Finanzgericht Baden-Württemberg Urteil, 17. Feb. 2016 - 4 K 1838/14
Tenor
1.) Der Bescheid über die Ablehnung der Änderung vom 6. Dezember 2013 und die Einspruchsentscheidung vom 25. April 2014 werden aufgehoben. Die ESt-Bescheide für 2009 vom 26. Oktober 2010, für 2010 vom 6. September 2011 und für 2011 vom 14. Dezember 2012 werden dahingehend geändert, dass der Bruttoarbeitslohn des Klägers im Jahr 2009 auf 51.300 EUR, im Jahr 2010 auf 60.063 EUR und im Jahr 2011 auf 67.744 EUR vermindert wird.
Die Berechnung der festzusetzenden Einkommensteuer wird dem Beklagten übertragen (§ 100 Abs. 2 Satz 2 FGO).
2.) Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3.) Das Urteil ist wegen der den Klägern zu erstattenden Kosten vorläufig vollstreckbar. Betragen diese nicht mehr als 1.500 EUR, ist das Urteil hinsichtlich der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann in diesem Fall die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des mit Kostenfestsetzungsbeschluss festgesetzten Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Übersteigt der Kostenerstattungsanspruch den Betrag von 1.500 EUR, ist das Urteil wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe des mit dem Kostenfestsetzungsbeschluss festgesetzten Erstattungsbetrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Entscheidungsgründe
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Gründe
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Urteilsbesprechung zu Finanzgericht Baden-Württemberg Urteil, 17. Feb. 2016 - 4 K 1838/14
Urteilsbesprechungen zu Finanzgericht Baden-Württemberg Urteil, 17. Feb. 2016 - 4 K 1838/14
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Finanzgericht Baden-Württemberg Urteil, 17. Feb. 2016 - 4 K 1838/14 zitiert oder wird zitiert von 6 Urteil(en).
(1) Soweit ein angefochtener Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und die etwaige Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf auf; die Finanzbehörde ist an die rechtliche Beurteilung gebunden, die der Aufhebung zugrunde liegt, an die tatsächliche so weit, als nicht neu bekannt werdende Tatsachen und Beweismittel eine andere Beurteilung rechtfertigen. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, dass und wie die Finanzbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, dass die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekannt zu geben.
(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Satz 1 gilt nicht, soweit der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht nicht nachgekommen ist und deshalb die Besteuerungsgrundlagen geschätzt worden sind. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlass des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, dass Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluss kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.
Die Finanzbehörde kann Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. Bei berechtigtem Interesse des Beteiligten ist zu berichtigen. Wird zu einem schriftlich ergangenen Verwaltungsakt die Berichtigung begehrt, ist die Finanzbehörde berechtigt, die Vorlage des Schriftstücks zu verlangen, das berichtigt werden soll.
(1) Ein Steuerbescheid ist zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern,
- 1.
soweit ein Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10), dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird, - 2.
soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis).
(2) Als rückwirkendes Ereignis gilt auch der Wegfall einer Voraussetzung für eine Steuervergünstigung, wenn gesetzlich bestimmt ist, dass diese Voraussetzung für eine bestimmte Zeit gegeben sein muss, oder wenn durch Verwaltungsakt festgestellt worden ist, dass sie die Grundlage für die Gewährung der Steuervergünstigung bildet. Die nachträgliche Erteilung oder Vorlage einer Bescheinigung oder Bestätigung gilt nicht als rückwirkendes Ereignis.
Die Finanzbehörde kann Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. Bei berechtigtem Interesse des Beteiligten ist zu berichtigen. Wird zu einem schriftlich ergangenen Verwaltungsakt die Berichtigung begehrt, ist die Finanzbehörde berechtigt, die Vorlage des Schriftstücks zu verlangen, das berichtigt werden soll.
(1) Ein Steuerbescheid ist zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern,
- 1.
soweit ein Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10), dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird, - 2.
soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis).
