Finanzgericht Hamburg Urteil, 22. Feb. 2018 - 4 K 118/15

bei uns veröffentlicht am22.02.2018

Tatbestand

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Die Beteiligten streiten um die Einreihung von Sojaproteinkonzentrat.

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Am 20.05.2014 meldete die Klägerin ... t "Bras. Sojaproteinkonzentrat SPC-Rückstände bei der Gewinnung pflanzlicher Öle aus Sojabohnen" (im Folgenden: Sojaproteinkonzentrat) zur Überführung in den zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr unter Angabe der zollfreien Unterposition 2304 0000 KN (Ölkuchen und andere feste Rückstände aus der Gewinnung von Sojaöl) an. Der Beklage setzte am selben Tag mit dem nicht abschließenden Steuerbescheid XX-1 anmeldungsgemäß lediglich Einfuhrumsatzsteuer fest und entnahm eine Warenprobe.

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Nach Untersuchung der Probe kam das Bildungs- und Wissenschaftszentrum der Bundesfinanzverwaltung Berlin (im Folgenden: BWZ) zu dem Ergebnis, dass das Sojaproteinkonzentrat in die Unterposition 2309 9096 KN einzureihen sei. Unter Befund heißt es: "Zubereitungen von der zur Fütterung verwendeten Art, andere, einschließlich Vormischungen, keine Glukose, Glukosesirup, Maltodextrin oder Maltodextrinsirup der Unterposition 1702 30 50, 1702 30 90, 1702 40 90, 1702 90 50 und 2106 90 55 oder Stärke oder Milcherzeugnisse enthalten, andere". Weiter führte das Gutachten aus, dass mikroskopisch Sojabohnen erkennbar seien. Der Proteingehalt betrage ca. 61 Gewichtshundertteile (GHT). Nach dem enzymatischen Analyseverfahren betrage der Stärkegehalt weniger als 0,5 GHT.

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Auf der Grundlage dieses Gutachtens erhob der Beklagte gemäß Art. 78 Abs. 3 und Art. 220 ZK unter Anwendung der Unterposition 2309 9096 KN (Zollsatz: 9,6 %) mit Einfuhrabgabenbescheid vom 11.12.2014 (Registrierkennzeichen XX-2) Zoll in Höhe von ... € nach. Den hiergegen mit Schreiben vom 15.12.2014 eingelegten Einspruch begründete die Klägerin mit Schreiben vom 29.01.2015: Die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 444/2013, auf die sich das BWZ und der Nacherhebungsbescheid stützten, trage die Nacherhebung nicht, da die mit der Verordnung eingereihte Ware der Unterposition 2309 9031 KN und nicht der Unterposition 2309 9096 KN zugeordnet worden sei. Im Übrigen gehöre das Sojaproteinkonzentrat nicht in die Position 2309 KN, sondern in die Position 2304 KN.

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Mit Einspruchsentscheidung vom 14.07.2015 (RL ...) wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Das Sojaproteinkonzentrat entspreche der mit der Einreihungsverordnung (EU) Nr. 444/2013 eingereihten Ware. Eine Einreihung in die Position 2304 KN scheide aus, weil das Sojaproteinkonzentrat nicht direkt aus der Extraktion von Sojabohnen resultiere. Aufgrund des festgestellten Stärkegehalts von weniger als 0,5 GHT habe das BWZ das Sojaproteinkonzentrat innerhalb der Position 2309 KN in die Unterposition 2309 9096 KN eingereiht.

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Mit der am 13.08.2015 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Ihr ursprüngliches Begehren, das Sojaproteinkonzentrat in die Position 2304 KN einzureihen, hält sie nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 03.03.2016 in der Rs. C-144/15 nicht mehr aufrecht. Das Sojaproteinkonzentrat sei vielmehr in die Position 2309 KN einzureihen. Innerhalb der Unterpositionen 2309 9031 ff. KN sei es nicht der festgesetzten Unterposition 2309 9096 KN, sondern der Unterposition 2309 9031 KN zuzuordnen, weil es auf der Grundlage des polarimetrischen Verfahrens einen Stärkegehalt zwischen 0,5 und 10 GHT habe. Die Erläuterungen zur Position 2309 KN sähen als Grundsatz die Anwendung dieser Methode vor. Nur bei den in den Erläuterungen zur Position 2309 KN (EZT-Nr. 02.2) aufgeführten Futtermittel, zu denen Soja nicht gehöre, werde der Stärkegehalt enzymatisch bestimmt. Dies sei nach dem klaren Wortlaut eine abschließende Aufzählung. Die Erläuterungen zur Position 2309 KN gingen eindeutig von einem Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen den polarimetrischen und den enzymatischen Verfahren aus.

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Wenn der Beklagte sich darauf berufe, dass durch die Verordnung (EWG) Nr. 1822/86 für die Ermittlung des Stärkegehalts bei Sojaproteinkonzentraten die enzymatischen Methoden zur Anwendung kommen sollte, übersehe er, dass diese Verordnung bereits 1988 durch die Verordnung (EWG) Nr. 4154/87 aufgehoben worden sei. Erst mit Wirkung vom 02.02.2017 seien Sojaerzeugnisse durch die Verordnung (EU) Nr. 2017/68 in Art. 1 Verordnung (EG) Nr. 121/2008 aufgenommen worden. Die Systematik der Richtlinie 72/199/EWG und der Verordnung (EG) Nr. 152/2009, die die polarimetrische Methode regelten, sowie der Verordnung (EG) Nr. 121/2008, die sich mit der enzymatischen Methode befasse, spreche dafür, dass die enzymatische Methode nur ausnahmsweise zur Anwendung komme. Mit der Verordnung (EG) Nr. 121/2008 habe die Kommission "abweichend von Art. 1 der Richtlinie 72/199/EWG" - also ausnahmsweise - die Anwendung der enzymatischen Methode bei der Bestimmung des Stärkegehalts angeordnet, wenn die in Art. 1 der Verordnung genannten Futtermittel in bedeutenden Mengen vorlägen. Dort seien Sojazeugnisse im maßgeblichen Zeitpunkt nicht genannt gewesen.

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Das BWZ-Gutachten vom 11.11.2014 habe den Stärkegehalt nach der enzymatischen Analysemethode bestimmt. Daher sei es nicht für die Einreihung geeignet, weil die polarimetrische Methode regelmäßig zu höheren Stärkegehalten führe. Es sei verwunderlich, dass sich der Beklagte über den Wortlaut der Erläuterungen zur Position 2309 KN hinwegsetze. Bekanntlich seien diese Erläuterungen für die Zollverwaltung verbindlich, sofern sie nicht gegen den Wortlaut der Position der KN verstießen, was hier nicht der Fall sei.

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Nachdem die Klägerin ursprünglich die vollständige Aufhebung des Nacherhebungsbescheids beantragt hat, beantragt sie nunmehr,
den Einfuhrabgabenbescheid vom 15.12.2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 14.07.2015 dahin gehend abzuändern, dass lediglich ... € Zoll erhoben werden.

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Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

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Er beruft sich auf seinen vorgerichtlichen Vortrag und führt ergänzend aus: Zur Bestimmung des Stärkegehalts von Sojazeugnissen für die Zwecke der Einreihung in die Position 2309 KN seien enzymatische Analysemethoden anzuwenden. Das polarimetrische Verfahren sei hierzu nämlich ungeeignet, da es durch die Inhaltsstoffe des Sojas gestört werde. Wegen derartiger Fehlmessungen seien die Analysemethoden zur Stärkebestimmung in Sojaproteinkonzentraten von polarimetrischen Verfahren der Verordnung (EWG) Nr. 1059/69 i. V. m. Verordnung (EWG) Nr. 1061/69 auf enzymatische Verfahren gemäß der Verordnung (EWG) Nr. 1822/86 umgestellt worden.

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Die in den Erläuterungen zur Position 2309 KN genannte Liste (EZT-Rn. 02.2) der Futtermittel, bei denen die enzymatische Analysemethode anzuwenden sei, sei nicht abschließend. Der Gesetzgeber habe das polarimetrische durch das enzymatische Verfahren für die Fälle ersetzt, in denen das polarimetrische Verfahren zur Bestimmung des Stärkegehalts nicht angewendet werden könne. Die Erläuterungen zur Position 2309 KN enthielten lediglich eine Liste typischer bekannter Störungen. Die Norm ISO 6493 bestätige, dass die polarimetrische Methode für die Bestimmung des Stärkegehalts von Sojaprodukten ungeeignet sei. Der Stärkegehalt von Sojaextraktionsschrot müsse genau wie die Schroten anderer Ölsaaten, bei denen das polarimetrische Verfahren gestört werde, durch die enzymatische Methode bestimmt werden.

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Der Wortlaut der Unterpositionen 2309 9031 ff. KN ("Stärke ... enthaltend") müsse so verstanden werden, dass damit der tatsächliche Stärkegehalt und nicht der durch unbrauchbare Methoden ermittelte Stärkegehalt gemeint sei. Die Erläuterungen zur KN stellten kein verbindliches Erkenntnismittel für die Auslegung der Tarifpositionen dar. Insbesondere seien sie nur als beispielhaft anzusehen.

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Auch wenn die Verordnung (EWG) Nr. 1061/69 in Gestalt der Verordnung (EWG) Nr. 1822/86 zum 01.01.1988 aufgehoben worden sei, sei ihr Regelungsinhalt durch keine aktuelle Vorschrift infrage gestellt worden. Würde man der Rechtsauffassung der Klägerin folgen, könnten Sojaproteinkonzentrate nie in die Unterposition 2309 9096 KN eingereiht werden.

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Auf das Protokoll des Erörterungstermins vom 07.02.2018 wird ergänzend Bezug genommen.

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Bei der Entscheidung hat die Sachakte des Beklagten (3 Hefter) vorgelegen.

Entscheidungsgründe

I.

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Im Einverständnis der Beteiligten (...) ergeht die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 FGO).

II.

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Die zulässige Anfechtungsklage in Form der Abänderungsklage ist begründet. Der Einfuhrabgabenbescheid vom 11.12.2014 - der im Klagantrag irrtümlich das Datum der Einspruchserhebung trägt - in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 14.07.2015 ist dahingehend abzuändern, dass Zoll nur in Höhe von ... € festzusetzen ist (§ 100 Abs. 2 S. 1 FGO).

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Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH und des Bundesfinanzhofs ist im Interesse der Rechtssicherheit und der leichten Nachprüfbarkeit das entscheidende Kriterium für die zollrechtliche Tarifierung von Waren allgemein in deren objektiven Merkmalen und Eigenschaften zu suchen, wie sie im Wortlaut der Positionen und Unterpositionen sowie in den Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln der Kombinierten Nomenklatur festgelegt sind (EuGH, Urteil vom 20.11.2014, Rohm Semiconductor, C-666/13, Rn. 24; Urteil vom 17.07.2014, Sysmex, C-480/13, Rn. 29 m. w. N.; BFH, Beschluss vom 28.04.2014, VII R 48/13, juris Rn. 29). Darüber hinaus sind insbesondere die Erläuterungen zur Kombinierten Nomenklatur ein maßgebendes, wenn auch nicht rechtsverbindliches Hilfsmittel für die Auslegung der einzelnen Tarifpositionen (EuGH, Urteil vom 09.06.2016, MIS, C-288/15, Rn. 23; Beschluss vom 19.01.2005, SmithKline Beecham, C-206/03, Rn. 26; Urteil vom 20.11.2014, Rohm Semiconductor, C-666/13, Rn. 25; Urteil vom 17.07.2014, Sysmex, C-480/13, Rn. 30 m. w. N.; BFH, Urteil vom 04.11.2003, VII R 58/02, juris Rn. 9; Urteil vom 30.07.2003, VII R 40/01, juris Rn. 12).

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Da die Einfuhr der Ware am 20.05.2014 erfolgte, sind die Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 über die zolltarifliche und statistische Nomenklatur sowie den Gemeinsamen Zolltarif vom 23.07.1987 (ABl. EG L 256/1; Kombinierte Nomenklatur - KN) in der Fassung der Verordnung (EU) Nr. 1001/2013 (ABl. EU 2011 L 290/1) sowie die sonstigen zu diesem Zeitpunkt geltenden tarifierungsrelevanten Vorschriften, insbesondere die Verordnung (EG) Nr. 152/2009 sowie die Erläuterungen zur Position 2309 KN, anzuwenden.

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Auf dieser Grundlage ist die Ware innerhalb der Position 2309 KN (Zubereitungen von der zur Fütterung verwendeten Art) als andere Zubereitung ohne Milcherzeugnisse "mit einem Gehalt an Stärke von 10 GHT oder weniger" in die Unterposition 2309 9031 KN und nicht - wie es der Beklagte getan hat - als "andere" Zubereitung, die keine Stärke enthält (Unterposition 2309 9096 KN), einzureihen.

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Dieses Einreihungsergebnis ergibt sich bereits aus der entsprechenden Anwendung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 444/2013 (dazu 1.). Nichts anderes gilt bei Anwendung der Kombinierten Nomenklatur unter Berücksichtigung des maßgeblichen polarimetrischen Verfahrens zur Bestimmung des Stärkegehalts des Sojaproteinkonzentrats (dazu 2.). Daraus ergibt sich zugleich, dass die Einreihungsverordnung nicht gegen den Wortlaut der Position 2309 KN verstößt und damit eine Vorlage an den EuGH zur Überprüfung der Gültigkeit dieser Verordnung nicht angezeigt ist. Auf der Grundlage der Unterposition 2309 9031 KN errechnet sich der Betrag, auf den der angefochtene Bescheid abzuändern ist (dazu 3.).

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1. Das hier in Rede stehende Sojaproteinkonzentrat ist im Wege der entsprechenden Anwendung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 444/2013 vom 07.05.2013 zur Einreihung bestimmter Waren in die Kombinierte Nomenklatur (ABl. L 130/19 vom 15.05.2013) in die Unterposition 2309 9031 KN einzureihen.

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1.1 Die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 444/2013 ist zeitlich auf die Einfuhr des hier in Rede stehenden Sojaproteinkonzentrats am 20.05.2014 anwendbar, da sie gemäß Art. 3 der Verordnung am 04.06.2013 in Kraft getreten ist.

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1.2 Nach der Warenbeschreibung liegt der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 444/2013 Sojaproteinkonzentrat, das zu Tierfütterung verwendet wird, mit einem Stärke/Glucose-Gehalt von 7 GHT zugrunde. Die Beteiligten sind sich seit dem Erörterungstermin einig, dass es sich hierbei um das Produkt Imcosoy 62 handelt, dessen Einreihung der Ausgangspunkt für das EuGH-Verfahren C-144/15 war. Es ist nicht bekannt, ob Imcosoy 62 mit dem hier in Rede stehenden Sojaproteinkonzentrat identisch ist, so dass eine unmittelbare Anwendung der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 444/2013 nicht in Betracht kommt (siehe EuGH, Urteil vom 22.03.2017, Grofa, C-435/15 und C-666/15, Rn. 36).

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1.3 Die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 444/2013 ist jedoch auf das hier in Rede stehende Sojaproteinkonzentrat entsprechend anwendbar.

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Es entspricht der gefestigten Rechtsprechung des EuGH, dass angesichts des Normcharakters von Tarifierungsverordnungen diese nicht nur auf identische, sondern auch auf solche Produkte anzuwenden sind, die denjenigen entsprechen, die von der Tarifierungsverordnung erfasst werden (EuGH, Urteil vom 22.03.2017, Grofa, C-435/15 und C-666/15, Rn. 37; Urteil vom 22.09.2016, Kawasaki Motors Europe, C-91/15, Rn. 39; Urteil vom 13.07.2006, Anagram International, C-14/05, Rn. 32; Urteil vom 04.03.2004, Krings, C-130/02, Rn. 35). Die Voraussetzung für eine entsprechende Anwendung einer Einreihungsverordnung ist, dass sich die einzureihende und die in der Einreihungsverordnung bezeichnete Ware einander hinreichend ähnlich sind (EuGH, Urteil vom 22.03.2017, Grofa, C-435/15 und C-666/15, Rn. 38; Urteil vom 19.02.2009, Kamino International Logistics, C-376/07, Rn. 67). Insoweit ist auch die Begründung dieser Verordnung zu berücksichtigen (EuGH, Urteil vom 22.03.2017, Grofa, C-435/15 und C-666/15, Rn. 38; Urteil vom 13.07.2006, Anagram International, C-14/05, Rn. 34; Urteil vom 04.03.2015, Oliver Medical, C-547/13, Rn. 58).

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Das hier in Rede stehende Sojaproteinkonzentrat und Imcosoy 62 sind sich hinreichend ähnlich. Der Beklagte hat bereits in der Einspruchsentscheidung festgestellt, dass das in Rede stehende Sojaproteinkonzentrat der in der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 444/2013 beschriebenen Ware entspreche, wobei er den Stärkegehalt unberücksichtigt ließ. In dieser Hinsicht steht mittlerweile ebenfalls die Vergleichbarkeit der beiden Waren fest. Seit dem Erörterungstermin sind sich die Beteiligten nämlich einig, dass der in der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 444/2013 angegebene Gehalt an "Stärke/Glucose" von 7 GHT nach der polarimetrischen Methode ermittelt wurde. Da - wie der Beklagte im Erörterungstermin mitgeteilt hat - das hier in Rede stehende Sojaproteinkonzentrat einen nach der polarimetrischen Methode ermittelten Stärkegehalt von 6 GHT hat, sind die in der Einreihungsverordnung beschriebene Ware und das hier in Rede stehende Sojaproteinkonzentrat im Hinblick auf das tarifierungsrechtlich entscheidende Kriterium des Stärkegehalts hinreichend ähnlich, weil Waren mit einem Stärkegehalt zwischen 0,5 GHT (siehe unten 2.) und 10 GHT in die Unterposition 2309 9031 KN einzureihen sind.

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2. Auch unabhängig von der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 444/2013 ist das Sojaproteinkonzentrat in die Unterposition 2309 9031 KN einzureihen. Diese Unterposition erfasst andere als die in den Unterpositionen 2309 9010/20 KN genannten "Zubereitungen von der zur Fütterung verwendeten Art". Während die Unterposition 2309 9031 KN solche Zubereitungen "mit einem Gehalt an Stärke von 10 GHT oder weniger" erfasst, sind in die Auffang-Unterposition 2309 9096 KN "andere" Zubereitungen einzureihen, also insbesondere solche, die keine Stärke enthalten. Nach der 2012 eingefügten (ABl. EU 2012 C 156/12) und daher auf den vorliegenden Fall anwendbaren Erläuterung zur Position 2309 KN gelten Erzeugnisse mit einem Stärkegehalt von weniger als 0,5 GHT nicht als stärkehaltige Erzeugnisse. Wie dargelegt, hat das hier in Rede stehende Sojaproteinkonzentrat einen nach dem polarimetrischen Verfahren ermittelten Stärkegehalt von 6 GHT, während es unter Anwendung der enzymatischen Methode einen Stärkegehalt von unter 0,5 GHT aufweist. Bei der Einreihung des Sojaproteinkonzentrats ist der nach dem polarimetrischen Verfahren ermittelte Wert zugrunde zu legen. Die im maßgeblichen Zeitpunkt anwendbaren Vorschriften verlangen nämlich - ungeachtet der naturwissenschaftlichen Unzulänglichkeit dieser Methode - für die Bestimmung des Stärkegehalts von Sojaproteinkonzentrat die Anwendung des polarimetrischen Verfahrens. Im Einzelnen:
Der Wortlaut der Unterpositionen der Position 2309 KN gibt keine Auskunft über die wissenschaftliche Methode, mit der der Stärkegehalt einer Ware bestimmt wird. Dort ist lediglich davon die Rede, dass Waren einen bestimmten Gehalt an Stärke aufweisen müssen. Das Argument des Beklagten, dass nur der "wirkliche" Stärkegehalt gemeint sein könne, verfängt nicht. Angesichts der verschiedenen Verfahren, die über die Jahrzehnte zur Bestimmung des Stärkegehalts von Waren eingesetzt wurden (abgewandeltes polarimetrisches Ewers-Verfahren, Verzuckerungsmethode, Säurehydrolyse, enzymatisches Verfahren, Pankreatin-Methode), kann schon nicht davon ausgegangen werden, dass ohne weitere Normierung bestimmten Methoden der Vorzug zu gewähren ist. Darüber hinaus ist Art. 242 Abs. 2 Unterabs. 2 ZKDVO zu beachten. Danach werden Muster und Proben nach den in den geltenden Bestimmungen vorgesehenen einschlägigen Methoden entnommen. Sinn und Zweck der Vorschrift ist es, Wettbewerbsverzerrungen in der Union zu vermeiden, zu denen es ansonsten bei der Anwendung unterschiedlicher Untersuchungsmethoden kommen könnte (BFH, Urteil vom 09.10.2001, VII R 47/00, juris Rn. 36; Urteil vom 23.06.2009, VII R 41/07, juris Rn. 14). Dieser Grundsatz bezieht sich nicht nur auf die Probenentnahme selbst, sondern gilt auch für die Untersuchung der Ware (a. a. O.). Ihm lässt sich entnehmen, dass eine bestimmte Untersuchungsmethode nicht angewandt werden darf, wenn nicht diese, sondern eine andere Methode unionsrechtlich vorgeschrieben ist (BFH, Urteil vom 23.06.2009, VII R 41/07, juris Rn. 14). Vor diesem Hintergrund ist es rechtlich unbeachtlich, dass - wie der Beklagte meint - der Regelungsinhalt der Verordnung (EWG) Nr. 1061/69 (ABl. 1969 L 141/24) in Gestalt der Verordnung (EWG) Nr. 1822/86 (ABl. 1986 L 158/1), die bis zu ihrer Aufhebung zum 01.01.1988 das enzymatische Verfahren anordnete, "durch keine aktuelle Vorschrift infrage gestellt worden" sei. Streitentscheidend ist allein das im Zeitpunkt der Einfuhr anwendbare Recht. Für den vorliegenden Fall ordnet die Verordnung (EG) Nr. 152/2009 an, dass der Stärkegehalt des Sojaproteinkonzentrats mittels der polarimetrischen Methode zu bestimmen ist (dazu 2.1). Weder die Verordnung (EG) Nr. 121/2008 (dazu 2.2) noch die Erläuterungen zur Position 2309 KN (dazu 2.3), die die Anwendung des enzymatischen Verfahrens anordnen, sind hier anzuwenden.

