Europäischen Gerichtshof die im Tenor genannten Fragen im Wege des Vorabentscheidungsersuchens vorzulegen.
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Annotations
Das Gericht kann, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei.
(1) Soweit ein angefochtener Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und die etwaige Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf auf; die Finanzbehörde ist an die rechtliche Beurteilung gebunden, die der Aufhebung zugrunde liegt, an die tatsächliche so weit, als nicht neu bekannt werdende Tatsachen und Beweismittel eine andere Beurteilung rechtfertigen. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, dass und wie die Finanzbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, dass die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekannt zu geben.
(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Satz 1 gilt nicht, soweit der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht nicht nachgekommen ist und deshalb die Besteuerungsgrundlagen geschätzt worden sind. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlass des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, dass Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluss kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.