(2) Als rückwirkendes Ereignis gilt auch der Wegfall einer Voraussetzung für eine Steuervergünstigung, wenn gesetzlich bestimmt ist, dass diese Voraussetzung für eine bestimmte Zeit gegeben sein muss, oder wenn durch Verwaltungsakt festgestellt worden ist, dass sie die Grundlage für die Gewährung der Steuervergünstigung bildet. Die nachträgliche Erteilung oder Vorlage einer Bescheinigung oder Bestätigung gilt nicht als rückwirkendes Ereignis.
(1) Steuerbescheide sind aufzuheben oder zu ändern,
- 1.
soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen, - 2.
soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Das Verschulden ist unbeachtlich, wenn die Tatsachen oder Beweismittel in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit Tatsachen oder Beweismitteln im Sinne der Nummer 1 stehen.
(2) Abweichend von Absatz 1 können Steuerbescheide, soweit sie auf Grund einer Außenprüfung ergangen sind, nur aufgehoben oder geändert werden, wenn eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt. Dies gilt auch in den Fällen, in denen eine Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 ergangen ist.
Die Finanzbehörde kann Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. Bei berechtigtem Interesse des Beteiligten ist zu berichtigen. Wird zu einem schriftlich ergangenen Verwaltungsakt die Berichtigung begehrt, ist die Finanzbehörde berechtigt, die Vorlage des Schriftstücks zu verlangen, das berichtigt werden soll.
(1) Steuerbescheide sind aufzuheben oder zu ändern,
- 1.
soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen, - 2.
soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Das Verschulden ist unbeachtlich, wenn die Tatsachen oder Beweismittel in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit Tatsachen oder Beweismitteln im Sinne der Nummer 1 stehen.
(2) Abweichend von Absatz 1 können Steuerbescheide, soweit sie auf Grund einer Außenprüfung ergangen sind, nur aufgehoben oder geändert werden, wenn eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt. Dies gilt auch in den Fällen, in denen eine Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 ergangen ist.
(1) Ein Steuerbescheid ist zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern,
- 1.
soweit ein Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10), dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird, - 2.
soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis).
(2) Als rückwirkendes Ereignis gilt auch der Wegfall einer Voraussetzung für eine Steuervergünstigung, wenn gesetzlich bestimmt ist, dass diese Voraussetzung für eine bestimmte Zeit gegeben sein muss, oder wenn durch Verwaltungsakt festgestellt worden ist, dass sie die Grundlage für die Gewährung der Steuervergünstigung bildet. Die nachträgliche Erteilung oder Vorlage einer Bescheinigung oder Bestätigung gilt nicht als rückwirkendes Ereignis.
Die Finanzbehörde kann Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. Bei berechtigtem Interesse des Beteiligten ist zu berichtigen. Wird zu einem schriftlich ergangenen Verwaltungsakt die Berichtigung begehrt, ist die Finanzbehörde berechtigt, die Vorlage des Schriftstücks zu verlangen, das berichtigt werden soll.
(1) Steuerbescheide sind aufzuheben oder zu ändern,
- 1.
soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen, - 2.
soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Das Verschulden ist unbeachtlich, wenn die Tatsachen oder Beweismittel in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit Tatsachen oder Beweismitteln im Sinne der Nummer 1 stehen.
(2) Abweichend von Absatz 1 können Steuerbescheide, soweit sie auf Grund einer Außenprüfung ergangen sind, nur aufgehoben oder geändert werden, wenn eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt. Dies gilt auch in den Fällen, in denen eine Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 ergangen ist.
Tatbestand
- 1
-
I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die im Streitjahr 2005 gemeinsam zur Einkommensteuer veranlagt wurden. In diesem Jahr war der Kläger als Diplomkaufmann im Rahmen eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses nichtselbständig tätig. Die Klägerin ist Diplomingenieurin und erzielte 2005 mit dem Handel von … und als … gewerbliche Einkünfte.
- 2
-
In ihrer Einkommensteuer-Erklärung 2005, bei deren Anfertigung ein Steuerberater mitgewirkt hatte, machten die Kläger Angaben zu den Altersvorsorgeaufwendungen. In dem amtlichen Formular wurde nach Beiträgen zu den gesetzlichen Rentenversicherungen (Arbeitnehmeranteil) gefragt. Ferner waren Beiträge zu freiwilligen Versicherungen oder Höherversicherungen in den gesetzlichen Rentenversicherungen sowie der Arbeitgeberanteil zu gesetzlichen Rentenversicherungen einzutragen.