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2.1 Für den vorliegenden Fall schreibt Art. 3 i. V. m. Anhang III Verordnung (EG) Nr. 152/2009 vom 27.01.2009 zur Festlegung der Probennahmeverfahren und Analysemethoden für die amtliche Untersuchung von Futtermitteln (ABl. 2009 L 54/1) in der Fassung der Verordnung (EU) Nr. 709/2014 vom 20.06.2014 (ABl. 2014 L 188/1) die Anwendung der polarimetrischen Methode zur Bestimmung des Stärkegehalts vor. Nach Art. 3 der Verordnung erfolgt die Analyse für die amtliche Untersuchung von Futtermitteln im Hinblick auf die Zusammensetzung von Futtermittel-Ausgangserzeugnissen und Mischfuttermitteln nach der im Anhang III aufgeführten Analysemethode. Anhang III Buchst. L ordnet für die Bestimmung des Stärkegehalts die Anwendung des dort im Einzelnen beschriebenen polarimetrischen Verfahrens an. Das Sojaproteinkonzentrat ist ein Futtermittel, das auf seinen Stärkegehalt hin untersucht werden muss.

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Diese Verordnung ist auch auf Tarifierungsfragen anwendbar. Zwar ist sie gestützt auf die Verordnung (EG) Nr. 882/2004, die sich nicht mit dem Zollrecht, sondern mit der Überprüfung der Einhaltung des Lebensmittel- und Futtermittelrechts sowie der Bestimmungen über Tiergesundheit und Tierschutz befasst. Aus Art. 1 Verordnung (EG) Nr. 121/2008, die ausdrücklich die Warentarifierung regelt (dazu unten 2.2.1), ergibt sich jedoch, dass die Verordnung (EG) Nr. 152/2009 auch für die Bestimmung des Stärkegehalts zum Zwecke der Einreihung von Waren der Position 2309 KN gilt. Nach Art. 1 Verordnung (EG) Nr. 121/2009 wird nämlich ausdrücklich abweichend von Art. 1 Richtlinie 72/199/EWG - der Vorgängervorschrift der Verordnung (EG) Nr. 121/2009 - der Stärkegehalt von Futtermitteln im Sinne der Position 2309 KN nach der enzymatischen Analysemethode bestimmt, wenn die im Einzelnen aufgelisteten Futtermittel in bedeutenden Mengen vorliegen. Hieraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass für die Futtermittel, die keine derartigen Stoffe enthalten, die Richtlinie 72/199/EWG bzw. die Nachfolgevorschriften in der Verordnung (EG) Nr. 152/2009 (siehe die Entsprechungstabelle gemäß Art. 6 Abs. 2 i. V. m. Anhang IX Nr. 5 Verordnung (EG) Nr. 152/2009) anzuwenden sind.

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2.2 Die Verordnung (EG) Nr. 121/2008 zur Festlegung der Analysemethode zur Bestimmung des Stärkegehalts in Zubereitungen von der zur Fütterung verwendeten Art (KN-Code 2309) (ABl. 2008 L 37/3) enthält keine auf den vorliegenden Fall anwendbare abweichende Bestimmung der Analysemethode.

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2.2.1 Die Verordnung (EG) Nr. 121/2008 ist auf Tarifierungsfragen anwendbar. Dies folgt schon aus ihrem Titel, der ausdrücklich auf die Position 2309 KN Bezug nimmt. Ihr tarifierungsrechtlicher Kontext ergibt sich weiterhin daraus, dass sie auf Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 gestützt ist. Diese Vorschrift erlaubt es der Kommission, Maßnahmen hinsichtlich der Einreihung von Waren in die Kombinierte Nomenklatur zu treffen. Der Bezug zum Tarifrecht wird bestätigt durch den zweiten Erwägungsgrund der Durchführungsverordnung (EU) 2017/68 (ABl. 2017 L 9/4), der die Verordnung (EG) Nr. 121/2008 als Verordnung charakterisiert, die Vorschriften "[f]ür die Zwecke [der] Einreihung" enthält.

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2.2.2 In Art. 1 Verordnung (EG) Nr. 121/2008 wird festgelegt, dass abweichend von Art. 1 Richtlinie 72/199/EWG bzw. Art. 3 Verordnung (EG) Nr. 152/2009 (Art. 6 Abs. 2 i. V. m. Anhang IX Nr. 5 Verordnung [EG] Nr. 152/2009) der Stärkegehalt von Futtermittelzubereitungen nach der enzymatischen Analysemethode bestimmt wird, wenn die in den Buchst. a) bis j) genannten Futtermittel in bedeutenden Mengen vorliegen. Zu den dort aufgeführten Stoffen zählten in der hier maßgeblichen ursprünglichen Fassung der Verordnung (EG) Nr. 121/2008 nicht Sojaerzeugnisse, so dass das hier in Rede stehende Sojaproteinkonzentrat nicht von Art. 1 Verordnung (EG) Nr. 121/2008 erfasst ist.

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Die in Art. 1 Verordnung (EG) Nr. 121/2008 vorgenommene Aufzählung von Stoffen, deren Vorhandensein die Anwendung der enzymatischen Methode nötig macht, ist abschließend. Dies ergibt sich aus dem Wortlaut der deutschen ("Abweichend von ... wird der Stärkegehalt ... nach der ... enzymatischen Analysemethode bestimmt, wenn die folgenden Futtermittel ... vorliegen:"), englischen ("By derogation from ..., the starch content ... shall be determined by the enzymatic analytical method ... in cases where the following feed materials are present ...:") und französischen (Par dérogation à ..., la teneur en poids d'amidon ... dans l'alimentation des animaux ... est déterminée par la méthode d'analyse enzymatique ... lorsque les matières premières des aliments pour animaux suivantes sont présentes ...:) Sprachfassungen. Durch die Bestimmung "abweichend von" / "By derogation from" / "Par dérogation à" wird deutlich gemacht, dass es sich um die Ausnahme von einem Grundsatz handelt. Damit spricht schon die Auslegungsregel, dass Ausnahmen eng auszulegen sind (EuGH, Urteil vom 23.10.2014, flyLAL-Lithuanian Airlines, C-302/13, Rn. 27; Schlussanträge GA Bobek vom 27.10.2016, Pula Parking, C-551/15, Rn. 44), für eine abschließende Aufzählung. Wortlaut und Systematik der Vorschrift lassen keinen anderen Schluss zu. Ohne einen Zusatz, aus dem sich ergibt, dass die Aufzählung nur beispielhaft sein soll, muss man die Verwendung der Konjunktion "wenn", "if" bzw. "lorsque" nämlich so verstehen, dass nur für den Fall, dass die genannte Bedingung eintritt, die enzymatische Methode zur Anwendung kommen soll. Hierfür spricht außerdem die Aufzählung von insgesamt zehn Fallgruppen, die nicht so ausdifferenziert hätte ausfallen müssen, wenn eine beispielhafte Aufzählung gewünscht gewesen wäre. Derartige exemplarische Nennungen finden sich dagegen in den Buchst. a) und i) ("z. B."). Im Umkehrschluss muss man hieraus folgern, dass außerhalb der genannten Fallgruppen die Anwendung der enzymatischen Methode nicht vorgesehen ist.

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2.2.3 Eine Erweiterung des Anwendungsbereichs der Verordnung (EG) Nr. 121/2008 erfolgte erst durch Art. 1 Durchführungsverordnung (EU) 2017/68 vom 09.01.2017 (ABl. 2017 L 9/4). Hierin wurden "Sojaerzeugnisse" als Art. 1 Buchst. k) in die Verordnung (EG) Nr. 121/2008 aufgenommen. Nach Art. 2 der Durchführungsverordnung (EU) 2017/68 trat diese Verordnung am 20. Tag nach ihrer Veröffentlichung, mithin am 02.02.2017, in Kraft. Im Einfuhrzeitpunkt war sie damit noch nicht anwendbar. Für eine Rückwirkung gibt es keine Anhaltspunkte.

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2.2.4 Art. 1 Verordnung (EG) Nr. 121/2008 kann für den Zeitraum bis zum 01.02.2017 nicht analog auf Sojaerzeugnisse angewendet werden.

38

2.2.4.1 Dies scheitert schon daran, dass es sich im vorliegenden Fall um eine Analogie zulasten einer Abgabenpflichtigen handeln würde. Der enzymatisch ermittelte Stärkegehalt des Sojaproteinkonzentrats führte nämlich zu seiner Einreihung in die Unterposition 2309 9096 KN. Auf die Einfuhr der hier in Rede stehenden Ware entstünde Zoll in Höhe von ... €, der in dieser Höhe mit dem angefochtenen Bescheid festgesetzt wurde. Bei dem Stärkegehalt, der nach der polarimetrischen Methode ermittelt wird, läge die Abgabenbelastung dagegen nur bei ...,- € (siehe unten 3.). Eine solche analoge Anwendung einer Abgabennorm zulasten einer Abgabenpflichtigen hält der Senat für generell unzulässig (FG Hamburg, Urteil vom 15.07.2015, 4 K 43/15 juris Rn. 40 m. w. N.). Die EU hatte seit Erlass der Verordnung (EG) Nr. 121/2008 hinlänglich Zeit, Art. 1 der Verordnung um Sojaerzeugnisse zu erweitern. Art. 9 Abs. 1 Buchst. e) Verordnung (EWG) Nr. 2658/87 bietet ausdrücklich die Möglichkeit, die Kombinierte Nomenklatur an die Entwicklung der Technik anzupassen. Diese Ergänzung erfolgte bekanntlich erst mit Wirkung vom 02.02.2017. Unter dem Aspekt der Rechtssicherheit ist es nicht zu vertreten, die Vorschrift im Wege der Analogie so zu verstehen, als seien Sojaerzeugnisse von Anfang an erfasst gewesen.

39

2.2.4.2 Selbst wenn man eine analoge Anwendung im vorliegenden Fall nicht kategorisch ausschließen würde, lägen ihre Voraussetzungen nicht vor. Nach der Rechtsprechung des BFH (Urteil vom 21.02.2013, V R 27/11, juris, Rn. 29; Urteil vom 11.02.2010, V R 38/08, juris, Rn. 21) liegt eine Regelungslücke vor, wenn "eine Regelung gemessen an ihrem Zweck unvollständig, d. h. ergänzungsbedürftig ist und wenn ihre Ergänzung nicht einer vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widerspricht. Dass eine gesetzliche Regelung nur rechtspolitisch als verbesserungsbedürftig anzusehen ist ("rechtspolitische Fehler"), reicht nicht aus. Ob eine Regelungslücke oder lediglich ein sog. rechtspolitischer Fehler vorliegt, ist unter Heranziehung des Gleichheitsgrundsatzes zu ermitteln, wobei auf die Wertungen und die Entstehungsgeschichte des Gesetzes zurückzugreifen ist. Die Unvollständigkeit muss sich bereits aus der dem Gesetz immanenten Zwecksetzung ergeben und nicht nur aus einer selbständigen kritischen Würdigung des Gesetzes" (s. a. FG Hamburg, Urteil vom 15.07.2015, 4 K 43/15 juris Rn. 41).

40

Nach diesen Maßstäben enthält Art. 1 Buchst. a) bis j) Verordnung (EG) Nr. 121/2008 keine Regelungslücke. Betrachtet man den Wortlaut und die Struktur der Vorschrift, insbesondere den Umfang der aufgezählten Stoffe, muss man zu der Erkenntnis gelangen, dass es sich um eine abschließende Aufzählung handelt (oben 2.2.2).

41

Aber auch gemessen an seinen beiden Zwecken ist die Vorschrift nicht unvollständig. Im 3. Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 121/2008 heißt es (Hervorhebung hinzugefügt):

42

Angesichts der Ergebnisse von Studien [...] ist vorzusehen, dass in den Fällen, in denen das in der Richtlinie 72/199/EWG festgelegte polarimetrische Verfahren zur Bestimmung des Stärkegehalts in den genannten Zubereitungen nicht angewandt werden kann, eine enzymatische Analysemethode anzuwenden ist.

43

Damit wird allgemein Bezug genommen auf die Fälle, in denen das polarimetrische Verfahren zu Messfehlern führt. Hieraus könnte man schließen, dass die Verordnung alle Stoffe regeln möchte, bei denen dies der Fall ist. Wenn dann dieses gesetzgeberische Ziel dergestalt umgesetzt wird, dass einzelne Stoffe nicht aufgeführt werden, bei deren Vorliegen es ebenfalls zu falsch-positiven Ergebnissen kommt, könnte hierin eine unvollständige Umsetzung dieses Gesetzeszwecks liegen. Daran wiederum lässt die in der Anlage L Ziff. 7.3. der Verordnung (EG) Nr. 152/2009 verwendete Formulierung zweifeln. Dort heißt es nämlich: "Folgende Futtermittel-Ausgangserzeugnisse führen [...] erwiesenermaßen zu Interferenzen bei der Bestimmung des Stärkegehalts durch das polarimetrische Verfahren [...]". Sodann werden - mit leichten sprachlichen Abweichungen - die in Art. 1 Verordnung (EG) Nr. 121/2008 genannten Stoffe aufgezählt; Sojaerzeugnisse befinden sich nicht darunter. Dies deutet darauf hin, dass man im hier maßgeblichen Zeitpunkt im Unionsrecht nur für diese Stoffe, nicht jedoch für Soja von der Ungeeignetheit der polarimetrischen Methode ausging. Eine Pflicht zur Übernahme der vom Beklagten genannten ISO-Norm besteht nicht.

44

Letztlich kann jedoch dahinstehen, ob der im 3. Erwägungsgrund genannte Zweck in der Verordnung vollständig seinen Niederschlag gefunden hat. Art. 1 Verordnung (EG) Nr. 121/2008 verfolgt nämlich noch einen anderen Zweck, dessen Erreichung durch eine analoge Anwendung der Verordnung auf Sojaerzeugnisse beeinträchtigt werden würde. Wie oben (2.) dargelegt, will Art. 242 Abs. 2 Unterabs. 2 ZKDVO verhindern, dass es durch die Anwendung unterschiedlicher Untersuchungsmethoden zu Wettbewerbsverzerrungen in der EU kommt. Diesem Gesetzeszweck dient die in Art. 1 Verordnung (EG) Nr. 121/2008 erfolgte Enumeration einzelner Stoffe. Umschreibt man dagegen nur die Bedingungen, unter denen ein Verfahren statt eines anderen Verfahrens angewandt werden soll, besteht die Gefahr, dass die Zollbehörden in den Mitgliedstaaten bei einzelnen Stoffen unterschiedliche Methoden zur Anwendung bringen, weil sie die Eigenschaften eines bestimmten Stoffes, der in einem Futtermittel enthalten ist, im Hinblick auf dessen Fähigkeit, zu Interferenzen bei der Bestimmung des Stärkegehalts zu führen, verschieden bewerten. Die Enumeration in Art. 1 Verordnung (EG) Nr. 121/2008 vermeidet genau dies, indem sie im Einzelnen auflistet, bei welchen Stoffen das enzymatische Verfahren zur Anwendung kommen soll.

45

Damit wird klar, dass es einen Zielkonflikt bei der Erreichung der beiden Gesetzeszwecke von Art. 1 Verordnung (EG) Nr. 121/2008 gibt: Möchte man sicherstellen, dass alle Konstellationen, in denen die Anwendung des polarimetrischen Verfahrens naturwissenschaftlich sinnlos ist, erfasst werden, muss man eine offene Formulierung wählen. Diesen Weg ist man in der ursprünglichen Fassung der Erläuterungen zur Position 2309 KN (ABl. 1988 C 219/2) gegangen. Danach sollte das enzymatische Verfahren zur Anwendung kommen, "[f]alls das abgewandelte [polarimetrische] EWERS-Verfahren nicht anwendbar ist", ohne die konkreten Stoffe zu bezeichnen, auf die dies zutrifft. Hierbei besteht - wie dargelegt - die Gefahr der unterschiedlichen Anwendung in den Mitgliedstaaten. Entscheidet man sich dagegen für die Enumeration konkreter Stoffe, wie dies in Art. 1 Verordnung (EG) Nr. 121/2008 geschehen ist, ist die einheitliche Anwendung der Methoden innerhalb der EU sichergestellt. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass einzelne Stoffe (z. Bsp. Sojaerzeugnisse) unberücksichtigt bleiben. Dies nimmt der Gesetzgeber bewusst in Kauf, um Wettbewerbsverzerrungen innerhalb der EU zu vermeiden. Damit ist die Beschränkung auf bestimmte Stoffe in Art. 1 Verordnung (EG) Nr. 121/2008 gerade Ausdruck des (zweiten) Gesetzeszwecks. Würde man im Wege der Analogie die Liste der in der Vorschrift genannten Stoffe erweitern, würde dies der vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widersprechen. Anders als der Beklagte meint, ist die naturwissenschaftliche Sinnlosigkeit der Anwendung des polarimetrischen Verfahrens im vorliegenden Fall zur Bestimmung des Stärkegehalts damit kein Argument, um Art. 1 Verordnung (EG) Nr. 121/2008 auch vor der ausdrücklichen Aufnahme von Sojaerzeugnissen in die Verordnung auf Futtermittel, die Soja enthalten, anzuwenden.

46

Auch aus der Gesetzgebungsgeschichte der Analysemethoden für Sojaproteinkonzentrat lässt sich nichts für eine analoge Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 121/2008 ableiten. Zwar verweist der Beklagte zu Recht darauf, dass Art. 1 Abs. 2 Verordnung (EWG) Nr. 1061/69 in Gestalt der Verordnung (EWG) Nr. 1822/86 vom 30.05.1986 (ABl. L 151/1) ausdrücklich für die Stärkebestimmung von Sojaprodukten die enzymatische Methode eingeführt. Allerdings wurde die Verordnung (EWG) Nr. 1061/69 19 Monate später durch die Verordnung (EWG) Nr. 4154/87 ersetzt. Diese Verordnung legte im Anhang I Ziff. 2 zwar ebenfalls ein enzymatisches Verfahren fest (diesen Anhang wohl übersehend: BFH, Urteil vom 09.10.2001, VII R 47/00, juris Rn. 37, Urteil vom 23.06.2009, VII R 41/07, juris Rn. 9). Anders als in dem enzymatischen Verfahren, das in der Verordnung (EWG) Nr. 1061/69 in Gestalt der Verordnung (EWG) Nr. 1822/86 (Anhang V Ziff. 3) beschrieben wird, werden hierbei die Zucker und die löslichen Stärkeabbauprodukte vor der Messung nicht entfernt. Damit war dieses Verfahren für die Bestimmung des Stärkegehalts zum Zwecke der Einreihung in die Position 2309 KN nicht geeignet. Die hierdurch entstandene Lücke im Tarifrecht wurde 1988 durch Erlass von Erläuterungen zur Position 2309 KN (ABl. C 219/2) geschlossen. Hierin wurde das in der Verordnung (EWG) Nr. 1822/86 beschriebene enzymatische Verfahren für anwendbar erklärt, wobei Sojaproteinkonzentrat - anders als in Art. 1 Abs. 2 Verordnung (EWG) Nr. 1061/69 in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 1822/86 - nicht mehr ausdrücklich erwähnt wurde. Stattdessen erklärte die Erläuterung das enzymatische Verfahren für anwendbar, "[f]alls das abgewandelte [polarimetrische] EWERS-Verfahren nicht anwendbar ist." Zusammenfassend bedeutet dies, dass es lediglich für die Zeit zwischen Juli 1986 und Dezember 1988 - der Zeit der Gültigkeit der Verordnung (EWG) Nr. 106[1]/69 in der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 1822/86- eine ausdrückliche Regelung zur Methode der Bestimmung des Stärkegehalts von Sojaproteinkonzentrat gab. Aus der Geschichte der Analysemethoden kann man damit nicht ableiten, dass Sojaerzeugnisse irrtümlich in der Verordnung (EG) Nr. 121/2008 vergessen wurden.

47

2.3 Die Erläuterungen zur Position 2309 KN verlangen ebenfalls nicht, abweichend von Art. 3 Verordnung (EG) Nr. 152/2009 (oben 2.1) die polarimetrische Methode zur Bestimmung des Stärkegehalts des Sojaproteinkonzentrats anzuwenden.

48

2.3.1 Nach den Erläuterungen zur Position 2309 KN in der am 06.05.2011 veröffentlichten Fassung (ABl. 2011 C 137/99; EZT-Nr. 02.2), die auf den vorliegenden Fall anwendbar ist, wird der "Stärkegehalt von Zubereitungen von der zur Fütterung verwendeten Art im Sinne von Position 2309 [...] nach der im Anhang der Verordnung (EG) Nr. 121/2008 [...] beschriebenen enzymatischen Analysemethode bestimmt", wenn die im Einzelnen in den Buchstaben a) bis k) genannten Futtermittel, die mit den in Art. 1 Verordnung (EG) Nr. 121/2008 genannten Stoffen übereinstimmen, in bedeutenden Mengen vorliegen.

49

Da die Erläuterungen im hier maßgeblichen Zeitpunkt - wie Art. 1 Verordnung (EG) Nr. 121/2008 - Sojaerzeugnisse nicht nannten, ist das enzymatische Verfahren auch nicht kraft der Erläuterungen anzuwenden. Diese Aufzählung von Stoffen, deren Vorhandensein die Anwendung der enzymatischen Methode nötig macht, ist - wie Art. 1 Verordnung (EG) Nr. 121/2008 - als abschließend zu betrachten (siehe oben 2.2.2).

50

2.3.2 Die im ABl. EU 2018 C 34/26 veröffentlichte Änderung der Erläuterungen zur Position 2309 KN, die bestimmt, dass auch für Sojaerzeugnisse das polarimetrische Verfahren unanwendbar ist (Buchst. k), gilt im vorliegenden Fall nicht. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH und des Bundesfinanzhofs sind Erläuterungen zur KN nur zu berücksichtigen, wenn sie im maßgeblichen Zeitpunkt schon in Kraft getreten sind (EuGH, Urteil vom 08.04.1976, Merkur-Außenhandel, 106/75, Rn. 4; Urteil vom 09.08.1994, Stanner, C-393/93, Rn. 19; Urteil vom 22.05.2008, Ecco, C-165/07, Rn. 40; BFH, Urteil vom 30.08.1988, VII R 178/85, juris Rn. 12; FG Hamburg, Beschluss vom 19.07.2017, 4 K 161/15, juris Rn. 54). Dies ist hier erst mit der Veröffentlichung im ABl. C vom 31.01.2018 - und damit weit nach der Einfuhr - geschehen.

51

Die Erläuterungen zur Position 2309 KN können für den Zeitraum bis zum 30.01.2018 nicht analog auf Sojaerzeugnisse angewendet werden. Die oben zur analogen Anwendbarkeit von Art. 1 Verordnung (EG) Nr. 121/2008 gemachten Ausführungen (2.2.4) gelten entsprechend für die Erläuterungen zur Position 2309 KN, zumal sich die Erläuterungen an der Verordnung (EG) Nr. 121/2008 orientieren. So wurde der Wortlaut der Erläuterungen zur Position 2309 KN, der bis Januar 2008 (ABl. 2006 C 50/101) noch offen formuliert war, wenige Tage nach der Veröffentlichung der Verordnung dergestalt angepasst, dass die in der Verordnung genannte Liste mit Futtermitteln, bei denen das enzymatische Verfahren angewendet werden soll, übernommen wurde (ABl. C 41/5 vom 15.02.2008).