- 3
-
Die Kläger gaben den vom Kläger geleisteten Arbeitnehmeranteil zur gesetzlichen Rentenversicherung mit 6.085 € und den hierzu geleisteten Arbeitgeberanteil mit 6.084 € an. Für die Klägerin wurden keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung erklärt.
- 4
-
Der Einkommensteuer-Bescheid für 2005 vom 4. Dezember 2006 erging erklärungsgemäß. In dem Bescheid wurden Altersvorsorgeaufwendungen in Höhe von 1.218 € berücksichtigt. Der Bescheid wurde von den Klägern nicht angefochten.
- 5
-
Mit Schreiben vom 10. September 2008 beantragten die durch ihren Steuerberater vertretenen Kläger u.a., den Einkommensteuer-Bescheid 2005 nach § 173 der Abgabenordnung (AO) zu ändern und die von der Klägerin als Selbständige geleisteten Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu berücksichtigen. Erst im Rahmen des Einspruchsverfahrens betreffend den Einkommensteuer-Bescheid 2007 sei festgestellt worden, dass die Klägerin in 2005 solche Beiträge entrichtet habe. Die Kläger treffe kein grobes Verschulden, da ihnen nicht bekannt gewesen sei, dass infolge der Neuregelung der steuerlichen Berücksichtigung der Vorsorgeaufwendungen durch das Alterseinkünftegesetz (AltEinkG) im Streitjahr Altersvorsorgeaufwendungen im größeren Umfang abziehbar seien als im Vorjahr. Dem Antrag beigefügt war eine Bescheinigung der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 3. Februar 2006. Danach hat die Klägerin im Jahr 2005 als selbständig Tätige Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung von insgesamt 759,20 € geleistet. Die Bescheinigung enthält keine Ausführungen zur steuerlichen Abziehbarkeit der Zahlungen als Altersvorsorgeaufwendungen.
- 6
-
Diesen Änderungsantrag lehnte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) ab. Den hiergegen gerichteten Einspruch wies es mit der Begründung zurück, die Kläger träfe an dem nachträglichen Bekanntwerden der von der Klägerin geleisteten Altersvorsorgeaufwendungen ein grobes Verschulden. Sie müssten sich das Verschulden ihres Beraters zurechnen lassen. Dieser sei gehalten gewesen, seine Mandanten auf die gesetzlichen Neuregelungen im AltEinkG hinzuweisen. Auch hätten die Kläger ggf. ihren Steuerberater nach den Auswirkungen der gesetzlichen Neuregelung in ihrem speziellen Fall befragen können.
- 7
-
Das Finanzgericht (FG) wies die u.a. für das Streitjahr 2005 erhobene Klage ab. Den Klägern hätte sich aufdrängen müssen, dass auch Pflichtbeiträge der Selbständigen zur gesetzlichen Rentenversicherung als Vorsorgeaufwendungen steuerlich relevant seien. Zwar könne infolge der Fassung des Erklärungsformulars, das im Einzelnen Altersvorsorgebeiträge, nicht aber Pflichtbeiträge Selbständiger zur gesetzlichen Rentenversicherung abfrage, der Eindruck entstehen, solche Beiträge seien steuerlich nicht relevant und daher nicht anzugeben. Aufgrund der insgesamt in der Steuererklärung geforderten Daten sei aber ohne Weiteres zu schließen, dass solche Pflichtbeiträge steuerbegünstigt seien oder zumindest sein könnten. Den Klägern sei die steuerliche Bedeutung von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung und allgemein zur Altersvorsorge bekannt gewesen.