52

3. Da auf Waren der Unterposition 2309 9031 KN ein Zoll in Höhe von 23 €/t liegt und die Klägerin mit der hier in Rede stehenden Zollanmeldung ... t Sojaproteinkonzentrat angemeldet hat, beträgt der auf die Einfuhr zu erhebenden Zoll ...,- €. Auf diesen Betrag ist der angefochtene Einfuhrabgabenbescheid abzuändern.

III.

53

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 135 Abs. 1, 136 Abs. 2 FGO. Die von der Klägerin vorgenommene Beschränkung des Klagantrags ist keine teilweise Klagrücknahme, aber kostenmäßig wie eine solche zu behandeln (vgl. BFH, Urteil vom 16.07.1969, I R 81/66, BFHE 96, 510, Rn. 7). Insoweit trägt die Klägerin die Kosten des Verfahrens. Soweit die Klägerin mit dem reduzierten Klagantrag obsiegt, trägt der Beklagte die Kosten des Verfahrens. Da ursprünglich ... € festgesetzt wurden, letztlich aber der Bescheid nur in Höhe von ... € rechtmäßig ist, ergibt sich eine Kostenverteilung von 2/3 zu 1/3 zulasten des Beklagten.

54

Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit richtet sich nach §§ 151 Abs. 3, 155 S. 1 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 S. 1 ZPO. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 115 Abs. 2 FGO), sind nicht gegeben.

Urteilsbesprechung zu Finanzgericht Hamburg Urteil, 22. Feb. 2018 - 4 K 118/15

Urteilsbesprechungen zu Finanzgericht Hamburg Urteil, 22. Feb. 2018 - 4 K 118/15

Referenzen - Gesetze

Zivilprozessordnung - ZPO | § 708 Vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung


Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:1.Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;2.Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;3.Urteile, dur

Finanzgerichtsordnung - FGO | § 135


(1) Der unterliegende Beteiligte trägt die Kosten des Verfahrens. (2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat. (3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werd

Finanzgerichtsordnung - FGO | § 115


(1) Gegen das Urteil des Finanzgerichts (§ 36 Nr. 1) steht den Beteiligten die Revision an den Bundesfinanzhof zu, wenn das Finanzgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Bundesfinanzhof sie zugelassen hat. (2) Die Revision ist nu

Finanzgerichtsordnung - FGO | § 100


(1) Soweit ein angefochtener Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und die etwaige Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf auf; die Finanzbehörde ist an di
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(1) Soll gegen den Bund, ein Land, einen Gemeindeverband, eine Gemeinde, eine Körperschaft, eine Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts vollstreckt werden, so gilt für die Zwangsvollstreckung das Achte Buch der Zivilprozessordnung sinngemäß; §

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(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen. (2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Ger

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Finanzgericht Hamburg Urteil, 22. Feb. 2018 - 4 K 118/15 zitiert oder wird zitiert von 3 Urteil(en).

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Bundesfinanzhof Urteil, 21. Feb. 2013 - V R 27/11

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Tatbestand 1 I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) betrieb eine Ballettschule. Sie unterwarf in den Streitjahren 1972 bis 1992 ihre Umsätze dem Regelsteuersat

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(1) Das Gericht entscheidet, soweit nichts anderes bestimmt ist, auf Grund mündlicher Verhandlung. Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, können ohne mündliche Verhandlung ergehen.

(2) Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

(1) Soweit ein angefochtener Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und die etwaige Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf auf; die Finanzbehörde ist an die rechtliche Beurteilung gebunden, die der Aufhebung zugrunde liegt, an die tatsächliche so weit, als nicht neu bekannt werdende Tatsachen und Beweismittel eine andere Beurteilung rechtfertigen. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, dass und wie die Finanzbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.

(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, dass die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekannt zu geben.

(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Satz 1 gilt nicht, soweit der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht nicht nachgekommen ist und deshalb die Besteuerungsgrundlagen geschätzt worden sind. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlass des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, dass Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluss kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.

(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ließ in den Jahren 2010 und 2011  96 Sendungen Warensortimente mit Ursprung in den USA in den zollrechtlich freien Verkehr überführen. Zugleich beantragte sie die Abfertigung zum höchsten Zollsatz nach Art. 81 des Zollkodex (ZK) und meldete die Waren unter der Unterpos. 6109 10 10 der Kombinierten Nomenklatur (KN) für T-Shirts an. Die Zollstelle nahm die Anträge an und fertigte die Waren antragsgemäß ab. Bei stichprobenhaften Beschaffenheitsbeschauen, die u.a. auch die hier zu beurteilenden Sendungen erfassten, hatte das Zollamt keine anderen Waren als T-Shirts festgestellt.

2

Eine Zollprüfung des Prüfungsdienstes des Beklagten und Revisionsbeklagten (Hauptzollamt --HZA--) im Jahr 2012 bei der Klägerin ergab, dass die Sendungen als "Nylon Tricot Legging", "Nylon Tricot High-Waist Legging", "Printet Nylon Legging", "Shiny Legging" und "Shiny High-Waist Legging" bezeichnete Waren enthielten.

3

Bei diesen Waren handelte es sich um Bekleidungsstücke, die zu 100 % aus synthetischen Chemiefasern gewirkt waren. Die in Größen für Erwachsene konfektionierten Bekleidungsstücke waren hosenähnlich und wiesen knöchellange Beine ohne Fußteile auf. Sie hatten einen die Taille abschließenden elastischen Bund in unterschiedlicher Breite (2,5 bis 12,7 cm). An den Kleidungsstücken waren vorn weder eine Öffnung noch ein Verschluss, aber Nähte an den Innenseiten der Beine vorhanden. Merkmale, die auf einen bestimmten Trägerkreis hinwiesen, waren nicht feststellbar. Die Bekleidungsstücke konnten ohne Weiteres als eine lange, den Unterkörper bedeckende Hose getragen werden.

4

Der Prüfungsdienst reihte diese Waren in die Unterpos. 6104 63 00 KN ein und stellte fest, dass sich daraus neben dem Zollsatz von 12 % ein Zusatzzoll von weiteren 15 % ergebe. Das HZA folgte den Feststellungen und erhob von der Klägerin Einfuhrabgaben nach, in welchen --neben hier unstreitigen, auf fehlerhaften Zollwerten beruhenden, zu- und abgerechneten Zollbeträgen-- ein Zusatzzoll enthalten war.

5

Einspruch und Klage, mit welchen die Klägerin die Einreihung der Leggings in die Unterpos. 6406 90 90 KN, hilfsweise in die Unterpos. 6115 21 KN beanspruchte und geltend machte, der auf der Verordnung (EG) Nr. 673/2005 (VO Nr. 673/2005) des Rates vom 25. April 2005 zur Einführung zusätzlicher Zölle auf die Einfuhren bestimmter Waren mit Ursprung in den Vereinigten Staaten von Amerika (Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- Nr. L 110/1) beruhende Zusatzzoll sei auf die zutreffende Tarifposition nicht anwendbar, im Übrigen sei bei einer Einreihung auf Antrag nach Art. 81 ZK nur die Anwendung des in der KN vorgesehenen höchsten Zollsatzes gestattet, blieben erfolglos. Das Finanzgericht (FG) urteilte, der für die Nacherhebung der Zollschuld nach Art. 220 Abs. 1 Satz 1 ZK maßgebliche Zollsatz ergebe sich nach Art. 20 Abs. 1 ZK aus dem Zolltarif, im Streitfall aus der VO Nr. 673/2005 in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 317/2009 (VO Nr. 317/2009) der Kommission vom 17. April 2009 (ABlEU Nr. L 100/6), einer sonstigen Gemeinschaftsregelung i.S. des Art. 20 Abs. 3 Buchst. g ZK, die für Waren der Unterpos. 6104 63 00 KN einen Zusatzzoll von 15 % des Wertes der eingeführten Waren vorsehe. Bei den streitgegenständlichen Leggings handele es sich um lange Hosen, aus Gewirken und Gestricken, für Frauen und Mädchen, die in die Pos. 6104 KN und innerhalb dieser Position aufgrund der synthetischen Spinnstoffe, aus denen sie bestehen, in die Unterpos. 6104 63 00 KN einzureihen seien.

6

Sie seien nicht als Waren der Pos. 6406 KN oder der Pos. 6115 KN einzureihen. Unter die Pos. 6406 KN fielen --u.a.-- Gamaschen und ähnliche Waren, aber keine hosenähnlichen Waren. Das ergebe sich auch aus den für die Auslegung maßgeblichen französischen und englischen Fassungen. Nach den Warenbezeichnungen in französischer Sprache handelt es sich bei "guêtres" um Gamaschen und Halbgamaschen, und bei "jambières" um Beinschienen, Beinschützer, Beinschutz, Gamaschen, sog. Legwarmer und Stulpen. In der englischen Fassung fänden sich neben "gaiters", das sind Stulpen oder Gamaschen, zwar "leggings and similar articles". Auch diese Bezeichnungen ließen aber nicht erkennen, dass die darunter fallenden Waren hosenähnlich sein dürften, nämlich ein zwei miteinander verbundenes, beide Beine und den Unterkörper bedeckendes Kleidungsstück sein könnten. Der Begriff "leggings" habe im Englischen zwei Bedeutungen: Zum einen bezeichne er gamaschenähnliche Kleidungsstücke, zum anderen sehr eng geschnittene Hosen für Frauen und Kinder. Letztere würden aber nicht von der Pos. 6406 KN erfasst. Dies ergebe sich aus dem Vergleich mit den übrigen, von der Position erfassten Waren. Auch die Entwicklung der Pos. 6406 KN bestätige diese Auslegung. Vor dem Beitritt Großbritanniens sei die heutige Pos. 6406 in den Tarifnummern 64.05 für Schuhteile und 64.06 für Gamaschen, Schienbeinschützer und ähnliche Waren sowie Teile davon (Verordnung (EWG) Nr. 950/68 --VO Nr. 950/68-- des Rates vom 28. Juni 1968 über den gemeinsamen Zolltarif, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- Nr. L 172/1) erfasst gewesen; auf Französisch "Guêtres, jambières, molletières, protège-tibias et articles similaires et leurs parties". Die inhaltlich unveränderten Tarifnummern seien dann in der englischen Fassung des Gemeinsamen Zolltarifs (VO (EWG) Nr. 1/73 des Rates vom 19. Dezember 1972, ABlEG Nr. L 1/1) als "Gaiters, spats, leggings, puttees, cricet pads, shin-guards and similar articles, and parts thereof" übersetzt worden. Eine inhaltliche Änderung der Tarifnummer mit dem Ziel der Einbeziehung von Damenhosen sei damit nicht verbunden gewesen, unter Leggings seien nur Kleidungsstücke zu verstehen, die ein Bein ganz oder teilweise bedeckten, aber nicht miteinander verbunden seien.

7

Auch in den Erläuterungen zum Harmonisierten System (ErlHS) zu Pos. 6406 KN Rz 14.0 würden die in der Klammer als Leggings bezeichneten Waren als Beinlinge, also nicht als Hosen oder hosenähnliche Kleidungsstücke beschrieben.

8

Bei den als Leggings bezeichneten Waren handele es sich auch nicht um Strumpfhosen der Pos. 6115 KN. Eine Strumpfhose sei eine aus zwei sich überlagernden Strümpfen gefertigte Unterleibsbekleidung. Dazu gehörten die streitgegenständlichen Waren jedoch nicht.

9

Das HZA sei auch berechtigt gewesen, in dem der Klägerin auf ihren Antrag bewilligten Verfahren nach Art. 81 ZK die Zollbelastung für alle Sendungen nach der höchsten Einfuhrabgabenbelastung, also mit dem Zusatzzoll nach der VO Nr. 673/2005 zu ermitteln. Die Klägerin hätte die in ihrem eigenen Warenwirtschaftssystem zutreffend unter der Unterpos. 6104 63 00 KN erfassten Leggings gesondert anmelden können.

10

Von der Nacherhebung könne auch nicht nach Art. 220 Abs. 2 Buchst. b Unterabs. 1 ZK abgesehen werden. Es habe keine Warenbeschau gegeben, auf Grund derer die Klägerin davon habe ausgehen können, für die Leggings falle kein Zusatzzoll an.

11

Zur Begründung der Revision trägt die Klägerin vor: Die Leggings seien als "ähnliche Waren" wie Gamaschen in die Unterpos. 6406 90 90 KN, hilfsweise als "Strumpfhosen" in die Unterpos. 6115 21 KN einzureihen.

12

Für die Einreihung in die Pos. 6406 KN spreche die Verwendung des Begriffs "legging" in der englischen Sprachfassung und auch für das französische Wort "jambières" werde in Wörterbüchern als Synonym der Begriff "leggings" angegeben. Angesichts dieser eindeutigen Wortlaute habe das FG seine Auslegung nicht auf einen systematischen Vergleich der Ware mit den übrigen von der Position erfassten Waren stützen dürfen. Auf die Entwicklung des Gemeinsamen Zolltarifs der EWG dürfe zur Auslegung der KN nicht zurückgegriffen werden, da die KN nicht auf der VO Nr. 950/68, sondern auf dem Harmonisierten System zur Bezeichnung und Codierung der Waren beruhe und sich im Übrigen --wie der gegenüber der Tarifnummer 64.06 ("gaiters, spats, leggings, puttees, cricet pads, shin-guards and similar articles, and parts thereof") verkürzte Wortlaut der Pos. 6406 KN ("gaiters, leggings and similar articles, and parts thereof") zeige-- die zolltarifliche Rechtslage gegenüber dem Gemeinsamen Zolltarif geändert habe.

13

Den Klammerzusatz "leggings" zum Begriff Beinlinge in den ErlHS zu Pos. 6406 Rz 14.0 interpretiere das FG falsch, er sei als Ausweitung des Begriffs "Beinlinge" auf hosenähnliche Beinkleider zu verstehen.

14

Hilfsweise seien die Leggings als Strumpfhosen in die Unterpos. 6115 21 KN einzureihen.

15

Die Klägerin hält im Übrigen die Anwendung des Zusatzzolls der VO Nr. 673/2005 gemäß Art. 81 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 Buchst. g ZK auf sämtliche Waren der jeweiligen Sendung nicht für gerechtfertigt. Das FG verkenne, dass sich die VO Nr. 673/2005 und Art. 81 ZK widersprächen. Gemäß Art. 2 VO Nr. 673/2005 finde der Zusatzzoll ausschließlich auf die in Anhang I genannten Waren Anwendung. Nur so sei gewährleistet, dass die zusätzlichen Zölle 72 % der jährlichen Auszahlungen der USA aus vereinnahmten Antidumping- und Ausgleichszöllen an die geschädigten US-amerikanischen Unternehmen nicht übersteigen, was nach der Entscheidung des Schiedsgerichts der World Trade Organisation (WTO) vom 31. August 2004 (WT/DS217/ARB/EEC) Bedingung für die Erhebung der zusätzlichen Zölle sei. Die bei Anwendung des Art. 81 ZK sich ergebende Erstreckung der Zusatzzölle auf andere als in der VO Nr. 673/2005 gelistete Waren, führe zu einer Überschreitung des zulässigen Kompensationsbetrags. Bei der gebotenen völkerrechtskonformen Auslegung von Unionsrecht müsse der Zusatzzoll bei der Ermittlung der höchsten Einfuhrabgabenbelastung der Waren einer Sendung nach Art. 81 ZK außer Betracht bleiben.

16

Außerdem sei die Zulassung der vereinfachten Einreihung nach Art. 81 ZK rechtswidrig gewesen, weil Aufwand und Kosten der Einzelanmeldungen angesichts der hohen Zollsätze für Textilien nicht außer Verhältnis zur Höhe der Einfuhrabgaben stünden. Auch deshalb sei die Anwendung der höchsten Einfuhrabgabenbelastung rechtswidrig.

17

Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung sowie den Einfuhrabgabenbescheid vom 16. November 2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 18. Juni 2013 aufzuheben.

18

Das HZA schließt sich der Rechtsauffassung des FG an und beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

19

II. Die Entscheidung ergeht gemäß § 126a der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Senat hält einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten sind davon unterrichtet worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.

20

Die Revision ist zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Das Urteil des FG entspricht dem Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 FGO).

21

Für die in den zollrechtlich freien Verkehr übergeführten in 96 Sendungen zusammengefassten Warensortimente ist, da die Abfertigung zum höchsten Zollsatz nach Art. 81 ZK antragsgemäß bewilligt war, eine Zollschuld entstanden, die wegen der in den Sendungen enthaltenen Leggings zu einem Zollsatz von 12 % und gemäß Art. 2 VO Nr. 673/2005 i.V.m. Unterpos. 6104 63 00 KN zu einem Zusatzzoll von 15 % führt. Da der entsprechende Abgabenbetrag für die streitigen Einfuhren seinerzeit nicht buchmäßig erfasst wurde, ist er gemäß Art. 220 Abs. 1 ZK nachzuerheben.

22

1. Die Voraussetzungen einer vereinfachten Einfuhrabgabenerhebung gemäß Art. 81 ZK liegen vor. Die Klägerin hat die in den Einfuhrsendungen enthaltenen Waren einheitlich als solche angemeldet, auf die der jeweils höchste Abgabensatz entfällt, und diese Zollanmeldungen sind angenommen worden. Daran muss sie sich festhalten lassen. Die Voraussetzungen für eine Ungültigerklärung der Zollanmeldungen gemäß Art. 66 Abs. 2 ZK i.V.m. Art. 251 der Zollkodex-Durchführungsverordnung sind schon hinsichtlich der dort vorgesehenen Antragsfristen nicht erfüllt.

23

2. Bei der Ermittlung der auf die Waren des jeweiligen Sortiments entfallenden höchsten Einfuhrabgabenbelastung war auch der Zusatzzoll aus der VO Nr. 673/2005 zu berücksichtigen, sofern eine der Waren von einer im Anhang dieser Verordnung aufgeführten Tarifbezeichnungen erfasst war. Die Vereinfachungsvorschrift des Art. 81 ZK betrifft (nur) die Einfuhrabgaben i.S. des Art. 4 Nr. 10 ZK (vgl. Weymüller in Dorsch, Zollrecht, Art. 81 ZK Rz 38), also nach dem hier maßgeblichen Art. 4 Nr. 10 Anstrich 1 ZK "Zölle und Abgaben mit gleicher Wirkung bei der Einfuhr von Waren". Darunter fällt auch der Zusatzzoll gemäß der VO Nr. 673/2005. Denn der Zolltarif der Europäischen Gemeinschaften umfasst nach Art. 20 Abs. 3 Buchst. g ZK die sonstigen zolltariflichen Maßnahmen der Union, also auch die sog. Retorsionszölle, die im Fall von Handelsstreitigkeiten festgelegt werden, wie es mit der VO Nr. 673/2005 geschehen ist (so auch Lux in Dorsch, Zollrecht, Art. 20 ZK Rz 33).

24

Mit ihrem Einwand, die Anwendung der unter Einbeziehung des Zusatzzolls ermittelten höchsten Abgabenbelastung auf alle Waren einer Sendung führe zu einer Erstreckung der Zusatzzölle auf andere als in der VO Nr. 673/2005 gelistete Waren und damit zu einer von der Genehmigung der Zusatzzölle durch das Schiedsgericht der WTO nicht mehr gedeckten Überschreitung des zulässigen Kompensationsbetrags, macht die Klägerin keine Verletzung eines eigenen subjektiv-öffentlichen Rechts geltend, auf welches allein sie die Anfechtung der Nacherhebung stützen kann. Da Art. 81 ZK den Begriff Einfuhrabgabenbelastung verwendet und damit nach den Definitionen der Art. 4 Nr. 10 und Art. 20 Abs. 3 Buchst. g ZK sonstige zolltarifliche Maßnahmen der Gemeinschaft bzw. Abgaben mit gleicher Wirkung wie Zölle einbezieht, sind Zusatzzölle wie solche des Streitfalls bei der Ermittlung der "höchsten Einfuhrabgabenbelastung" i.S. des Art. 81 ZK nicht ausgenommen. Anderenfalls ließen sich mithilfe dieses für Sammelsendungen unterschiedlicher Waren vorgesehenen vereinfachten Einreihungsverfahrens Zusatzzölle für bestimmte in solchen Sendungen enthaltene Einfuhren umgehen.

25

Trotz der seitens der Kommission mit Schreiben vom 27. September 2013, auf das sich die Revision beruft, geäußerten Rechtsmeinung hält der Senat in Anbetracht des eindeutigen Wortlauts des Art. 81 ZK sowie des Art. 4 Nr. 10 Anstrich 1 ZK die Auslegung jener Vorschrift auch im Hinblick auf die mit der VO Nr. 673/2005 verfolgten Ziele für zweifelsfrei und sieht keinen Grund, eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) einzuholen.

26

Ist das vereinfachte Einreihungsverfahren gemäß Art. 81 ZK beantragt und bewilligt, tritt die gesetzliche Folge ein, dass der für bestimmte in der Sendung enthaltene Waren vorgesehene höchste Einfuhrabgabensatz --und damit ebenso der für solche Waren zu erhebende Strafzoll-- auch auf Waren anzuwenden ist, für die eigentlich kein Strafzoll, sondern ein geringerer Abgabensatz gilt. Hätte der Unionsgesetzgeber diese Rechtsfolge für von der VO Nr. 673/2005 nicht erfasste Waren vermeiden wollen, hätte es nahe gelegen, in dieser Verordnung die Anwendung des Art. 81 ZK auszuschließen. Dies ist jedoch nicht geschehen. Vielmehr hat der Unionsgesetzgeber mit Art. 3 VO Nr. 673/2005 eine andere Regelung zur Einhaltung des vorgesehenen Kompensationsbetrags vorgesehen. Es kommt daher nicht in Betracht, für von der VO Nr. 673/2005 nicht erfasste Waren die Rechtsfolge des Art. 81 ZK trotz Vorliegens seiner Voraussetzungen nicht eintreten zu lassen mit der Folge, dass die Erhebung des Zusatzzolls auch für in der Einfuhrsendung enthaltene Waren der VO Nr. 673/2005 unterbleibt.

27

3. Dem Einwand der Klägerin, es sei unverhältnismäßig, die gesamte Warenmenge mit dem Zusatzzoll zu belegen, ist nicht zu folgen (vgl. Senatsurteil vom 26. September 1989 VII R 10/87, BFHE 158, 200, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern --ZfZ-- 1990, 48, zu § 79 Abs. 2 des Zollgesetzes 1961). Der Anmelder kann Einfuhrwaren mit besonders hoher Abgabenbelastung ausschließen, indem er diese Waren getrennt anmeldet, oder er kann für eine Warengruppe angeben, dass bestimmte Waren in dieser nicht enthalten sind (vgl. Weymüller in Dorsch, a.a.O., Art. 81 ZK Rz 37).

28

4. Auf die streitgegenständlichen Waren ("Leggings") entfällt der Zusatzzoll nach Art. 2 VO Nr. 673/2005 (für die Einfuhren des Jahres 2009 i.d.F. der VO Nr. 317/2009) i.V.m. deren Anhang I auf Waren der Unterpos. 6104 63 00 KN.

29

Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. EuGH-Urteil vom 15. November 2012 C-558/11, ZfZ 2013, 41, Rz 29, m.w.N.) ist im Interesse der Rechtssicherheit und der leichten Nachprüfbarkeit das entscheidende Kriterium für die zollrechtliche Tarifierung von Waren allgemein in deren objektiven Merkmalen und Eigenschaften zu suchen, wie sie im Wortlaut der Positionen der KN und der Anmerkungen zu den Abschnitten oder Kapiteln festgelegt sind (s. Allgemeine Vorschriften für die Auslegung der KN 1 und 6).

30

a) Von der Unterpos. 6104 63 00 KN werden u.a. lange Hosen aus Gewirken und Gestricken aus synthetischen Chemiefasern für Frauen oder Mädchen erfasst.

31

aa) Nach den Feststellungen des FG handelte es sich bei den in Warensendungen enthaltenen Leggings um Kleidungsstücke aus zwei miteinander verbundenen Beinteilen, die beide Beine und den Unterkörper bedecken, mit Nähten an den Innenseiten der Beinteile, einem breiten Bund und ohne Fußteile, und die ohne Weiteres als lange, den Unterkörper bedeckende Hosen getragen werden können. Diese tatrichterliche Wertung ist aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, sie erscheint vielmehr durchaus nachvollziehbar. Die Klägerin setzt ihr auch lediglich ihre eigene --abweichende-- Wertung entgegen, die Leggings seien als Oberbekleidung nicht geeignet.

32

bb) Die Leggings fallen auch nicht unter die Anmerkung 1 Buchst. n zu Abschn. XI, wonach Gamaschen und ähnliche Waren des Kapitels 64 aus diesem Abschnitt ausgewiesen sind.

33

Von der Pos. 6406 KN sind in der deutschen Sprachfassung erfasst "Schuhteile ...; Einlegesohlen, Fersenstücke und ähnliche herausnehmbare Waren; Gamaschen und ähnliche Waren sowie Teile davon". Leggings sind nicht genannt. Zwar taucht dieser Begriff in den ErlHS zu Pos. 6406 unter "II) Gamaschen und ähnliche Waren sowie Teile davon" in Rz 14.0 als Synonym für Beinlinge ("Leggings") auf, die den sog. Beinschützern ähnlichen Waren --wie Wadengamaschen (einschließlich Wickelgamaschen), Stutzen, Trachtenstrümpfe usw., ohne Fußteil und mit oder ohne Steg-- zugeordnet werden. Es ist allerdings offensichtlich und bedarf keiner näheren Begründung, dass die von der Klägerin eingeführten Leggings keine diesen Kleidungsstücken ähnliche Waren sind. Aus der englischen Sprachfassung der Pos. 6406 KN folgt nichts anderes.

34

b) Bei den als Leggings bezeichneten Waren handelt es sich auch nicht um Strumpfhosen der Pos. 6115 KN.

35

Weder aus dem Wortlaut der Positionen der KN noch aus den Anmerkungen ergeben sich Definitionen oder klare Abgrenzungskriterien für Strumpfhosen und lange Hosen.

36

Gleichwohl tragen diese Waren ihre Definition in sich. Sie ergibt sich aus dem allgemeinen Sprachgebrauch.

37

Strumpfhosen sind eng an Fuß, Bein und Unterleib anliegende, gewirkte oder gestrickte Hosen (besonders für Frauen und Kinder), die wie ein Strumpf angezogen werden. Dementsprechend hat das FG zutreffend herausgearbeitet, dass Strumpfhosen aus zwei sich überlagernden Strümpfen gefertigte, typischerweise --wie Strümpfe-- rundgewebte Unterleibsbekleidungen sind. Strumpfhosen weisen eine besondere, machartbedingte Passform auf, sie passen sich eng anliegend der Körperform an.

38

Dieser Definition entsprechen die streitigen Kleidungsstücke schon nicht, weil sie keinen Strumpf, d.h. keinen den Fuß umhüllenden Teil aufweisen. Auf die übrigen vom FG zur Unterscheidung von Hosen und Strumpfhosen herangezogenen Merkmale --wie Längsnähte an den Innenseiten oder fehlende Angaben zur Feinheit der verwendeten Garne-- braucht daher nicht eingegangen zu werden.

39

5. Die Voraussetzungen für ein Absehen von der Nacherhebung der Einfuhrabgaben gemäß Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK sind nicht erfüllt. Insoweit wird auf die Ausführungen im FG-Urteil Bezug genommen.

40

6. Ist das Urteil nach alledem revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, so ist die Revision mit der Kostenfolge aus § 135 Abs. 2 FGO zurückzuweisen.

Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich gegen die Erhebung von Tabaksteuer wegen des Besitzes von unverzollten und im Steuergebiet der Bundesrepublik Deutschland (Steuergebiet) unversteuerten Zigaretten.

2

Im Rahmen einer in anderer Sache am 28.05.2010 durchgeführten polizeilichen Durchsuchung des Hauses, das der Kläger zusammen mit seiner Ehefrau und seinem Sohn bewohnt, wurden ausweislich des Durchsuchungsprotokolls nebst Bildanlage insgesamt 8.520 Stück (39 Stangen à 200 Zigaretten und 36 Schachteln à 20 Zigaretten) unverzollte und im Steuergebiet unversteuerte Zigaretten mit ukrainischen Steuerbanderolen (im Folgenden: Zigaretten) aufgefunden. Im Einzelnen befanden sich im Bettkasten des Schlafzimmers 39 Stangen (18 Stangen der Marke "A" und 21 Stangen der Marke "B") sowie in der Küche 36 Schachteln der Marke "A".

3

Zunächst wurde der Kläger mit Steuer- und Zinsbescheid vom 31.01.2011 (XXX-1) zur Zahlung von Zoll, Tabaksteuer und Einfuhrumsatzsteuer nebst Zinsen in Höhe insgesamt 1.928,53 € herangezogen. Nachdem der Beklagte diesen Bescheid aufgehoben hatte, setzte er neben einem gesonderten Steuer- und Zinsbescheid über Zoll und Einfuhrumsatzsteuer vom 23.02.2011, der Gegenstand des Verfahrens 4 K 109/15 ist, mit einem Steuer- und Zinsbescheid vom selben Tag (XXX-2) Tabaksteuer nebst Zinsen in Höhe von 1.249,26 € fest. Für die 4.320 Zigaretten der Marke "A" wurde eine Mindeststeuer von 14,02 ct/Stk. (605,66 €) und für die 4.200 Zigaretten der Marke "B" eine Mindeststeuer von 13.81 ct/Stk. (592,60 €), also insgesamt 1.198,26 €, festgesetzt. Hinzu kämen Zinsen in Höhe von 51,- €. Der Kläger sei Steuerschuldner, weil er im Steuergebiet die tatsächliche Sachherrschaft über die Zigaretten und damit den Besitz erlangt habe.

4

Mit Schreiben vom 17.03.2011 legte der Kläger Einspruch gegen den Steuer- und Zinsbescheid über Tabaksteuer vom 23.02.2011 ein, den er wie folgt begründete: Er habe nicht gewusst, dass sich in seinem Haus unverzollte und unversteuerte Tabakwaren befunden hätten. Er könne auch keine Angaben dazu machen, wie diese Waren in seinen Haushalt gelangt seien. Es sei möglich, dass seine Ehefrau, die selbst starke Raucherin sei, die Tabakwaren von Dritten erhalten habe, wobei nicht unterstellt werden könne, dass ihr hätte bekannt sein müssen, dass es sich um unverzollte und unversteuerte Zigaretten gehandelt habe. Genauso könne sein Sohn die Zigaretten in seinem Wohnhaus deponiert haben. Auch weitere Familienangehörige und Freunde der Familie würden im Haus ein- und ausgehen.

5

§ 23 Abs. 1 S. 2 TabStG verlange, dass die Ware zu gewerblichen Zwecken im Besitz gehalten werde. Wer Tabakwaren ausschließlich zum Eigenbedarf besitze, sei kein Steuerschuldner. Auch wenn die gefundene Menge über die übliche, für den Eigenbedarf angeschaffte Menge hinausgehe, sei zu berücksichtigen, dass es sich bei ihm sowie seiner Familie und seinen Freunden um dem Nikotin verfallene Süchtige handele.

6

Als mittelloser Empfänger von Leistungen nach dem SGB II würde er - der Kläger - nicht danach fragen, wo die Zigaretten herkämen, die ihm angeboten würden. Er bestreite, überhaupt in der Lage zu sein, den Unterschied zwischen einer deutschen und einer ukrainischen Steuerbanderole zu erkennen. Er - der Kläger - stehe auch nicht seiner Ehefrau bei der Hausarbeit zur Verfügung. Er gehe vielmehr seinen Hobbys nach. Er habe daher auch nicht durch Zufall von den Tabakwaren, die sich verborgen im Schlafzimmer und in der Küche befunden hätten, Kenntnis erhalten.

7

Mit Einspruchsentscheidung vom 25.07.2012 (XXX-3) - zugestellt am 31.07.2012 - wies der Beklagte den Einspruch zurück. Die Zigaretten seien auf bislang unbekanntem Weg aus einem Drittland in die EU geschmuggelt und anschließend zu gewerblichen Zwecken in das Steuergebiet verbracht worden. Da dies unversteuert erfolgt sei, sei die Tabaksteuer nach § 23 TabStG entstanden. Nach hiesigen Erfahrungen sei es sicher, dass die Zigaretten mit der Absicht des Weiterverkaufs ins Steuergebiet verbracht worden seien. Der Kläger sei als Besitzer Tabaksteuerschuldner gemäß § 23 S. 2 TabStG geworden. Die unversteuerten Zigaretten hätten sich bis zu ihrer Sicherstellung in seiner Wohnung und damit in seinem Herrschaftsbereich befunden, so dass er zumindest einen generellen Besitzwillen an ihnen gehabt habe. Eine Beteiligung an der Verbringung sei nicht nötig. Nicht erforderlich sei, dass der Besitz auch zu gewerblichen Zwecken erfolgt sei. Fundort und Menge der vorgefundenen Zigaretten schlössen es aus, dass die Zigaretten ohne Wissen des Klägers in seiner Wohnung platziert worden seien. Seine Ehefrau könne nicht Alleinbesitzerin der Zigaretten gewesen sein, da die Zigaretten im direkten räumlichen Zusammenhang zu anderen persönlichen Gegenständen, die ihm zuzuordnen seien, insbesondere Armbrust, Rohrbombe und Revolver, gefunden worden seien. Es sei eine Schutzbehauptung, dass er nicht in der Lage sei, ukrainische von deutschen Steuerzeichen zu unterscheiden.

8

Der Kläger sei auch Zinsschuldner, weil hinterzogene Steuern nach § 235 AO vom Eintritt der Steuerverkürzung an zu verzinsen seien.

9

Am 30.08.2012 hat der Kläger Klage erhoben. Er verweist auf seinen vorgerichtlichen Vortrag. Es sei vorrangig zu klären, ob ihm die Zigaretten überhaupt zugeordnet werden könnten.

10

Der Kläger beantragt,
den Steuer- und Zinsbescheid über Tabaksteuer (XXX-2) vom 23.02.2011 und die Einspruchsentscheidung vom 25.07.2012 (XXX-3) aufzuheben.

11

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

12

Das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 11.11.2014 (VII R 44/11), wegen dessen das Verfahren zum Ruhen gebracht worden sei, sei unmittelbar nicht anwendbar, da es sich auf § 19 TabStG in der bis zum 31.03.2010 geltenden Fassung beziehe. Allerdings bestärke die Entscheidung die hiesige Auffassung, dass auch im neuen Tabaksteuergesetz grundsätzlich jeder Besitzer von unversteuerter Tabakware Tabaksteuerschuldner sei. Es gebe auch keine Divergenz zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH), da sich das Urteil des BFH lediglich auf die tabaksteuerrechtlichen, nicht jedoch auf die strafrechtlichen Folgen des Zigarettenschmuggels beziehe.

13

Es sei hinreichend belegt, dass die Zigaretten auf dem Landweg über die östlichen EU-Mitgliedstaaten ins Steuergebiet verbracht worden seien. Daher sei der Kläger Steuerschuldner gemäß § 23 TabStG. Ein solcher Transportweg entspreche nicht nur hiesigen Erfahrungen in einer Vielzahl vergleichbarer Fälle. Er sei auch in der Rechtsprechung des BGH (Beschl. v. 09.06.2011,1 StR 21/11, juris, Rn. 6) als übliche Route des Zigarettenschmuggels anerkannt. Ein Transport auf dem See- oder Luftweg sei entweder zu teuer oder wegen des außerordentlich hohen Entdeckungsrisikos unwahrscheinlich. Daher sei "mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit" bewiesen, dass die Zigaretten über einen anderen EU-Mitgliedstaat eingeführt worden seien.

14

Der Kläger sei auch Steuerschuldner im Sinne von § 21 TabStG. Zwar erfasse der Wortlaut dieser Vorschrift den Besitz nicht ausdrücklich. Nach der EU-Verbrauchsteuersystemrichtlinie und der Rechtsprechung des BFH müsse jedoch jeder Besitzer Steuerschuldner sein. § 21 TabStG sei daher entsprechend auszulegen.

15

Bei der Entscheidung haben eine Steuerstrafakte des Beklagten (...), ein Auszug aus der Akte der Staatsanwaltschaft C ..., die Strafakte der Staatsanwaltschaft Magdeburg C ... sowie zwei Einspruchshefte vorgelegen.

Entscheidungsgründe

16

I. Die zulässige Anfechtungsklage gegen den Steuer- und Zinsbescheid über Tabaksteuer vom 23.02.2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 25.07.2012 (XXX-3) ist begründet. Der Verwaltungsakt ist rechtswidrig und verletzt den Kläger - da er Adressat dieses belastenden Verwaltungsaktes ist - in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 S. 1 FGO).

17

Die Erhebung der Tabaksteuer richtet sich nach dem Tabaksteuergesetz in der Fassung des Vierten Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen vom 15.07.2009 (BGBl. I 2009, 1870; im Folgenden: TabStG), da dieses Gesetz am 01.04.2010 in Kraft getreten ist (Art. 10 Abs. 1 des Gesetzes) und die Tabakwaren, um die es hier geht, danach - nämlich am 28.05.2010 - sichergestellt wurden. Bei Anwendung dieser Vorschriften ist die Tabaksteuer zwar entstanden (dazu 1.). Der Kläger ist jedoch nicht Steuerschuldner (dazu 2.). Eine Umdeutung des Steuer- und Zinsbescheides in einen Haftungsbescheid ist nicht möglich (dazu 3.). Folglich können auch keine Zinsen geltend gemacht werden (dazu 4.).

18

1. Die geltend gemachte Tabaksteuer ist entweder nach § 23 Abs. 1 S. 1 TabStG (Verbringung) oder nach § 21 Abs. 1 TabStG (Einfuhr) entstanden.

19

Nach § 23 Abs. 1 S. 1 TabStG entsteht die Tabaksteuer, wenn Tabakwaren entgegen § 17 Abs. 1 TabStG - d. h. ohne deutsche Steuerzeichen - aus dem steuerrechtlich freien Verkehr eines anderen Mitgliedstaats in das Steuergebiet verbracht oder dorthin versandt werden und erstmals zu gewerblichen Zwecken in Besitz gehalten werden. Der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr steht gemäß Art. 7 Abs. 2 Buchst. d) der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16.12.2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. EU L 9/12; im Folgenden: Systemrichtlinie) die Einfuhr, d. h. der Eingang verbrauchsteuerpflichtiger Waren ins Unionsgebiet außerhalb eines zollrechtlichen Nichterhebungsverfahrens (Art. 4 Nr. 8 Systemrichtlinie), gleich.

20

Nach § 21 Abs. 1 S. 1 TabStG entsteht die Steuer zum Zeitpunkt der Überführung der Tabakwaren in den steuerrechtlich freien Verkehr durch die Einfuhr, es sei denn, die Tabakwaren werden unmittelbar am Ort der Einfuhr in ein Verfahren der Steueraussetzung überführt. Einfuhr ist der Eingang von Tabakwaren aus Drittländern oder Drittgebieten in das Steuergebiet, es sei denn, die Tabakwaren befinden sich beim Eingang in einem zollrechtlichen Nichterhebungsverfahren (§ 19 Abs. 1 Nr. 1 TabStG).

21

Die Voraussetzungen einer der beiden Steuerentstehungstatbestände liegen vor. Die Zigaretten wurden entweder verbracht oder eingeführt (dazu 1.1). Die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen der alternativ in Betracht kommenden § 23 Abs. 1 S. 1 (dazu 1.2) und § 21 Abs. 1 S. 1 TabStG (dazu 1.3) sind jeweils erfüllt.

22

1.1 Auch wenn der genaue Reiseweg der Tabakwaren (dazu siehe unten 2.2) nicht nachweisbar ist, so steht fest, dass die beim Kläger sichergestellten Zigaretten entweder direkt (Einfuhr) oder über einen anderen EU-Mitgliedstaat (Verbringung) ins Steuergebiet transportiert wurden. Dies ergibt sich daraus, dass sie ukrainische Steuerbanderolen tragen und sich daher vor dem Transport in das Steuergebiet in der Ukraine befunden haben müssen.

23

1.2 Falls die Zigaretten über einen anderen EU-Mitgliedstaat ins Steuergebiet gelangt sein sollten, wäre die Tabaksteuer gemäß § 23 Abs. 1 S. 1 TabStG entstanden. Dass die Zigaretten zu gewerblichen Zwecken außerhalb eines Steueraussetzungsverfahrens in das Steuergebiet verbracht wurden, ergibt sich daraus, dass der Kläger diese Zigaretten, da er sie nicht selbst dorthin transportiert hat, angekauft haben muss. Sie müssen daher zu gewerblichen Zwecken angeboten worden sein.

24

1.3 Falls die Zigaretten unmittelbar aus einem Drittland oder -gebiet, also über den Luft- oder Seeweg, in das Steuergebiet gelangt sein sollten, wäre die Steuer gemäß § 21 Abs. 1 S. 1 TabStG entstanden. Sie entsteht dann mit der physischen Ankunft der Ware im Steuergebiet (§ 19 Abs. 1 Nr. 1 TabStG). Dafür, dass die Ware sich beim Eingang in das Steuergebiet in einem zollrechtlichen Nichterhebungsverfahren befunden hat, gibt es keinerlei Anhaltspunkte.

25

2.Der Kläger ist jedoch nicht Steuerschuldner. Für die Steuerschuldnerschaft stellen § 21 Abs. 2 S. 1 TabStG und § 23 Abs. 1 S. 2 TabStG unterschiedliche Voraussetzungen auf. Der Kläger wäre nur dann Steuerschuldner, wenn er alternativ die Voraussetzungen beider Vorschriften erfüllte (vgl. in diesem Sinne bereits FG Hamburg, Urteil vom 15.07.2014, 4 K 183/13, juris; Beschluss vom 09.01.2015, 4 V 138/14, n. v.). Dies ist nicht der Fall. Er erfüllt nicht die in § 21 Abs. 2 S. 1 TabStG genannten Anforderungen an die Person des Steuerschuldners (dazu 2.1). Nach § 23 Abs. 1 S. 2 TabStG kann er nicht Steuerschuldner sein, weil die Verbringung der Zigaretten nicht nachgewiesen ist (dazu 2.2). Seine Steuerschuldnerschaft lässt sich auch nicht auf andere Weise begründen: Der die Einfuhr erfassende § 21 Abs. 2 S. 1 TabStG kann nicht analog auf den Besitzer von Tabakwaren angewandt werden (dazu 2.3). Genauso wenig ist der auf in die Union verbrachte Tabakwaren anwendbare § 23 Abs. 1 S. 2 TabStG einer analogen Anwendung auf die Einfuhr von Tabakwaren zugänglich (dazu 2.4).

26

2.1 Der Kläger ist nicht Steuerschuldner gemäß § 21 Abs. 2 S. 1 TabStG. Dabei kann offenbleiben, ob die Norm anwendbar ist, d. h. die Ware eingeführt wurde. Der Kläger erfüllt nämlich nicht die dort genannten Anforderungen an die Person des Steuerschuldners. Steuerschuldner sind danach nur die Person, die nach den Zollvorschriften verpflichtet ist, die Tabakwaren anzumelden oder in deren Namen die Tabakwaren angemeldet werden (Nr. 1), sowie jede andere Person, die an einer unrechtmäßigen Einfuhr beteiligt ist (Nr. 2). Der Kläger hat die Tabakwaren nicht zur Einfuhr angemeldet. Es ist auch keine Einfuhr bekannt, die in seinem Namen erfolgt wäre. Genauso wenig ist ersichtlich, dass er an der unrechtmäßigen Einfuhr der Waren beteiligt war. Die Zigaretten wurden vielmehr zufällig in dem westlich von C gelegenen Wohnort des Klägers gefunden. Wie genau sie dorthin gelangt sind, ist unbekannt.

27

2.2 Der Kläger ist auch nicht Steuerschuldner gemäß § 23 Abs. 1 S. 2 TabStG. Danach ist Steuerschuldner, wer die Lieferung vornimmt oder die Tabakwaren in Besitz hält und der Empfänger, sobald er Besitz an den Tabakwaren erlangt hat. Dabei kann dahinstehen, ob der Kläger Besitzer oder Empfänger im Sinne dieser Vorschrift ist. Der Beklagte, der insoweit beweisbelastet ist (FG Hamburg, Urt. v. 15.07.2014, 4 K 183/13, juris, Rn. 14), hat nicht nachgewiesen, dass § 23 TabStG auf den vorliegenden Fall anwendbar ist.

28

Wie sich aus der systematischen Stellung der Norm im Abschnitt 4 des Tabaksteuergesetzes, der sich mit der Beförderung und Besteuerung von Tabakwaren des steuerrechtlich freien Verkehrs anderer Mitgliedstaaten befasst und auf den Abschnitt 3 folgt, der die Einfuhr aus Drittländern regelt, ergibt, ist sie nur anwendbar auf Tabakwaren, die über einen anderen Mitgliedstaat ins Steuergebiet gelangt sind, d. h. ins Steuergebiet verbracht wurden. Nach § 96 Abs. 1 S. 1 Halbs. 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es muss also grundsätzlich davon überzeugt sein, dass der entscheidungsrelevante Sachverhalt wahr ist (Seer, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 127. EL, Oktober 2011, § 96 FGO, Rn. 64). Überzeugt ist das Gericht, wenn kein vernünftiger, die Lebensverhältnisse klar überschauender Mensch noch zweifelt (Seer, a.a.O., Rn. 66 m. w. N., auch mit Bezug auf das vom Beklagten angeführte Anastasia-Urteil [BGHZ 53, 245, 256]).

29

An diesem Maßstab gemessen, ist der Senat nicht davon überzeugt, dass die beim Kläger sichergestellten Zigaretten ins Steuergebiet verbracht wurden. Hierfür mag eine gewisse Lebenswahrscheinlichkeit sprechen. Gleichwohl ist es, wenn auch weniger wahrscheinlich, so doch nicht unmöglich, dass die Tabakwaren auf dem Luft- oder Seeweg direkt ins Steuergebiet importiert wurden (so bereits FG Hamburg, Urt. v. 15.07.2014, 4 K 183/13, juris, Rn. 15 f.; siehe auch Beschl. v. 09.01.2015 V 138/14, S. 10 f. BA; Beschl. v. 20.02.2015, 4 V 192/14, S. 13 f.). Eine Stellungnahme der EU-Kommission bestätigt die vielfältigen Transportwege, auf denen geschmuggelte Zigaretten ins Zollgebiet der Union gelangen (Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament, Verstärkung der Bekämpfung des Zigarettenschmuggels und anderer Formen des illegalen Handels mit Tabakerzeugnissen - Eine umfassende EU-Strategie, COM/2013/0324 final v. 06.06.2013, S. 9):

30

"Die Vorgehensweisen der Schmuggler sind sehr verschieden. Waren kommen in Schiffscontainern, in straßentauglichen Fahrzeugen (Lastwagen, Kleinbusse, Pkw), in kleinen Schiffen über das Meer oder über Flüsse, per Eisenbahn oder als Luftfracht oder per Post an."

31

Dass die beim Kläger beschlagnahmten Zigaretten ukrainische Steuermarken tragen, ist ebenfalls kein Beleg dafür, dass sie auf dem Landweg - also über einen anderen EU-Mitgliedstaat - aus der Ukraine ins Steuergebiet verbracht wurden. Zwar wurden an den EU-Ostgrenzen in 2014 mehr als 14,6 Mio. Zigaretten sichergestellt (FRONTEX, Eastern European Borders Annual Risk Analysis 2015, S. 25). Selbst wenn man davon ausgehen sollte, dass ein Lufttransport zu teuer wäre, ist es jedoch keine nur theoretische Möglichkeit, dass die Zigaretten aus der Ukraine über die russischen Ostseehäfen D oder E, sei es mit einer LKW-Fähre oder einem Feeder-Schiff, direkt ins Steuergebiet transportiert wurden. Von diesen Häfen aus gibt es regelmäßige Fährverbindungen nach ..., ... oder ... (...). Daneben können alle deutschen Seehäfen aus Russland von Feeder-Schiffen angesteuert werden. So betreiben beispielsweise die Reedereien ... und ... regelmäßige Containerdienste zwischen D, ... und ... sowie zwischen E und ... (...). Ein solcher Reiseweg ließe sich zwanglos dadurch erklären, dass die Personen, die in der Ukraine mit den sichergestellten Zigaretten gehandelt haben, Kontakte nach Russland pflegen. Das vom Beklagten angeführte hohe Entdeckungsrisiko bei der im Vergleich zu Landgrenzen intensiveren Überwachung in Häfen hält Schmuggler nicht von der illegalen Verbringung über Seehäfen ab. Wie eine Auswertung der Beschlagnahmeorte ergibt, wurde in der EU die weit überwiegende Anzahl von Zigaretten (ca. 1,8 Mrd.) in Seehäfen sichergestellt (siehe die Mitteilung der Kommission, a. a. O., S. 10 [Abb. 2]).

32

Weitere Anhaltspunkte für den konkreten Reiseweg der sichergestellten Zigaretten sind nicht ersichtlich. Es ist nicht aufklärbar, von wem der Kläger die Zigaretten bezogen hat. Es sind keine Kontakte des Klägers nach Polen oder Tschechien bekannt. Sein Heimatort in F liegt auch nicht in der Nähe zur Grenze zu einem dieser EU-Mitgliedstaaten.

33

Für eine Reduzierung des Beweismaßes gibt es keinen Grund. Der Kläger hat keine Beweise vereitelt. Er hat sich lediglich nicht zur Herkunft der Zigaretten geäußert. Zwar kann sich eine Reduzierung des Beweismaßes auch aus der Verletzung von steuerlichen Mitwirkungspflichten ableiten (siehe BFH, Urt. v. 15.02.1989, X R 16/86, juris, Rn. 14; Seer, a. a. O., Rn. 71 m. w. N.). Der Steuerpflichtige ist grundsätzlich gehalten, seine steuerlichen Erklärungspflichten zu erfüllen, ohne Rücksicht darauf, ob er hierdurch eigene Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten aufdeckt (BVerfG, Beschl. v. 13.05.2009, 2 BvL 19/08 juris, Rn. 77). Auf der Grundlage des unstreitigen und erwiesenen Sachverhalts bestehen jedoch keine Erklärungspflichten des Klägers. Die Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung in § 23 Abs. 1 S. 3 TabStG setzt - genau wie die Steuerschuldnerschaft nach Satz 2 dieser Vorschrift - voraus, dass die Tabakwaren verbracht wurden. Die Verletzung der Erklärungspflicht kann daher nicht zur Erleichterung des Beweises für eine Tatsache herangezogen werden, die ihrerseits Voraussetzung für das Bestehen dieser Pflicht ist. Auch das Bestehen einer Erklärungspflicht nach § 21 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 TabStG ist nicht erwiesen, da es keine Anhaltspunkte für das Mitwirken des Klägers an der Einfuhr der Zigaretten gibt (siehe oben 2.1).

34

Aus § 162 AO i. V. m. § 96 Abs. 1 S. 1 Halbs. 2 FGO ergibt sich ebenfalls keine Reduzierung des Beweismaßes. Die hier zu beweisende Tatsache - die Verbringung der Zigaretten - ist keine Bemessungsgrundlage (§ 3 TabStG), so dass § 162 AO nicht anwendbar ist.

35

Es ist auch kein strukturelles Beweisproblem der Zollverwaltung erkennbar, das ein Absehen vom Vollbeweis oder eine Darlegungslast des in Anspruch Genommenen rechtfertigen könnte (zum sachtypischen Beweisnotstand Seer, a. a. O., Rn. 74 m. w. N.). Zum einen gibt es durchaus Fälle, in denen die Umstände des Einzelfalles Hinweise auf den Transportweg der Zigaretten liefern. Zum anderen hat die Zollverwaltung die Möglichkeit, einen Haftungsbescheid zu erlassen, um so die Steuer geltend zu machen; von dieser Möglichkeit macht der Beklagte nunmehr auch in anderen Fällen Gebrauch.

36

Auch der vom Beklagten ins Feld geführte Beschluss des BGH vom 09.06.2011 (1 StR 21/11, juris, Rn. 5 f.) führt zu keiner anderen Einschätzung. Der Senat versteht die Ausführungen des BGH dahin gehend, dass sie sich ausgehend von dem Begriff der Einfuhrabgaben in § 374 Abs. 1 AO und dem danach in strafrechtlicher Hinsicht vorauszusetzenden Einfuhrvorgang mit der Frage der regelmäßig anzunehmenden Einfuhr von Zigaretten bestimmter nichteuropäischer Marken in das EU-Zollgebiet in Abgrenzung zur Herstellung derartiger Zigaretten innerhalb der EU, nicht jedoch mit der Abgrenzung zwischen Einfuhr und Verbringung auseinandersetzen.

37

Sollte der BGH (Rn. 6 des Beschlusses) indes der Auffassung sein, dass allein der Umstand, dass es sich um Zigaretten der Marke "Jin Ling" handele, darauf schließen lasse, dass diese ins Steuergebiet verbracht - und gerade nicht eingeführt - worden sein müssten, würde der Senat dieser Auffassung nicht beitreten. Zwar werden Zigaretten der Marke "Jin Ling" nur in Russland und Moldawien hergestellt und nicht legal in der Union gehandelt (https://de.wikipedia.org/ wiki/Jin_Ling). Der Ort der Herstellung in Russland bzw. Moldawien oder - wie im vorliegenden Fall - die ukrainische Herkunft der Steuerbanderolen lassen- wie oben dargelegt - für sich betrachtet nicht auf einen bestimmten Reiseweg schließen.

38

Auch das dem Beschluss des BGH zugrundeliegende Urteil des LG Bochum vom 15.01.2010 (6 KLs 6 Js 93/08 - 18/09, abrufbar unter www.justiz.nrw.de) veranlasst den Senat nicht zu einer anderen rechtlichen Bewertung. Nach Meinung des LG Bochum sei es "allgemein bekannt" sowie auch von einem Zeugen dargelegt, dass illegale Zigaretten in der Regel aus Ländern der früheren Sowjetunion über Osteuropa ins Bundesgebiet gebracht würden (Rn. 129 des Urteils). In dieser Pauschalität vermag sich der erkennende Senat aus den dargelegten Gründen dieser Einschätzung indes nicht anzuschließen. Die Aussage des LG Bochum ist auch deshalb nicht auf den vorliegenden Fall anwendbar, weil diesem Urteil ein in wesentlichen Punkten anderer Sachverhalt zugrunde lag. Der Angeklagte in jenem Verfahren war nämlich ein Deutsch-Pole, der nach den Feststellungen des Urteils Kontakte zu Personen in Polen hatte, die in großem Umfang mit illegalen Zigaretten handelten (Rn. 29 des Urteils). Bei dieser Sachlage mag es durchaus naheliegen, von einer Verbringung über Polen auszugehen.

39

2.3 Die Steuerschuldnerschaft des Klägers kann nicht im Wege einer analogen Anwendung von § 21 Abs. 2 S. 1 TabStG auf den Besitzer begründet werden. Der Senat hält eine analoge Anwendung zulasten des Steuerbürgers für unzulässig (dazu 2.3.1). Selbst wenn sie nicht von vornherein ausgeschlossen wäre, wären die Voraussetzungen einer Analogie nicht erfüllt (dazu 2.3.2).

40

2.3.1 Da die Anwendung von § 21 Abs. 2 S. 1 TabStG auf den Besitzer von Tabakwaren die Grenzen der zulässigen Wortlautauslegung sprengen würde, könnte sie nur im Wege der Analogie erfolgen. Eine analoge Anwendung einer Norm zulasten des Steuerbürgers hält der Senat jedoch auch dann für unzulässig, wenn es um die praktische Durchsetzung einer EU-Richtlinie geht, die unvollständig in mitgliedstaatliches Recht umgesetzt worden ist (so auch: BFH, Urt. v. 15.02.2012,  XI R 24/09, juris, Rn. 19; EuGH-Vorlage v. 11.12.2013, XI R 38/12, juris, Rn. 81 [Die richtlinienkonforme Auslegung zulasten des Steuerbürgers finde im Wortlaut ihre Grenze]; daran anschließend FG Kassel, Urt. v. 07.04.2014, 6 K 430/10, juris, Rn. 46; siehe auch Urt. v. 08.10.1991,V R 95/89, juris, Rn. 22; Urt. v. 19.05.1993, V R 110/88, juris, Rn. 32 [danach gehe das gegenüber einer EU-Richtlinie günstigere nationale Recht der Richtlinie vor]).

41

2.3.2 Selbst wenn eine analoge Anwendung von § 21 Abs. 2 S. 1 TabStG nicht von vornherein ausgeschlossen wäre, läge keine analogiefähige Regelungslücke vor. Nach der Rechtsprechung des BFH (Urt. v. 21.02. 2013, V R 27/11, juris, Rn. 29; Urt. v. 11.02.2010, V R 38/08, juris, Rn. 21) liegt eine Regelungslücke vor, wenn
"eine Regelung gemessen an ihrem Zweck unvollständig, d. h. ergänzungsbedürftig ist und wenn ihre Ergänzung nicht einer vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widerspricht. Dass eine gesetzliche Regelung nur rechtspolitisch als verbesserungsbedürftig anzusehen ist ("rechtspolitische Fehler"), reicht nicht aus. Ob eine Regelungslücke oder lediglich ein sog. rechtspolitischer Fehler vorliegt, ist unter Heranziehung des Gleichheitsgrundsatzes zu ermitteln, wobei auf die Wertungen und die Entstehungsgeschichte des Gesetzes zurückzugreifen ist. Die Unvollständigkeit muss sich bereits aus der dem Gesetz immanenten Zwecksetzung ergeben und nicht nur aus einer selbständigen kritischen Würdigung des Gesetzes."

42

Nach diesen Grundsätzen ist § 21 Abs. 2 TabStG zwar lückenhaft (dazu 2.3.2.1). Es handelt sich jedoch nicht um eine unbewusste Regelungslücke (dazu 2.3.2.2).

43

2.3.2.1 § 21 TabStG ist gemessen an seinem Zweck unvollständig. Der Zweck des Vierten Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen vom 15.07.2009 ist die Umsetzung der Systemrichtlinie (BR-Drs. 169/09, S. 1). Mit § 21 TabStG "werden die Art. 3 Abs. 1 und 4, Art. 7 und 8 der neuen Systemrichtlinie für die Fälle der Einfuhr umgesetzt" (BR-Drs. 169/09, Seite 143; Hervorhebung durch den Senat). Nach Art. 7 Abs. 2 Buchst. b) der Systemrichtlinie stellt auch der Besitz verbrauchsteuerpflichtiger Waren, wenn keine Verbrauchsteuer erhoben wurde, eine Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr dar. Nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. b) der Systemrichtlinie ist bei einem Besitz im Sinne von Art. 7 Abs. 2 Buchst. b) der Systemrichtlinie "jede Person, die im Besitz der verbrauchsteuerpflichtigen Ware ist, oder jeder andere am Besitz dieser Waren beteiligte Person" Steuerschuldner. Dies verdeutlicht, dass jede Art von Besitz verbrauchsteuerpflichtiger Waren, für die keine Verbrauchsteuern erhoben wurden, zur Entstehung der Steuer führen und jeder Besitzer Steuerschuldner sein soll. Steuerschuldner müsste daher auch in dem Fall, in dem die verbrauchsteuerpflichtige Ware eingeführt wird, jeder Besitzer sein. Insoweit wurde die Systemrichtlinie unvollständig umgesetzt, da auch an anderer Stelle im Tabaksteuergesetz nicht an den unrechtmäßigen Besitz als steuerschuldnerschaftsbegründendes Merkmal angeknüpft wird.

44

2.3.2.2 Eine Ergänzung von § 21 TabStG dahin gehend, dass die Norm auch für den Besitzer gelten soll, widerspräche jedoch der vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände. Nach der Gesetzesbegründung hat sich der Gesetzgeber (BR-Drs. 169/09, S. 143) bewusst dafür entschieden, den in § 21 S. 1 TabStG 1992 in der Fassung von Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes vom 09.12.2006 (BGBl. I 2830) enthaltenen Verweis auf die Zollvorschriften, insbesondere hinsichtlich der Person des Steuerschuldners, aufzugeben. Nach dem seinerzeit in Bezug genommenen Art. 202 Abs. 3, 3. Anstrich ZK ist insbesondere die Person Zollschuldner, die die Ware im Besitz gehabt hat, obwohl sie im Zeitpunkt des Erhalts der Ware hätte wissen müssen, dass diese vorschriftswidrig Zollgebiet verbracht worden war. Damit hat sich der Gesetzgeber bei § 21 Abs. 2 S. 1 TabStG bewusst gegen eine Steuerschuldnerschaft des Besitzers entschieden. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber die verschiedenen Steuerschuldnertatbestände in Art. 8 der Systemrichtlinie übersehen hat. Er hat nämlich in der Gesetzesbegründung ausdrücklich auf diese Norm hingewiesen (BR-Drs. 169/09, S. 143). Würde das Gericht nunmehr im Wege einer analogen Anwendung den rein objektiven, an den bloßen Besitz anknüpfenden Steuerschuldnertatbestand in Art. 8 Abs. 1 Buchst. b) Systemrichtlinie in § 21 Abs. 2 S. 1 TabStG hineinlesen, würde es den ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers konterkarieren, eine an den Besitz anknüpfende Steuerschuldnerschaft - wie sie in Art. 202 Abs. 3, 3. Anstrich ZK vorgesehen ist - abzuschaffen.

45

2.4 Die Steuerschuldnerschaft des Klägers kann auch nicht im Wege einer analogen Anwendung von § 23 Abs. 1 S. 2 TabStG, nach der der Besitzer Schuldner der Tabaksteuer ist, auf die Einfuhr begründet werden. Neben den grundsätzlichen Bedenken gegen eine Analogie zulasten des Steuerbürgers (siehe oben 2.3.1) dürfte schon keine Lücke vorliegen. Mit § 23 TabStG wird nämlich Art. 33 der Systemrichtlinie implementiert (DR-Drucksache 169/09, S. 144). Diese Norm befasst sich ausweislich ihrer Überschrift mit dem "Warenbesitz in einem anderen Mitgliedstaat" und wurde in § 23 TabStG vollständig umgesetzt.

46

Selbst wenn man die Lücke - wie oben (2.3.2.1) - darin sehen will, dass Art. 7 Abs. 2 b) und Art. 8 Abs. 1 b) der Systemrichtlinie unvollständig umgesetzt wurden, stünde der Analogie entgegen, dass ausweislich der Gesetzesbegründung der Zweck von § 23 TabStG gerade darin bestand, Art. 33 der Systemrichtlinie - also nicht die Art. 7 und 8 der Systemrichtlinie - umzusetzen.

47

3. Eine Umdeutung des angefochtenen Steuerbescheids in einen Haftungsbescheid gemäß §§ 71, 191 Abs. 1 AO kommt nicht in Betracht. Steuer- und Haftungsbescheide stellen völlig unterschiedliche Maßnahmen dar, die gänzlich unterschiedlichen Voraussetzungen unterliegen. Selbst wenn man eine solche Umdeutung annehmen wollte, wäre der Bescheid wegen Ermessensausfalls rechtswidrig, weil der Beklagte das ihm gemäß § 191 Abs. 1 AO eröffnete Ermessen nicht ausgeübt hätte (so schon: FG Hamburg, Urt. v. 15.07.2014, 4 K 183/13, juris, Rn. 18; daran anschließend: Beschl. v. 09.01.2015 V 138/14, S. 10 f. BA; Beschl. v. 20.02.2015, 4 V 192/14, S. 14 BA).

48

4. Der Kläger schuldet keine Hinterziehungszinsen nach § 235 AO. Da seine Tabaksteuerschuldnerschaft nach den vorstehenden Ausführungen nicht nachgewiesen ist, sind die Tabaksteuern jedenfalls nicht zu seinem Vorteil hinterzogen worden, so dass er insoweit nicht Zinsschuldner nach § 235 Abs. 1 S. 2 AO ist.

II.

49

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit richtet sich nach §§ 151 Abs. 3, 155 S. 1 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 S. 1 ZPO. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 115 Abs. 2 FGO), sind nicht gegeben.

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) betrieb eine Ballettschule. Sie unterwarf in den Streitjahren 1972 bis 1992 ihre Umsätze dem Regelsteuersatz. Die Umsatzsteuerbescheide wurden bestandskräftig.

2

Auf Antrag der Klägerin erteilte die Bezirksregierung am 30. September 2004 der Klägerin eine Bescheinigung "gemäß § 4 Nr. 21 a bb des Umsatzsteuergesetzes (UStG) vom 24. März 1999", wonach die Ballettschule --je nach Studio mit unterschiedlichem Beginn in der Zeit zwischen 1971 bis 1995-- als Privatschule ordnungsgemäß auf einen Beruf als Ballettlehrer, Balletttänzer oder Musicaldarsteller vorbereite. Auf weiteren Antrag erteilte das Ministerium für Wissenschaft und Kultur am 24. Januar 2008 zudem eine Bescheinigung "nach § 4 Nr. 20 a UStG" (gemeint ist § 4 Nr. 20 Buchst. b des Umsatzsteuergesetzes --UStG--) mit Wirkung ab dem 1. Januar 1973, wonach die Theater- und Schulaufführungen der Ballettschule die gleichen kulturellen Aufgaben wie die in § 4 Nr. 20 Buchst. a UStG bezeichneten "öffentlichen Einrichtungen" erfüllen. Die Klägerin beantragte daraufhin am 14. September 2006 und am 18. Februar 2008 die Änderung der Umsatzsteuerbescheide 1972 bis 1992.

3

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) lehnte die Anträge der Klägerin, die bestandskräftigen Umsatzsteuerbescheide 1972 bis 1992 entsprechend den Bescheinigungen zu ändern und die Umsätze steuerfrei zu belassen, ab.

4

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt (Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 25). Die Umsätze seien nach § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG steuerfrei, weil die Klägerin die Schüler auf den Beruf des Tänzers vorbereite, unabhängig davon, zu welchem Anteil die Schüler tatsächlich später diesen Beruf ergreifen würden. Entsprechendes gelte für die Umsätze mit Theater- und Schulaufführungen, für die die Bescheinigung nach § 4 Nr. 20 Buchst. b UStG erteilt worden sei. Bei den Bescheinigungen handele es sich um Grundlagenbescheide i.S. des § 171 Abs. 10 der Abgabenordnung (AO), die gemäß § 175 AO auch rückwirkend für einen Zeitraum vor dem Ausstellungsdatum erteilt werden könnten. Der Grundsatz von Treu und Glauben führe nicht zu einer zeitlichen Begrenzung der Rückwirkung, denn die langjährige Untätigkeit der Klägerin bei der Beantragung der außersteuerlichen Grundlagenbescheide allein reiche für einen Verstoß gegen Treu und Glauben nicht aus, vielmehr müsse neben dem Zeitablauf ein Umstandsmoment hinzutreten, aus dem das FA schließen könne, dass die Klägerin auf die Steuerbefreiung durch die Beantragung der Bescheinigungen verzichten wolle. Daran fehle es.

5

Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts durch fehlerhafte Auslegung des Rechtsgrundsatzes von Treu und Glauben sowie wegen Nichtbeachtung der Verjährungsvorschriften. Die Geltendmachung der Steuerbefreiung in einem Zeitraum von 12 bis 30 Jahren nach vorangegangener Erklärung steuerpflichtiger Umsätze verstoße gegen den Grundsatz von Treu und Glauben. Die Verwirkung eines Anspruchs als Anwendungsfall des Grundsatzes von Treu und Glauben und des Verbots widersprüchlichen Tuns setze voraus, dass ein Anspruchsberechtigter durch sein Verhalten beim Verpflichteten einen Vertrauenstatbestand dergestalt geschaffen habe, dass nach Ablauf einer gewissen Zeit die Geltendmachung des Anspruchs als illoyale Rechtsausübung empfunden werden müsse.

6

Zwar reiche nach der Rechtsprechung in der Regel ein bloßes Untätigbleiben in der Regel nicht aus und werde zusätzlich zu dem Zeitmoment ein bestimmtes Verhalten des Anspruchsberechtigten gefordert, demzufolge der Verpflichtete bei objektiver Beurteilung darauf habe vertrauen dürfen, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden (Vertrauenstatbestand) und der Berechtigte tatsächlich auf die Nichtgeltendmachung des Anspruchs vertraut und sich hierauf eingerichtet habe (Vertrauensfolge). Ausnahmen seien jedoch möglich. So habe der Bundesfinanzhof (BFH) in Entscheidungen zur Verwirkung der Rechtsbehelfsbefugnis (BFH-Urteil vom 14. Juni 1972 II 149/65, BFHE 106, 134) und zur Klagebefugnis (BFH-Beschluss vom 19. August 1987 IV B 70/86, BFH/NV 1988, 244) allein den Zeitablauf ausreichen lassen und im BFH-Urteil vom 14. September 1978 IV R 89/74 (BFHE 126, 130, BStBl II 1979, 121) ausgeführt, die Voraussetzungen der Verwirkung könnten nicht für alle Fälle von vornherein festgelegt werden.

7

Danach habe das FA spätestens nach Ablauf von zehn Jahren nicht mehr mit der Geltendmachung der Steuerbefreiung rechnen müssen. Die Vorschrift über die Verjährung der Steuerhinterziehung müsse analog angewendet werden. Zudem habe der Gesetzgeber durch das Jahressteuergesetz vom 8. Dezember 2010 --JStG 2010-- (BGBl I 2010, 1768 ff.) eine Verjährungsregelung in § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 3 UStG n.F. mit Wirkung vom 1. Januar 2011 geschaffen, wonach die Festsetzungsfrist für außersteuerrechtliche Grundlagenbescheide der vierjährigen Festsetzungsfrist für Feststellungsbescheide angepasst werde. Die neu geschaffene Verjährungsregelung für § 4 Nr. 20 Buchst. a UStG n.F. müsse analog für die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG für die Jahre 1972 bis 1992 angewendet werden.

8

Für die Veranlagungszeiträume 1972 bis 1976 habe das FG jedenfalls übersehen, dass die Festsetzungsverjährung nach der Reichsabgabenordnung (RAO) bereits eingetreten sei.

9

Das FA beantragt,
das angefochtene Urteil des FG Niedersachsen vom 16. September 2010  16 K 295/09 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

10

Die Klägerin beantragt,
die Revision des FA zurückzuweisen.

11

Das FG-Urteil sei zutreffend. Nach dem Anwendungserlass zur AO vom 12. Januar 2004 (BStBl I 2004, 31) zu § 175 Nr. 1.4 stehe der Anpassung des Folgebescheides an den Grundlagenbescheid nicht entgegen, dass sie, die Klägerin, den für eine Steuerbegünstigung erforderlichen, aber nicht fristgebundenen Antrag erst nach Unanfechtbarkeit des Steuerbescheides gestellt habe. Ob bei einer Bescheinigung nach § 4 Nr. 20 Buchst. a UStG die Rückwirkung gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ausgeschlossen sei, spiele im Streitfall keine Rolle, weil die Regelung erst für Bescheinigungen gelte, die ab dem 28. Oktober 2004 vorgelegt worden seien (Art. 32 Abs. 5 JStG 2010, BGBl I 2010, 1768).

12

Im Streitfall sei eine Bescheinigung bereits am 30. September 2004 vorgelegt worden. Der BFH habe weiter ausgeführt, dass entgegen den Bedenken des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) die Rückwirkung nicht gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstoße. Die gegenteilige Rechtsansicht des XI. Senats des BFH (Urteil vom 15. September 1994 XI R 101/92, BFHE 176, 146, BStBl II 1995, 912), wonach einer Bescheinigung nach § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 2 UStG 1980 keine Rückwirkung vor ihrem Ausstellungsdatum zukomme, sei von der Verwaltung mit einem Nichtanwendungserlass belegt worden (Erlass des Bundesministeriums der Finanzen vom 30. November 1995 IV C 4 -S 7177- 22/95, BStBl I 1995, 827). Eine analoge Anwendung der Neuregelung in § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 3 UStG n.F., wonach die Festsetzungsverjährungsfrist auch für außersteuerrechtliche Grundlagenbescheide entsprechend gelten solle, komme mangels Regelungslücke nicht in Betracht, da der Gesetzgeber die Geltung dieser Neuregelung erst ab dem 1. Januar 2011 angeordnet habe. Zudem habe der Gesetzgeber bewusst von einer Änderung des § 4 Nr. 21 UStG abgesehen, weil die Abschaffung des Bescheinigungsverfahrens beabsichtigt worden sei. Durch das Rechtsinstitut von Treu und Glauben in Form einer Verwirkung durch Zeitablauf dürfe nicht die gesetzgeberische Grundwertung unterlaufen werden, wonach die in § 4 Nr. 20 UStG enthaltene Begrenzung auf vier Jahre erst ab dem 1. Januar 2011 anzuwenden sei. Zudem dürfe eine in Art. 13 Teil A der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) angelegte Steuerbefreiung nicht durch nationales Recht beschränkt werden.

Entscheidungsgründe

13

II. Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

14

Zu Recht geht das FG davon aus, dass die Bescheinigungen nach § 4 Nr. 20 Buchst. a UStG und § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG in der in den Streitjahren 1972 bis 1992 geltenden Fassung Grundlagenbescheide (§ 171 Abs. 10 AO) sind, deren Erlass grundsätzlich zu einer Korrektur nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO berechtigen kann. Entgegen der Auffassung des FG ist die Änderung der bestandskräftigen Umsatzsteuerbescheide für 1972 bis 1992 jedoch rechtswidrig, weil die Bescheinigungen erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist für die Umsatzsteuer der Streitjahre 1972 bis 1992 erteilt worden sind. Denn auch Grundlagenbescheide ressortfremder Behörden, die nicht dem Anwendungsbereich der §§ 179 ff. AO unterliegen, bewirken eine Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 10 AO nur dann, wenn sie vor Ablauf der Festsetzungsfrist für die betreffende Steuer erlassen worden sind.

15

1. Von der Umsatzsteuer befreit sind nach § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG in der Fassung der Streitjahre 1972 bis 1992 u.a. die unmittelbar dem Schul- und Bildungszweck dienenden Leistungen privater Schulen und anderer allgemeinbildender oder berufsbildender Einrichtungen, wenn die zuständige Landesbehörde bescheinigt, dass sie auf einen Beruf oder eine vor einer juristischen Person des öffentlichen Rechts abzulegende Prüfung ordnungsgemäß vorbereiten. Nach § 4 Nr. 20 Buchst. b UStG in der Fassung der Streitjahre sind befreit die Veranstaltung von Theatervorführungen und Konzerten durch andere Unternehmer, wenn die Darbietungen von den unter Buchst. a der Vorschrift bezeichneten Theatern, Orchestern, Kammermusikensembles oder Chören erbracht werden.

16

2. Das FG geht zu Recht davon aus, dass es sich bei den für die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 20 und Nr. 21 UStG erforderlichen Bescheinigungen der zuständigen Behörden um Grundlagenbescheide i.S. des § 171 Abs. 10 AO handelt, die grundsätzlich Grundlage für eine Änderung bestandskräftiger Bescheide nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO sein können (zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat auf sein Urteil vom 20. August 2009 V R 25/08, BFHE 226, 479, BStBl II 2010, 15, Rz 27 f.; ebenso BFH-Urteil vom 19. Oktober 2011 XI R 40/09, BFH/NV 2012, 798).

17

a) Die Wirkung der Bescheinigung bezieht sich grundsätzlich auf den in ihr bezeichneten Gegenstand und Zeitraum, auch wenn letzterer vor der Bekanntgabe der Bescheinigung liegt (BFH-Urteile vom 18. Februar 2010 V R 28/08, BFHE 228, 474, BStBl II 2010, 876; in BFHE 226, 479, BStBl II 2010, 15; vom 24. September 1998 V R 3/98, BFHE 187, 334, BStBl II 1999, 147).

18

b) Der Klägerin wurde am 24. Januar 2008 bescheinigt, dass die Theater- und Schulaufführungen der Ballettschule der Klägerin ab 1. Januar 1973 die gleichen kulturellen Aufgaben erfüllen, wie die in § 4 Nr. 20 Buchst. a UStG genannten öffentlich-rechtlichen Einrichtungen und am 30. September 2004, dass die Ballettkurse in den vier Studios jeweils mit unterschiedlichem Beginn in der Zeit zwischen 1971 bis 1995 i.S. des § 4 Nr. 21 Buchst. b UStG ordnungsgemäß auf verschiedene Berufe vorbereiteten.

19

3. Der Änderung der bestandskräftigen Umsatzsteuerbescheide für Umsatzsteuer 1972 bis 1976 steht jedoch entgegen, dass die Bescheinigungen erst am 24. Januar 2008 bzw. am 30. September 2004 und damit nach Ablauf der nach der RAO zu bestimmenden Festsetzungsfrist für die Umsatzsteuer diesen Streitjahren erteilt worden sind.

20

Nach ständiger Rechtsprechung (z.B. BFH-Urteile vom 21. Juli 1993 X R 113/91, BFH/NV 1994, 221; vom 8. April 1992 X R 164/88, BFH/NV 1992, 717; vom 23. Juni 1993 X R 214/87, BFH/NV 1994, 295; vom 22. Februar 1991 III R 35/87, BFHE 164, 198, BStBl II 1991, 717; vom 18. Mai 1990 VI R 17/88, BFHE 160, 425, BStBl II 1990, 770) richtet sich zwar die Korrekturbefugnis von Steuerbescheiden ab dem 1. Januar 1977 grundsätzlich nach der AO (Art. 97 § 9 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung --EGAO 1977--, BGBl I 1976, 3341, 3382); dagegen bestimmt sich die Verjährung u.a. für die Festsetzung von Steuern wie für die Feststellung von Besteuerungsgrundlagen (Art. 97 § 10 EGAO 1977) nach der RAO. Für eine Berichtigung nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO gelten keine Besonderheiten (BFH-Urteil in BFHE 164, 198, BStBl II 1991, 717).

21

Für die Umsatzsteuer betrug die Verjährungsfrist nach § 144 RAO fünf Jahre. Sie begann nach § 144 RAO spätestens mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf die Entstehung der Steuer folgt und ist für die Streitjahre 1972 bis 1976 offensichtlich bereits seit langem abgelaufen.

22

4. Für die Streitjahre unter Geltung der AO (1977) --1977 bis einschließlich 1992-- ist nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO (bis 31. Dezember 1981: § 175 Satz 1 Nr. 1 AO) ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10 AO), dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird. Nach der Legaldefinition in § 171 Abs. 10 AO sind Grundlagenbescheide die Bescheide, die für die Festsetzung einer Steuer als Feststellungsbescheid, als Steuermessbescheid oder als anderer Verwaltungsakt bindend sind.

23

a) Nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO ist eine Steuerfestsetzung sowie ihre Aufhebung oder Änderung nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Dies gilt auch für § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO. Ob die Festsetzungsverjährung einer Änderung gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO entgegensteht, ist unter Berücksichtigung der Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 10 AO zu bestimmen. Nach der in den Streitjahren geltenden Fassung dieser Vorschrift endete die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf eines Jahres nach Bekanntgabe des für die Steuerfestsetzung bindenden Grundlagenbescheides.

24

b) Entgegen der Auffassung des FG stand der Änderung der Umsatzsteuerbescheide 1977 bis 1992 aufgrund der Bescheinigungen vom 30. September 2004 und vom 24. Januar 2008 nach § 175 Abs. 1 AO entgegen, dass die Festsetzungsfrist für die Umsatzsteuer für 1977 bis 1992 bei Erlass der Grundlagenbescheide der ressortfremden Behörde bereits abgelaufen war. Denn bei Anwendung von § 171 Abs. 10 AO ist danach zu differenzieren, ob es sich bei dem die Ablaufhemmung bewirkenden Grundlagenbescheid um einen Feststellungsbescheid --i.S. der §§ 179 ff. AO einem Grundlagenbescheid einer Finanzbehörde (§ 6 Abs. 2 AO)-- oder um einen anderen Grundlagenbescheid einer aus Sicht der AO ressortfremden Behörde handelt.

25

aa) Die Feststellung der Besteuerungsgrundlagen ist grundsätzlich unselbständiger Teil des Steuerbescheides; eine Durchbrechung des Grundsatzes der Einheit des Steuerfestsetzungsverfahrens (vgl. §§ 155 Abs. 1, 157 Abs. 2 AO) findet nur statt, wenn und soweit dies ausdrücklich gesetzlich bestimmt ist (Beschluss des Großen Senats des BFH vom 11. April 2005 GrS 2/02, BFHE 209, 399, BStBl II 2005, 679, unter C.4.). Insoweit bezwecken die Vorschriften der §§ 179 ff. AO in verfahrens-rechtlich gestufter und abschichtender Weise, die notwendigen Entscheidungen verbindlich vorzugeben, um auf dieser Grundlage die Folgebescheide erlassen zu können (vgl. BFH-Beschluss in BFHE 209, 399, BStBl II 2005, 679, unter C.3.b). Steuerrechtliche Grundlagenbescheide --wie z.B. Feststellungsbescheide-- unterliegen den Regelungen der AO, die im Gegensatz zur RAO für den Erlass von Feststellungsbescheiden eine eigenständige Feststellungsfrist eingeführt hat. So gelten für die gesonderte Feststellung gemäß § 181 Abs. 1 Satz 1 AO die Vorschriften über die Durchführung der Besteuerung und damit auch die Vorschriften über die Festsetzungsverjährung sinngemäß.

26

Nach § 181 Abs. 5 AO kann eine gesonderte Feststellung nach Ablauf der für sie geltenden Feststellungsfrist im Übrigen nur insoweit erfolgen, als die gesonderte Feststellung für eine Steuerfestsetzung von Bedeutung ist, für die die Festsetzungsfrist im Zeitpunkt der gesonderten Feststellung noch nicht abgelaufen ist. Diese Regelung trägt dem Umstand Rechnung, dass Festsetzungsfrist und Feststellungsfrist bei steuerrechtlichen Grundlagenbescheiden auseinanderfallen können, weil auch für die Feststellungsfrist die Ablaufhemmungstatbestände maßgeblich sind.

27

Der AO liegt danach ein Regelungssystem zugrunde, wonach Grundlagenbescheide, soweit eine ausdrückliche von der Festsetzungsfrist des betreffenden Steuerbescheides (Folgebescheides) abweichende Regelung zur Feststellungsfrist für den Grundlagenbescheid fehlt, steuerrechtlich nur zu berücksichtigen sind, wenn sie innerhalb der Festsetzungsfrist für den betreffenden (Folge-)Steuerbescheid erlassen worden sind.

28

bb) Bei Grundlagenbescheiden ressortfremder Behörden ist § 171 Abs. 10 AO lückenhaft und deshalb aufgrund einer teleologischen Reduktion einschränkend dahingehend auszulegen, dass die von dieser Vorschrift angeordnete Ablaufhemmung --wie in den Fällen der Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3, 4 bis 6, 9 und 13 AO-- voraussetzt, dass der Grundlagenbescheid noch vor dem Ablauf der Festsetzungsfrist für die Steuer, für die der Grundlagenbescheid bindend ist, bekanntgegeben wird.

29

(1) Eine Regelungslücke liegt vor, wenn eine Regelung gemessen an ihrem Zweck unvollständig, d.h. ergänzungsbedürftig ist und wenn ihre Ergänzung nicht einer vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widerspricht. Dass eine gesetzliche Regelung nur rechtspolitisch als verbesserungsbedürftig anzusehen ist ("rechtspolitische Fehler"), reicht nicht aus. Ob eine Regelungslücke oder lediglich ein sog. rechtspolitischer Fehler vorliegt, ist unter Heranziehung des Gleichheitsgrundsatzes zu ermitteln, wobei auf die Wertungen und die Entstehungsgeschichte des Gesetzes zurückzugreifen ist. Die Unvollständigkeit muss sich bereits aus der dem Gesetz immanenten Zwecksetzung ergeben und nicht nur aus einer selbständigen kritischen Würdigung des Gesetzes. Auch bei einem eindeutigen Gesetzeswortlaut kann eine Gesetzeslücke vorliegen (BFH-Urteil vom 11. Februar 2010 V R 38/08, BFHE 229, 385, BStBl II 2010, 873, unter II.5.a, m.w.N. zur BFH-Rechtsprechung).

30

Liegt eine sog. Gesetzeslücke vor, ist diese in einer dem Gesetzeszweck, der Entstehungsgeschichte und der Gesetzessystematik entsprechenden Weise zu schließen. Zur Lückenfüllung kommen insbesondere Analogie, teleologische Extension oder Reduktion in Betracht (BFH-Urteil in BFHE 229, 385, BStBl II 2010, 873, unter II.5.a). Dies ist Aufgabe der Fachgerichte (vgl. z.B. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 3. April 1990  1 BvR 1186/89, BVerfGE 82, 6, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1990, 1593, unter C.I.1.).

31

(2) Danach enthält § 171 Abs. 10 AO eine Regelungslücke. Denn nach ihrem Grundgedanken und System dienen die §§ 169 ff. AO dazu, Rechtssicherheit und Rechtsfrieden dadurch herzustellen, dass Steueransprüche nur innerhalb bestimmter Fristen geltend gemacht werden können (vgl. BFH-Urteile vom 31. Januar 1989 VII R 77/86, BFHE 156, 30, BStBl II 1989, 442, unter II.3.b; vom 26. Februar 2008 VIII R 1/07, BFHE 220, 229, BStBl II 2008, 659, unter II.3.a bb; vom 24. Januar 2008 VII R 3/07, BFHE 220, 214, BStBl II 2008, 462, unter II.2.b; vom 12. Mai 2009 VII R 5/08, BFH/NV 2009, 1602, unter 3.; Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, vor §§ 169 ff. AO Rz 5).

32

Dieser auch für die Auslegung des § 171 Abs. 10 AO zu beachtende Normzweck wird für den Fall ressortfremder Grundlagenbescheide nicht verwirklicht, wenn diese wie Feststellungsbescheide der Finanzbehörden i.S. von §§ 179 ff. AO auch bei einer Bekanntgabe nach Ablauf der regulären Festsetzungsfristen des § 169 AO zu einer Ablaufhemmung gemäß § 171 Abs. 10 AO führen würden, ohne dass für den Erlass derartiger Grundlagenbescheide --wie nach § 181 AO-- zeitliche Grenzen bestehen. Eine für ressortfremde Grundlagenbescheide zeitlich unbegrenzte Änderungsmöglichkeit ist nicht lediglich ein rechtspolitischer Fehler. Die Verselbständigung der Feststellung einzelner für die Besteuerung vorgreiflicher Umstände und Beurteilungen rechtlicher Art (Besteuerungsgrundlagen, vgl. BFH-Urteil vom 9. Mai 2000 VIII R 40/99, BFH/NV 2001, 17) aus verfahrensökonomischen Gründen --z.B. mit Rücksicht auf Sachnähe (z.B. BFH-Beschluss vom 15. September 2011 I R 53/10, BFH/NV 2012, 23 zu § 51a des Einkommensteuergesetzes)-- hat unabhängig davon, ob die abgeschichtete Feststellung den Finanzbehörden oder einer ressortfremden Behörde obliegt, lediglich dienende Funktion gegenüber der Steuerfestsetzung (Begründung zu § 162 EGAO 1974, BTDrucks VI/1982, 157; z.B. BFH-Urteile vom 12. Juni 2002 XI R 26/01, BFHE 198, 395, BStBl II 2002, 681; vom 31. Oktober 2000 VIII R 14/00, BFHE 193, 392, BStBl II 2001, 156).

33

(3) Die im Anwendungsbereich des § 171 Abs. 10 AO bei sog. ressortfremden Grundlagenbescheiden bestehende Regelungslücke ist dadurch zu schließen, dass derartige Grundlagenbescheide ebenso wie die in § 171 Abs. 3, 4 bis 6, 9 und 13 AO ausdrücklich geregelten Sachverhalte nur dann eine Ablaufhemmung begründen, wenn die Bekanntgabe dieser Grundlagenbescheide noch vor dem Ablauf der Festsetzungsfrist für die Steuer, für die der Grundlagenbescheid bindend ist, erfolgt. Damit trägt der Senat den vom BVerwG (BVerwG-Urteil vom 11. Oktober 2006  10 C 4/06, NJW 2007, 714) und im Schrifttum (vgl. z.B. Kruse, a.a.O., § 171 AO Rz 93; a.A. Banniza in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 171 AO Rz 206) geäußerten Bedenken gegen eine zeitlich unbegrenzte Ablaufhemmung bei ressortfremden Grundlagenbescheiden Rechnung.

34

(4) Der teleologischen Reduktion des § 171 Abs. 10 AO bei der Bekanntgabe ressortfremder Grundlagenbescheide steht die mit Wirkung ab 1. Januar 2011 in Kraft getretene Neuregelung in § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 3 UStG nicht entgegen. Zwar gilt für die Erteilung der in § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 2 UStG genannten Bescheinigung § 181 Abs. 1 und 5 AO entsprechend. Die erst nach den Streitjahren in Kraft getretene Neuregelung ist jedoch für die Beurteilung, ob nach der in den Streitjahren bis 1992 bestehenden Rechtslage eine Regelungslücke vorlag und ob der Gesetzgeber eine in den Streitjahren bestehende Regelungslücke für spätere Besteuerungszeiträume geschlossen hat, nicht von Bedeutung.

35

c) Entgegen der Auffassung der Klägerin führt diese Auslegung nicht zu einer Beschränkung der unionsrechtlich vorgegebenen Steuerbefreiung. Unionsrechtliche Grundlage der Steuerbefreiungen nach § 4 Nr. 20 (kulturelle Dienstleistungen) und § 4 Nr. 21 UStG (Privatschulen) ist Art. 13 der Richtlinie 77/388/EWG. Unionsrechtliche Ansprüche werden aber nur im Rahmen der jeweils geltenden innerstaatlichen Verfahrensvorschriften gewährleistet (vgl. BFH-Urteil vom 16. September 2010 V R 46/09, juris). Auch der Hinweis der Klägerin auf die sog. "Emmotschen Fristenhemmung" nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 25. Juli 1991 C-208/90, Emmot (Slg. 1991, I-4269, Höchstrichterliche Finanzrecht-sprechung 1993, 137) führt zu keiner anderen Beurteilung. Denn diese setzt voraus, dass die entsprechende Richtlinie nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt worden und die Geltendmachung des Anspruchs unzumutbar erschwert oder versperrt war (BFH-Urteil vom 21. März 1996 XI R 36/95, BFHE 179, 563, BStBl II 1996, 399). Im Streitfall ist jedoch nicht ersichtlich, dass die Klägerin von der Beantragung der Grund-lagenbescheide in nicht verjährter Zeit abgehalten worden ist.

36

Der Senat weicht entgegen der Auffassung der Klägerin in dem nach Schluss der mündlichen Verhandlung eingegangenen Schriftsatz vom 25. Februar 2013 nicht i.S. des § 11 FGO von den BFH-Urteilen vom 13. Dezember 1985 III R 204/81 (BFHE 145, 545, BStBl II 1986, 245) und vom 9. August 1983 VIII R 55/82 (BFHE 139, 341, BStBl II 1984, 86) ab. Eine Anrufung des Großen Senats des BFH ist daher entgegen der Auffassung der Klägerin nicht erforderlich.

37

d) Eine Abweichung liegt nur bei einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage vor (z.B. BFH-Beschluss vom 21. Oktober 1985 GrS 2/84, BFHE 145, 147, BStBl II 1986, 207; BFH-Urteile vom 15. Februar 2012 XI R 24/09, BFHE 236, 267, unter II.4.; vom 17. September 2002 IX R 68/98, BFHE 199, 493, BStBl II 2003, 2, unter II.1.b) und setzt daher einen gleichen oder vergleichbaren Sachverhalt voraus (z.B. BFH-Beschluss vom 5. März 1979 GrS 5/77, BFHE 127, 140, BStBl II 1979, 570; BFH-Urteil vom 9. August 1989 I R 181/85, BFHE 158, 31, BStBl II 1989, 990, unter II.3.c (4)). Liegen den Entscheidungen unterschiedliche Sachverhalte zugrunde, ergeben sich daraus andere rechtliche Wertungen und die Beurteilung anderer Rechtsfragen. Bei Ausführungen, die verallgemeinernd über den entschiedenen Fall hinausgehen, handelt es sich mithin allenfalls um ein obiter dictum, das regelmäßig die Annahme einer Abweichung i.S. des § 11 FGO nicht indiziert (vgl. dazu BFH-Urteile vom 2. September 2008 VIII R 2/07, BFHE 223, 15, BStBl II 2010, 25, unter II.2.e; in BFHE 236, 267, unter II.4.; vom 26. Mai 1993 X R 72/90, BFHE 171, 455, BStBl II 1993, 855; BFH-Beschluss vom 22. Juli 1977 III B 34/74, BFHE 123, 112, BStBl II 1977, 838; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 11 Rz 11, m.w.N.). Eine Anrufung des Großen Senats ist in diesem Falle nicht erforderlich (z.B. BFH-Urteile vom 31. Juli 1990 VII R 60/89, BFHE 162, 1, BStBl II 1990, 1071, und in BFHE 158, 31, BStBl II 1989, 990).

38

e) Weder der III. Senat noch der VIII. Senat des BFH haben über die im Streitfall entscheidungserhebliche Frage der Wirkungen eines nach Eintritt der Festsetzungsfrist erlassenen Grundlagenbescheides entschieden.

39

aa) In dem von der Klägerin in Bezug genommenen Urteil in BFHE 145, 545, BStBl II 1986, 245 hat der III. Senat vielmehr entschieden, dass sich eine zeitliche Beschränkung für die Anwendung von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO aus den Vorschriften der Festsetzungsverjährung ergibt (in BFHE 145, 545, BStBl II 1986, 245, unter II.1.b). Zudem betrifft diese Entscheidung einen bereits vor Erlass des streitigen Steuerbescheides erlassenen Grundlagenbescheid. Im vorliegenden Fall ist demgegenüber über die Wirkungen eines nach Eintritt der Festsetzungsfrist erlassenen Grundlagenbescheides zu entscheiden. Das ist ein anderer Sachverhalt. Soweit der III. Senat ausführt, solange der Folgebescheid einen "--gleichgültig zu welchem Zeitpunkt erlassenen--" Grundlagenbescheid nicht berücksichtige, sei die diesem zugedachte Aufgabe noch nicht erfüllt, handelt es sich nur um ein obiter dictum.

40

bb) Auch eine Abweichung vom BFH-Urteil in BFHE 139, 341, BStBl II 1984, 86 liegt nicht vor. Das Urteil betrifft die Frage, ob ein Steuerbescheid auch dann noch nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO geändert werden kann, wenn der (innerhalb der Festsetzungsfrist des Folgebescheides erlassene) Grundlagenbescheid bereits bei Erlass eines früheren Steuerbescheides hätte berücksichtigt werden können und damit einen anders gelagerten Sachverhalt und eine andere Rechtsfrage betrifft.

41

f) Aus denselben Gründen liegt auch keine Abweichung vom BFH-Urteil vom 14. April 1988 IV R 219/85 (BFHE 153, 285, BStBl II 1988, 711) vor, weil dieses Urteil eine Fallgestaltung betrifft, in der die Festsetzungsverjährung noch nicht eingetreten war. Soweit der IV. Senat darüber hinaus ausgeführt hat, eine zeitliche Beschränkung für die Anwendung des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 ergebe sich lediglich aus den Vorschriften über die Festsetzungsverjährung (§ 169 Abs. 1 Satz 1 AO) und über die Feststellungsverjährung (§ 181 AO) und im "übrigen ist eine Änderung des Folgebescheids nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 nur ausgeschlossen, wenn die Voraussetzungen für eine Verwirkung vorliegen", war dies nicht entscheidungserheblich.

42

g) Ohne Erfolg rügt die Klägerin, der Senat setze sich in Widerspruch zu "Regelungen im Anwendungserlass" zu § 175 Abs. 1 Satz 1 AO und den Umsatzsteuer-Richtlinien zu § 4 Nr. 21 UStG bzw. dem nachfolgenden Umsatzsteueranwendungserlass. Denn hierbei handelt es sich um sog. norminterpretierende Verwaltungsvorschriften, denen keine Rechtsnormqualität zukommt und die die Gerichte nicht binden (vgl. BFH-Beschluss vom 4. Dezember 2008 XI B 250/07, BFH/NV 2009, 394; vom 19. Januar 2010 VIII R 40/06, BFHE 228, 216, BStBl II 2011, 254; vom 26. April 1995 XI R 81/93, BFHE 178, 4, BStBl II 1995, 754).

Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich gegen die Erhebung von Tabaksteuer wegen des Besitzes von unverzollten und im Steuergebiet der Bundesrepublik Deutschland (Steuergebiet) unversteuerten Zigaretten.

2

Im Rahmen einer in anderer Sache am 28.05.2010 durchgeführten polizeilichen Durchsuchung des Hauses, das der Kläger zusammen mit seiner Ehefrau und seinem Sohn bewohnt, wurden ausweislich des Durchsuchungsprotokolls nebst Bildanlage insgesamt 8.520 Stück (39 Stangen à 200 Zigaretten und 36 Schachteln à 20 Zigaretten) unverzollte und im Steuergebiet unversteuerte Zigaretten mit ukrainischen Steuerbanderolen (im Folgenden: Zigaretten) aufgefunden. Im Einzelnen befanden sich im Bettkasten des Schlafzimmers 39 Stangen (18 Stangen der Marke "A" und 21 Stangen der Marke "B") sowie in der Küche 36 Schachteln der Marke "A".

3

Zunächst wurde der Kläger mit Steuer- und Zinsbescheid vom 31.01.2011 (XXX-1) zur Zahlung von Zoll, Tabaksteuer und Einfuhrumsatzsteuer nebst Zinsen in Höhe insgesamt 1.928,53 € herangezogen. Nachdem der Beklagte diesen Bescheid aufgehoben hatte, setzte er neben einem gesonderten Steuer- und Zinsbescheid über Zoll und Einfuhrumsatzsteuer vom 23.02.2011, der Gegenstand des Verfahrens 4 K 109/15 ist, mit einem Steuer- und Zinsbescheid vom selben Tag (XXX-2) Tabaksteuer nebst Zinsen in Höhe von 1.249,26 € fest. Für die 4.320 Zigaretten der Marke "A" wurde eine Mindeststeuer von 14,02 ct/Stk. (605,66 €) und für die 4.200 Zigaretten der Marke "B" eine Mindeststeuer von 13.81 ct/Stk. (592,60 €), also insgesamt 1.198,26 €, festgesetzt. Hinzu kämen Zinsen in Höhe von 51,- €. Der Kläger sei Steuerschuldner, weil er im Steuergebiet die tatsächliche Sachherrschaft über die Zigaretten und damit den Besitz erlangt habe.

4

Mit Schreiben vom 17.03.2011 legte der Kläger Einspruch gegen den Steuer- und Zinsbescheid über Tabaksteuer vom 23.02.2011 ein, den er wie folgt begründete: Er habe nicht gewusst, dass sich in seinem Haus unverzollte und unversteuerte Tabakwaren befunden hätten. Er könne auch keine Angaben dazu machen, wie diese Waren in seinen Haushalt gelangt seien. Es sei möglich, dass seine Ehefrau, die selbst starke Raucherin sei, die Tabakwaren von Dritten erhalten habe, wobei nicht unterstellt werden könne, dass ihr hätte bekannt sein müssen, dass es sich um unverzollte und unversteuerte Zigaretten gehandelt habe. Genauso könne sein Sohn die Zigaretten in seinem Wohnhaus deponiert haben. Auch weitere Familienangehörige und Freunde der Familie würden im Haus ein- und ausgehen.

5

§ 23 Abs. 1 S. 2 TabStG verlange, dass die Ware zu gewerblichen Zwecken im Besitz gehalten werde. Wer Tabakwaren ausschließlich zum Eigenbedarf besitze, sei kein Steuerschuldner. Auch wenn die gefundene Menge über die übliche, für den Eigenbedarf angeschaffte Menge hinausgehe, sei zu berücksichtigen, dass es sich bei ihm sowie seiner Familie und seinen Freunden um dem Nikotin verfallene Süchtige handele.

6

Als mittelloser Empfänger von Leistungen nach dem SGB II würde er - der Kläger - nicht danach fragen, wo die Zigaretten herkämen, die ihm angeboten würden. Er bestreite, überhaupt in der Lage zu sein, den Unterschied zwischen einer deutschen und einer ukrainischen Steuerbanderole zu erkennen. Er - der Kläger - stehe auch nicht seiner Ehefrau bei der Hausarbeit zur Verfügung. Er gehe vielmehr seinen Hobbys nach. Er habe daher auch nicht durch Zufall von den Tabakwaren, die sich verborgen im Schlafzimmer und in der Küche befunden hätten, Kenntnis erhalten.

7

Mit Einspruchsentscheidung vom 25.07.2012 (XXX-3) - zugestellt am 31.07.2012 - wies der Beklagte den Einspruch zurück. Die Zigaretten seien auf bislang unbekanntem Weg aus einem Drittland in die EU geschmuggelt und anschließend zu gewerblichen Zwecken in das Steuergebiet verbracht worden. Da dies unversteuert erfolgt sei, sei die Tabaksteuer nach § 23 TabStG entstanden. Nach hiesigen Erfahrungen sei es sicher, dass die Zigaretten mit der Absicht des Weiterverkaufs ins Steuergebiet verbracht worden seien. Der Kläger sei als Besitzer Tabaksteuerschuldner gemäß § 23 S. 2 TabStG geworden. Die unversteuerten Zigaretten hätten sich bis zu ihrer Sicherstellung in seiner Wohnung und damit in seinem Herrschaftsbereich befunden, so dass er zumindest einen generellen Besitzwillen an ihnen gehabt habe. Eine Beteiligung an der Verbringung sei nicht nötig. Nicht erforderlich sei, dass der Besitz auch zu gewerblichen Zwecken erfolgt sei. Fundort und Menge der vorgefundenen Zigaretten schlössen es aus, dass die Zigaretten ohne Wissen des Klägers in seiner Wohnung platziert worden seien. Seine Ehefrau könne nicht Alleinbesitzerin der Zigaretten gewesen sein, da die Zigaretten im direkten räumlichen Zusammenhang zu anderen persönlichen Gegenständen, die ihm zuzuordnen seien, insbesondere Armbrust, Rohrbombe und Revolver, gefunden worden seien. Es sei eine Schutzbehauptung, dass er nicht in der Lage sei, ukrainische von deutschen Steuerzeichen zu unterscheiden.

8

Der Kläger sei auch Zinsschuldner, weil hinterzogene Steuern nach § 235 AO vom Eintritt der Steuerverkürzung an zu verzinsen seien.

9

Am 30.08.2012 hat der Kläger Klage erhoben. Er verweist auf seinen vorgerichtlichen Vortrag. Es sei vorrangig zu klären, ob ihm die Zigaretten überhaupt zugeordnet werden könnten.

10

Der Kläger beantragt,
den Steuer- und Zinsbescheid über Tabaksteuer (XXX-2) vom 23.02.2011 und die Einspruchsentscheidung vom 25.07.2012 (XXX-3) aufzuheben.

11

Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

12

Das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 11.11.2014 (VII R 44/11), wegen dessen das Verfahren zum Ruhen gebracht worden sei, sei unmittelbar nicht anwendbar, da es sich auf § 19 TabStG in der bis zum 31.03.2010 geltenden Fassung beziehe. Allerdings bestärke die Entscheidung die hiesige Auffassung, dass auch im neuen Tabaksteuergesetz grundsätzlich jeder Besitzer von unversteuerter Tabakware Tabaksteuerschuldner sei. Es gebe auch keine Divergenz zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH), da sich das Urteil des BFH lediglich auf die tabaksteuerrechtlichen, nicht jedoch auf die strafrechtlichen Folgen des Zigarettenschmuggels beziehe.

13

Es sei hinreichend belegt, dass die Zigaretten auf dem Landweg über die östlichen EU-Mitgliedstaaten ins Steuergebiet verbracht worden seien. Daher sei der Kläger Steuerschuldner gemäß § 23 TabStG. Ein solcher Transportweg entspreche nicht nur hiesigen Erfahrungen in einer Vielzahl vergleichbarer Fälle. Er sei auch in der Rechtsprechung des BGH (Beschl. v. 09.06.2011,1 StR 21/11, juris, Rn. 6) als übliche Route des Zigarettenschmuggels anerkannt. Ein Transport auf dem See- oder Luftweg sei entweder zu teuer oder wegen des außerordentlich hohen Entdeckungsrisikos unwahrscheinlich. Daher sei "mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit" bewiesen, dass die Zigaretten über einen anderen EU-Mitgliedstaat eingeführt worden seien.

14

Der Kläger sei auch Steuerschuldner im Sinne von § 21 TabStG. Zwar erfasse der Wortlaut dieser Vorschrift den Besitz nicht ausdrücklich. Nach der EU-Verbrauchsteuersystemrichtlinie und der Rechtsprechung des BFH müsse jedoch jeder Besitzer Steuerschuldner sein. § 21 TabStG sei daher entsprechend auszulegen.

15

Bei der Entscheidung haben eine Steuerstrafakte des Beklagten (...), ein Auszug aus der Akte der Staatsanwaltschaft C ..., die Strafakte der Staatsanwaltschaft Magdeburg C ... sowie zwei Einspruchshefte vorgelegen.

Entscheidungsgründe

16

I. Die zulässige Anfechtungsklage gegen den Steuer- und Zinsbescheid über Tabaksteuer vom 23.02.2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 25.07.2012 (XXX-3) ist begründet. Der Verwaltungsakt ist rechtswidrig und verletzt den Kläger - da er Adressat dieses belastenden Verwaltungsaktes ist - in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 S. 1 FGO).

17

Die Erhebung der Tabaksteuer richtet sich nach dem Tabaksteuergesetz in der Fassung des Vierten Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen vom 15.07.2009 (BGBl. I 2009, 1870; im Folgenden: TabStG), da dieses Gesetz am 01.04.2010 in Kraft getreten ist (Art. 10 Abs. 1 des Gesetzes) und die Tabakwaren, um die es hier geht, danach - nämlich am 28.05.2010 - sichergestellt wurden. Bei Anwendung dieser Vorschriften ist die Tabaksteuer zwar entstanden (dazu 1.). Der Kläger ist jedoch nicht Steuerschuldner (dazu 2.). Eine Umdeutung des Steuer- und Zinsbescheides in einen Haftungsbescheid ist nicht möglich (dazu 3.). Folglich können auch keine Zinsen geltend gemacht werden (dazu 4.).

18

1. Die geltend gemachte Tabaksteuer ist entweder nach § 23 Abs. 1 S. 1 TabStG (Verbringung) oder nach § 21 Abs. 1 TabStG (Einfuhr) entstanden.

19

Nach § 23 Abs. 1 S. 1 TabStG entsteht die Tabaksteuer, wenn Tabakwaren entgegen § 17 Abs. 1 TabStG - d. h. ohne deutsche Steuerzeichen - aus dem steuerrechtlich freien Verkehr eines anderen Mitgliedstaats in das Steuergebiet verbracht oder dorthin versandt werden und erstmals zu gewerblichen Zwecken in Besitz gehalten werden. Der Überführung in den steuerrechtlich freien Verkehr steht gemäß Art. 7 Abs. 2 Buchst. d) der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16.12.2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. EU L 9/12; im Folgenden: Systemrichtlinie) die Einfuhr, d. h. der Eingang verbrauchsteuerpflichtiger Waren ins Unionsgebiet außerhalb eines zollrechtlichen Nichterhebungsverfahrens (Art. 4 Nr. 8 Systemrichtlinie), gleich.

20

Nach § 21 Abs. 1 S. 1 TabStG entsteht die Steuer zum Zeitpunkt der Überführung der Tabakwaren in den steuerrechtlich freien Verkehr durch die Einfuhr, es sei denn, die Tabakwaren werden unmittelbar am Ort der Einfuhr in ein Verfahren der Steueraussetzung überführt. Einfuhr ist der Eingang von Tabakwaren aus Drittländern oder Drittgebieten in das Steuergebiet, es sei denn, die Tabakwaren befinden sich beim Eingang in einem zollrechtlichen Nichterhebungsverfahren (§ 19 Abs. 1 Nr. 1 TabStG).

21

Die Voraussetzungen einer der beiden Steuerentstehungstatbestände liegen vor. Die Zigaretten wurden entweder verbracht oder eingeführt (dazu 1.1). Die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen der alternativ in Betracht kommenden § 23 Abs. 1 S. 1 (dazu 1.2) und § 21 Abs. 1 S. 1 TabStG (dazu 1.3) sind jeweils erfüllt.

22

1.1 Auch wenn der genaue Reiseweg der Tabakwaren (dazu siehe unten 2.2) nicht nachweisbar ist, so steht fest, dass die beim Kläger sichergestellten Zigaretten entweder direkt (Einfuhr) oder über einen anderen EU-Mitgliedstaat (Verbringung) ins Steuergebiet transportiert wurden. Dies ergibt sich daraus, dass sie ukrainische Steuerbanderolen tragen und sich daher vor dem Transport in das Steuergebiet in der Ukraine befunden haben müssen.

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1.2 Falls die Zigaretten über einen anderen EU-Mitgliedstaat ins Steuergebiet gelangt sein sollten, wäre die Tabaksteuer gemäß § 23 Abs. 1 S. 1 TabStG entstanden. Dass die Zigaretten zu gewerblichen Zwecken außerhalb eines Steueraussetzungsverfahrens in das Steuergebiet verbracht wurden, ergibt sich daraus, dass der Kläger diese Zigaretten, da er sie nicht selbst dorthin transportiert hat, angekauft haben muss. Sie müssen daher zu gewerblichen Zwecken angeboten worden sein.

24

1.3 Falls die Zigaretten unmittelbar aus einem Drittland oder -gebiet, also über den Luft- oder Seeweg, in das Steuergebiet gelangt sein sollten, wäre die Steuer gemäß § 21 Abs. 1 S. 1 TabStG entstanden. Sie entsteht dann mit der physischen Ankunft der Ware im Steuergebiet (§ 19 Abs. 1 Nr. 1 TabStG). Dafür, dass die Ware sich beim Eingang in das Steuergebiet in einem zollrechtlichen Nichterhebungsverfahren befunden hat, gibt es keinerlei Anhaltspunkte.

25

2.Der Kläger ist jedoch nicht Steuerschuldner. Für die Steuerschuldnerschaft stellen § 21 Abs. 2 S. 1 TabStG und § 23 Abs. 1 S. 2 TabStG unterschiedliche Voraussetzungen auf. Der Kläger wäre nur dann Steuerschuldner, wenn er alternativ die Voraussetzungen beider Vorschriften erfüllte (vgl. in diesem Sinne bereits FG Hamburg, Urteil vom 15.07.2014, 4 K 183/13, juris; Beschluss vom 09.01.2015, 4 V 138/14, n. v.). Dies ist nicht der Fall. Er erfüllt nicht die in § 21 Abs. 2 S. 1 TabStG genannten Anforderungen an die Person des Steuerschuldners (dazu 2.1). Nach § 23 Abs. 1 S. 2 TabStG kann er nicht Steuerschuldner sein, weil die Verbringung der Zigaretten nicht nachgewiesen ist (dazu 2.2). Seine Steuerschuldnerschaft lässt sich auch nicht auf andere Weise begründen: Der die Einfuhr erfassende § 21 Abs. 2 S. 1 TabStG kann nicht analog auf den Besitzer von Tabakwaren angewandt werden (dazu 2.3). Genauso wenig ist der auf in die Union verbrachte Tabakwaren anwendbare § 23 Abs. 1 S. 2 TabStG einer analogen Anwendung auf die Einfuhr von Tabakwaren zugänglich (dazu 2.4).

26

2.1 Der Kläger ist nicht Steuerschuldner gemäß § 21 Abs. 2 S. 1 TabStG. Dabei kann offenbleiben, ob die Norm anwendbar ist, d. h. die Ware eingeführt wurde. Der Kläger erfüllt nämlich nicht die dort genannten Anforderungen an die Person des Steuerschuldners. Steuerschuldner sind danach nur die Person, die nach den Zollvorschriften verpflichtet ist, die Tabakwaren anzumelden oder in deren Namen die Tabakwaren angemeldet werden (Nr. 1), sowie jede andere Person, die an einer unrechtmäßigen Einfuhr beteiligt ist (Nr. 2). Der Kläger hat die Tabakwaren nicht zur Einfuhr angemeldet. Es ist auch keine Einfuhr bekannt, die in seinem Namen erfolgt wäre. Genauso wenig ist ersichtlich, dass er an der unrechtmäßigen Einfuhr der Waren beteiligt war. Die Zigaretten wurden vielmehr zufällig in dem westlich von C gelegenen Wohnort des Klägers gefunden. Wie genau sie dorthin gelangt sind, ist unbekannt.

27

2.2 Der Kläger ist auch nicht Steuerschuldner gemäß § 23 Abs. 1 S. 2 TabStG. Danach ist Steuerschuldner, wer die Lieferung vornimmt oder die Tabakwaren in Besitz hält und der Empfänger, sobald er Besitz an den Tabakwaren erlangt hat. Dabei kann dahinstehen, ob der Kläger Besitzer oder Empfänger im Sinne dieser Vorschrift ist. Der Beklagte, der insoweit beweisbelastet ist (FG Hamburg, Urt. v. 15.07.2014, 4 K 183/13, juris, Rn. 14), hat nicht nachgewiesen, dass § 23 TabStG auf den vorliegenden Fall anwendbar ist.

28

Wie sich aus der systematischen Stellung der Norm im Abschnitt 4 des Tabaksteuergesetzes, der sich mit der Beförderung und Besteuerung von Tabakwaren des steuerrechtlich freien Verkehrs anderer Mitgliedstaaten befasst und auf den Abschnitt 3 folgt, der die Einfuhr aus Drittländern regelt, ergibt, ist sie nur anwendbar auf Tabakwaren, die über einen anderen Mitgliedstaat ins Steuergebiet gelangt sind, d. h. ins Steuergebiet verbracht wurden. Nach § 96 Abs. 1 S. 1 Halbs. 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es muss also grundsätzlich davon überzeugt sein, dass der entscheidungsrelevante Sachverhalt wahr ist (Seer, in: Tipke/Kruse, AO/FGO, 127. EL, Oktober 2011, § 96 FGO, Rn. 64). Überzeugt ist das Gericht, wenn kein vernünftiger, die Lebensverhältnisse klar überschauender Mensch noch zweifelt (Seer, a.a.O., Rn. 66 m. w. N., auch mit Bezug auf das vom Beklagten angeführte Anastasia-Urteil [BGHZ 53, 245, 256]).

29

An diesem Maßstab gemessen, ist der Senat nicht davon überzeugt, dass die beim Kläger sichergestellten Zigaretten ins Steuergebiet verbracht wurden. Hierfür mag eine gewisse Lebenswahrscheinlichkeit sprechen. Gleichwohl ist es, wenn auch weniger wahrscheinlich, so doch nicht unmöglich, dass die Tabakwaren auf dem Luft- oder Seeweg direkt ins Steuergebiet importiert wurden (so bereits FG Hamburg, Urt. v. 15.07.2014, 4 K 183/13, juris, Rn. 15 f.; siehe auch Beschl. v. 09.01.2015 V 138/14, S. 10 f. BA; Beschl. v. 20.02.2015, 4 V 192/14, S. 13 f.). Eine Stellungnahme der EU-Kommission bestätigt die vielfältigen Transportwege, auf denen geschmuggelte Zigaretten ins Zollgebiet der Union gelangen (Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament, Verstärkung der Bekämpfung des Zigarettenschmuggels und anderer Formen des illegalen Handels mit Tabakerzeugnissen - Eine umfassende EU-Strategie, COM/2013/0324 final v. 06.06.2013, S. 9):

30

"Die Vorgehensweisen der Schmuggler sind sehr verschieden. Waren kommen in Schiffscontainern, in straßentauglichen Fahrzeugen (Lastwagen, Kleinbusse, Pkw), in kleinen Schiffen über das Meer oder über Flüsse, per Eisenbahn oder als Luftfracht oder per Post an."

31

Dass die beim Kläger beschlagnahmten Zigaretten ukrainische Steuermarken tragen, ist ebenfalls kein Beleg dafür, dass sie auf dem Landweg - also über einen anderen EU-Mitgliedstaat - aus der Ukraine ins Steuergebiet verbracht wurden. Zwar wurden an den EU-Ostgrenzen in 2014 mehr als 14,6 Mio. Zigaretten sichergestellt (FRONTEX, Eastern European Borders Annual Risk Analysis 2015, S. 25). Selbst wenn man davon ausgehen sollte, dass ein Lufttransport zu teuer wäre, ist es jedoch keine nur theoretische Möglichkeit, dass die Zigaretten aus der Ukraine über die russischen Ostseehäfen D oder E, sei es mit einer LKW-Fähre oder einem Feeder-Schiff, direkt ins Steuergebiet transportiert wurden. Von diesen Häfen aus gibt es regelmäßige Fährverbindungen nach ..., ... oder ... (...). Daneben können alle deutschen Seehäfen aus Russland von Feeder-Schiffen angesteuert werden. So betreiben beispielsweise die Reedereien ... und ... regelmäßige Containerdienste zwischen D, ... und ... sowie zwischen E und ... (...). Ein solcher Reiseweg ließe sich zwanglos dadurch erklären, dass die Personen, die in der Ukraine mit den sichergestellten Zigaretten gehandelt haben, Kontakte nach Russland pflegen. Das vom Beklagten angeführte hohe Entdeckungsrisiko bei der im Vergleich zu Landgrenzen intensiveren Überwachung in Häfen hält Schmuggler nicht von der illegalen Verbringung über Seehäfen ab. Wie eine Auswertung der Beschlagnahmeorte ergibt, wurde in der EU die weit überwiegende Anzahl von Zigaretten (ca. 1,8 Mrd.) in Seehäfen sichergestellt (siehe die Mitteilung der Kommission, a. a. O., S. 10 [Abb. 2]).

32

Weitere Anhaltspunkte für den konkreten Reiseweg der sichergestellten Zigaretten sind nicht ersichtlich. Es ist nicht aufklärbar, von wem der Kläger die Zigaretten bezogen hat. Es sind keine Kontakte des Klägers nach Polen oder Tschechien bekannt. Sein Heimatort in F liegt auch nicht in der Nähe zur Grenze zu einem dieser EU-Mitgliedstaaten.

33

Für eine Reduzierung des Beweismaßes gibt es keinen Grund. Der Kläger hat keine Beweise vereitelt. Er hat sich lediglich nicht zur Herkunft der Zigaretten geäußert. Zwar kann sich eine Reduzierung des Beweismaßes auch aus der Verletzung von steuerlichen Mitwirkungspflichten ableiten (siehe BFH, Urt. v. 15.02.1989, X R 16/86, juris, Rn. 14; Seer, a. a. O., Rn. 71 m. w. N.). Der Steuerpflichtige ist grundsätzlich gehalten, seine steuerlichen Erklärungspflichten zu erfüllen, ohne Rücksicht darauf, ob er hierdurch eigene Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten aufdeckt (BVerfG, Beschl. v. 13.05.2009, 2 BvL 19/08 juris, Rn. 77). Auf der Grundlage des unstreitigen und erwiesenen Sachverhalts bestehen jedoch keine Erklärungspflichten des Klägers. Die Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung in § 23 Abs. 1 S. 3 TabStG setzt - genau wie die Steuerschuldnerschaft nach Satz 2 dieser Vorschrift - voraus, dass die Tabakwaren verbracht wurden. Die Verletzung der Erklärungspflicht kann daher nicht zur Erleichterung des Beweises für eine Tatsache herangezogen werden, die ihrerseits Voraussetzung für das Bestehen dieser Pflicht ist. Auch das Bestehen einer Erklärungspflicht nach § 21 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 TabStG ist nicht erwiesen, da es keine Anhaltspunkte für das Mitwirken des Klägers an der Einfuhr der Zigaretten gibt (siehe oben 2.1).

34

Aus § 162 AO i. V. m. § 96 Abs. 1 S. 1 Halbs. 2 FGO ergibt sich ebenfalls keine Reduzierung des Beweismaßes. Die hier zu beweisende Tatsache - die Verbringung der Zigaretten - ist keine Bemessungsgrundlage (§ 3 TabStG), so dass § 162 AO nicht anwendbar ist.

35

Es ist auch kein strukturelles Beweisproblem der Zollverwaltung erkennbar, das ein Absehen vom Vollbeweis oder eine Darlegungslast des in Anspruch Genommenen rechtfertigen könnte (zum sachtypischen Beweisnotstand Seer, a. a. O., Rn. 74 m. w. N.). Zum einen gibt es durchaus Fälle, in denen die Umstände des Einzelfalles Hinweise auf den Transportweg der Zigaretten liefern. Zum anderen hat die Zollverwaltung die Möglichkeit, einen Haftungsbescheid zu erlassen, um so die Steuer geltend zu machen; von dieser Möglichkeit macht der Beklagte nunmehr auch in anderen Fällen Gebrauch.

36

Auch der vom Beklagten ins Feld geführte Beschluss des BGH vom 09.06.2011 (1 StR 21/11, juris, Rn. 5 f.) führt zu keiner anderen Einschätzung. Der Senat versteht die Ausführungen des BGH dahin gehend, dass sie sich ausgehend von dem Begriff der Einfuhrabgaben in § 374 Abs. 1 AO und dem danach in strafrechtlicher Hinsicht vorauszusetzenden Einfuhrvorgang mit der Frage der regelmäßig anzunehmenden Einfuhr von Zigaretten bestimmter nichteuropäischer Marken in das EU-Zollgebiet in Abgrenzung zur Herstellung derartiger Zigaretten innerhalb der EU, nicht jedoch mit der Abgrenzung zwischen Einfuhr und Verbringung auseinandersetzen.

37

Sollte der BGH (Rn. 6 des Beschlusses) indes der Auffassung sein, dass allein der Umstand, dass es sich um Zigaretten der Marke "Jin Ling" handele, darauf schließen lasse, dass diese ins Steuergebiet verbracht - und gerade nicht eingeführt - worden sein müssten, würde der Senat dieser Auffassung nicht beitreten. Zwar werden Zigaretten der Marke "Jin Ling" nur in Russland und Moldawien hergestellt und nicht legal in der Union gehandelt (https://de.wikipedia.org/ wiki/Jin_Ling). Der Ort der Herstellung in Russland bzw. Moldawien oder - wie im vorliegenden Fall - die ukrainische Herkunft der Steuerbanderolen lassen- wie oben dargelegt - für sich betrachtet nicht auf einen bestimmten Reiseweg schließen.

38

Auch das dem Beschluss des BGH zugrundeliegende Urteil des LG Bochum vom 15.01.2010 (6 KLs 6 Js 93/08 - 18/09, abrufbar unter www.justiz.nrw.de) veranlasst den Senat nicht zu einer anderen rechtlichen Bewertung. Nach Meinung des LG Bochum sei es "allgemein bekannt" sowie auch von einem Zeugen dargelegt, dass illegale Zigaretten in der Regel aus Ländern der früheren Sowjetunion über Osteuropa ins Bundesgebiet gebracht würden (Rn. 129 des Urteils). In dieser Pauschalität vermag sich der erkennende Senat aus den dargelegten Gründen dieser Einschätzung indes nicht anzuschließen. Die Aussage des LG Bochum ist auch deshalb nicht auf den vorliegenden Fall anwendbar, weil diesem Urteil ein in wesentlichen Punkten anderer Sachverhalt zugrunde lag. Der Angeklagte in jenem Verfahren war nämlich ein Deutsch-Pole, der nach den Feststellungen des Urteils Kontakte zu Personen in Polen hatte, die in großem Umfang mit illegalen Zigaretten handelten (Rn. 29 des Urteils). Bei dieser Sachlage mag es durchaus naheliegen, von einer Verbringung über Polen auszugehen.

39

2.3 Die Steuerschuldnerschaft des Klägers kann nicht im Wege einer analogen Anwendung von § 21 Abs. 2 S. 1 TabStG auf den Besitzer begründet werden. Der Senat hält eine analoge Anwendung zulasten des Steuerbürgers für unzulässig (dazu 2.3.1). Selbst wenn sie nicht von vornherein ausgeschlossen wäre, wären die Voraussetzungen einer Analogie nicht erfüllt (dazu 2.3.2).

40

2.3.1 Da die Anwendung von § 21 Abs. 2 S. 1 TabStG auf den Besitzer von Tabakwaren die Grenzen der zulässigen Wortlautauslegung sprengen würde, könnte sie nur im Wege der Analogie erfolgen. Eine analoge Anwendung einer Norm zulasten des Steuerbürgers hält der Senat jedoch auch dann für unzulässig, wenn es um die praktische Durchsetzung einer EU-Richtlinie geht, die unvollständig in mitgliedstaatliches Recht umgesetzt worden ist (so auch: BFH, Urt. v. 15.02.2012,  XI R 24/09, juris, Rn. 19; EuGH-Vorlage v. 11.12.2013, XI R 38/12, juris, Rn. 81 [Die richtlinienkonforme Auslegung zulasten des Steuerbürgers finde im Wortlaut ihre Grenze]; daran anschließend FG Kassel, Urt. v. 07.04.2014, 6 K 430/10, juris, Rn. 46; siehe auch Urt. v. 08.10.1991,V R 95/89, juris, Rn. 22; Urt. v. 19.05.1993, V R 110/88, juris, Rn. 32 [danach gehe das gegenüber einer EU-Richtlinie günstigere nationale Recht der Richtlinie vor]).

41

2.3.2 Selbst wenn eine analoge Anwendung von § 21 Abs. 2 S. 1 TabStG nicht von vornherein ausgeschlossen wäre, läge keine analogiefähige Regelungslücke vor. Nach der Rechtsprechung des BFH (Urt. v. 21.02. 2013, V R 27/11, juris, Rn. 29; Urt. v. 11.02.2010, V R 38/08, juris, Rn. 21) liegt eine Regelungslücke vor, wenn
"eine Regelung gemessen an ihrem Zweck unvollständig, d. h. ergänzungsbedürftig ist und wenn ihre Ergänzung nicht einer vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widerspricht. Dass eine gesetzliche Regelung nur rechtspolitisch als verbesserungsbedürftig anzusehen ist ("rechtspolitische Fehler"), reicht nicht aus. Ob eine Regelungslücke oder lediglich ein sog. rechtspolitischer Fehler vorliegt, ist unter Heranziehung des Gleichheitsgrundsatzes zu ermitteln, wobei auf die Wertungen und die Entstehungsgeschichte des Gesetzes zurückzugreifen ist. Die Unvollständigkeit muss sich bereits aus der dem Gesetz immanenten Zwecksetzung ergeben und nicht nur aus einer selbständigen kritischen Würdigung des Gesetzes."

42

Nach diesen Grundsätzen ist § 21 Abs. 2 TabStG zwar lückenhaft (dazu 2.3.2.1). Es handelt sich jedoch nicht um eine unbewusste Regelungslücke (dazu 2.3.2.2).

43

2.3.2.1 § 21 TabStG ist gemessen an seinem Zweck unvollständig. Der Zweck des Vierten Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuergesetzen vom 15.07.2009 ist die Umsetzung der Systemrichtlinie (BR-Drs. 169/09, S. 1). Mit § 21 TabStG "werden die Art. 3 Abs. 1 und 4, Art. 7 und 8 der neuen Systemrichtlinie für die Fälle der Einfuhr umgesetzt" (BR-Drs. 169/09, Seite 143; Hervorhebung durch den Senat). Nach Art. 7 Abs. 2 Buchst. b) der Systemrichtlinie stellt auch der Besitz verbrauchsteuerpflichtiger Waren, wenn keine Verbrauchsteuer erhoben wurde, eine Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr dar. Nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. b) der Systemrichtlinie ist bei einem Besitz im Sinne von Art. 7 Abs. 2 Buchst. b) der Systemrichtlinie "jede Person, die im Besitz der verbrauchsteuerpflichtigen Ware ist, oder jeder andere am Besitz dieser Waren beteiligte Person" Steuerschuldner. Dies verdeutlicht, dass jede Art von Besitz verbrauchsteuerpflichtiger Waren, für die keine Verbrauchsteuern erhoben wurden, zur Entstehung der Steuer führen und jeder Besitzer Steuerschuldner sein soll. Steuerschuldner müsste daher auch in dem Fall, in dem die verbrauchsteuerpflichtige Ware eingeführt wird, jeder Besitzer sein. Insoweit wurde die Systemrichtlinie unvollständig umgesetzt, da auch an anderer Stelle im Tabaksteuergesetz nicht an den unrechtmäßigen Besitz als steuerschuldnerschaftsbegründendes Merkmal angeknüpft wird.

44

2.3.2.2 Eine Ergänzung von § 21 TabStG dahin gehend, dass die Norm auch für den Besitzer gelten soll, widerspräche jedoch der vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände. Nach der Gesetzesbegründung hat sich der Gesetzgeber (BR-Drs. 169/09, S. 143) bewusst dafür entschieden, den in § 21 S. 1 TabStG 1992 in der Fassung von Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes vom 09.12.2006 (BGBl. I 2830) enthaltenen Verweis auf die Zollvorschriften, insbesondere hinsichtlich der Person des Steuerschuldners, aufzugeben. Nach dem seinerzeit in Bezug genommenen Art. 202 Abs. 3, 3. Anstrich ZK ist insbesondere die Person Zollschuldner, die die Ware im Besitz gehabt hat, obwohl sie im Zeitpunkt des Erhalts der Ware hätte wissen müssen, dass diese vorschriftswidrig Zollgebiet verbracht worden war. Damit hat sich der Gesetzgeber bei § 21 Abs. 2 S. 1 TabStG bewusst gegen eine Steuerschuldnerschaft des Besitzers entschieden. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber die verschiedenen Steuerschuldnertatbestände in Art. 8 der Systemrichtlinie übersehen hat. Er hat nämlich in der Gesetzesbegründung ausdrücklich auf diese Norm hingewiesen (BR-Drs. 169/09, S. 143). Würde das Gericht nunmehr im Wege einer analogen Anwendung den rein objektiven, an den bloßen Besitz anknüpfenden Steuerschuldnertatbestand in Art. 8 Abs. 1 Buchst. b) Systemrichtlinie in § 21 Abs. 2 S. 1 TabStG hineinlesen, würde es den ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers konterkarieren, eine an den Besitz anknüpfende Steuerschuldnerschaft - wie sie in Art. 202 Abs. 3, 3. Anstrich ZK vorgesehen ist - abzuschaffen.

45

2.4 Die Steuerschuldnerschaft des Klägers kann auch nicht im Wege einer analogen Anwendung von § 23 Abs. 1 S. 2 TabStG, nach der der Besitzer Schuldner der Tabaksteuer ist, auf die Einfuhr begründet werden. Neben den grundsätzlichen Bedenken gegen eine Analogie zulasten des Steuerbürgers (siehe oben 2.3.1) dürfte schon keine Lücke vorliegen. Mit § 23 TabStG wird nämlich Art. 33 der Systemrichtlinie implementiert (DR-Drucksache 169/09, S. 144). Diese Norm befasst sich ausweislich ihrer Überschrift mit dem "Warenbesitz in einem anderen Mitgliedstaat" und wurde in § 23 TabStG vollständig umgesetzt.

46

Selbst wenn man die Lücke - wie oben (2.3.2.1) - darin sehen will, dass Art. 7 Abs. 2 b) und Art. 8 Abs. 1 b) der Systemrichtlinie unvollständig umgesetzt wurden, stünde der Analogie entgegen, dass ausweislich der Gesetzesbegründung der Zweck von § 23 TabStG gerade darin bestand, Art. 33 der Systemrichtlinie - also nicht die Art. 7 und 8 der Systemrichtlinie - umzusetzen.

47

3. Eine Umdeutung des angefochtenen Steuerbescheids in einen Haftungsbescheid gemäß §§ 71, 191 Abs. 1 AO kommt nicht in Betracht. Steuer- und Haftungsbescheide stellen völlig unterschiedliche Maßnahmen dar, die gänzlich unterschiedlichen Voraussetzungen unterliegen. Selbst wenn man eine solche Umdeutung annehmen wollte, wäre der Bescheid wegen Ermessensausfalls rechtswidrig, weil der Beklagte das ihm gemäß § 191 Abs. 1 AO eröffnete Ermessen nicht ausgeübt hätte (so schon: FG Hamburg, Urt. v. 15.07.2014, 4 K 183/13, juris, Rn. 18; daran anschließend: Beschl. v. 09.01.2015 V 138/14, S. 10 f. BA; Beschl. v. 20.02.2015, 4 V 192/14, S. 14 BA).

48

4. Der Kläger schuldet keine Hinterziehungszinsen nach § 235 AO. Da seine Tabaksteuerschuldnerschaft nach den vorstehenden Ausführungen nicht nachgewiesen ist, sind die Tabaksteuern jedenfalls nicht zu seinem Vorteil hinterzogen worden, so dass er insoweit nicht Zinsschuldner nach § 235 Abs. 1 S. 2 AO ist.

II.

49

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit richtet sich nach §§ 151 Abs. 3, 155 S. 1 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 S. 1 ZPO. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 115 Abs. 2 FGO), sind nicht gegeben.

(1) Der unterliegende Beteiligte trägt die Kosten des Verfahrens.

(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.

(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, soweit er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat.

(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.

(5) Besteht der kostenpflichtige Teil aus mehreren Personen, so haften diese nach Kopfteilen. Bei erheblicher Verschiedenheit ihrer Beteiligung kann nach Ermessen des Gerichts die Beteiligung zum Maßstab genommen werden.

(1) Soll gegen den Bund, ein Land, einen Gemeindeverband, eine Gemeinde, eine Körperschaft, eine Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts vollstreckt werden, so gilt für die Zwangsvollstreckung das Achte Buch der Zivilprozessordnung sinngemäß; § 150 bleibt unberührt. Vollstreckungsgericht ist das Finanzgericht.

(2) Vollstreckt wird

1.
aus rechtskräftigen und aus vorläufig vollstreckbaren gerichtlichen Entscheidungen,
2.
aus einstweiligen Anordnungen,
3.
aus Kostenfestsetzungsbeschlüssen.

(3) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.

(4) Für die Vollstreckung können den Beteiligten auf ihren Antrag Ausfertigungen des Urteils ohne Tatbestand und ohne Entscheidungsgründe erteilt werden, deren Zustellung in den Wirkungen der Zustellung eines vollständigen Urteils gleichsteht.

Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:

1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen;
2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a;
3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird;
4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden;
5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären;
6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden;
7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen;
8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht;
9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung;
10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist;
11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.

(1) Gegen das Urteil des Finanzgerichts (§ 36 Nr. 1) steht den Beteiligten die Revision an den Bundesfinanzhof zu, wenn das Finanzgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Bundesfinanzhof sie zugelassen hat.

(2) Die Revision ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs erfordert oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Der Bundesfinanzhof ist an die Zulassung gebunden.