- 8
-
Mit ihrer Revision machen die Kläger weiterhin geltend, der Einkommensteuer-Bescheid 2005 sei nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu ändern. Die gegenteilige Auffassung des FG stehe im Widerspruch zu den Urteilen des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 29. Juni 1984 VI R 181/80 (BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693) und vom 22. Mai 1992 VI R 17/91 (BFHE 168, 221, BStBl II 1993, 80). Den Klägern könne nicht vorgeworfen werden, eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte Frage nicht beantwortet zu haben. Da nach den Pflichtbeiträgen selbständiger Personen zur gesetzlichen Rentenversicherung nicht gefragt worden sei, sei für die Kläger nicht erkennbar gewesen, dass solche hätten angegeben werden können. Nach dem Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) seien solche Pflichtbeiträge nur in Ausnahmefällen zu leisten.
- 9
-
Die Kläger beantragen sinngemäß,
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das angefochtenen Urteil und die Einspruchsentscheidung vom 3. November 2008 aufzuheben, soweit diese den Antrag auf Änderung des Einkommensteuer-Bescheids 2005 vom 4. Dezember 2006 betreffen, und das FA zu verpflichten, diesen Bescheid in der Weise zu ändern, dass zusätzliche Altersvorsorgebeiträge von 759,20 € berücksichtigt werden.
- 10
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Das FA beantragt,
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die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
- 11
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Die Kläger seien im Streitfall steuerlich beraten gewesen. Es könne erwartet werden, dass der steuerliche Berater seine Mandanten auf infolge einer Gesetzesänderung gegebene Abweichungen hinsichtlich der steuerlichen Abziehbarkeit von Aufwendungen hinweise. Es sei nicht unüblich, dass auch Selbständige Beiträge zur Rentenversicherung leisten müssten. Dies hätte der Steuerberater ansprechen müssen.
Entscheidungsgründe
- 12
-
II. Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil wird --soweit es das Streitjahr 2005 betrifft-- aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die vom FG getroffenen Feststellungen reichen nicht zur Beurteilung der Frage aus, ob das FA nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO verpflichtet ist, den angestrebten Änderungsbescheid zu erlassen.
- 13
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Steuerbescheide sind nach der vorstehend genannten Vorschrift zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden.
- 14
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a) Nicht im Streit steht, dass die von der Klägerin im Streitjahr getragenen Aufwendungen für ihre Pflichtbeiträge als Selbstständige zur gesetzlichen Rentenversicherung (§ 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI) dem FA bei Durchführung der ursprünglichen Einkommensteuer-Veranlagung für das Streitjahr nicht bekannt waren und daher Tatsachen i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO gegeben sind. Unstreitig ist auch, dass die Berücksichtigung dieser Aufwendungen eine Verminderung der Einkommensteuer-Schuld zur Folge hätte.
- 15
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b) Allein streitig ist das Vorliegen von grobem Verschulden. Dies setzt nach der ständigen Rechtsprechung des BFH Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit voraus. Letztere ist dann gegeben, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt hat (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 2. August 1994 VIII R 65/93, BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264; vom 23. Januar 2001 XI R 42/00, BFHE 194, 9, BStBl II 2001, 379, und vom 16. September 2004 IV R 62/02, BFHE 207, 369, BStBl II 2005, 75, jeweils m.w.N. aus der BFH-Rechtsprechung).
- 16
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c) Ob ein Beteiligter in dem genannten Sinn grob fahrlässig gehandelt hat, ist im wesentlichen Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG können in der Revisionsinstanz grundsätzlich nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit richtig erkannt worden ist und ob die Würdigung der Verhältnisse hinsichtlich dieses individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (BFH-Urteil vom 26. August 1987 I R 144/86, BFHE 151, 299, BStBl II 1988, 109, und Senatsurteil vom 6. Oktober 2004 X R 14/02, BFH/NV 2005, 156; ebenfalls ständige Rechtsprechung).
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d) Das FG hat angenommen, die Kläger hätten grob fahrlässig die von der Klägerin im Streitjahr als Selbstständige geleisteten Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung nicht angegeben. Zwar werde im Erklärungsformular für 2005 nicht nach solchen Beiträgen, sondern nur nach Pflichtbeiträgen von Arbeitnehmern und nach freiwillig geleisteten Beiträgen gefragt. In der Gesamtschau der anzugebenden Daten hätte sich den Klägern aber die steuerliche Relevanz der von der Klägerin geleisteten Pflichtbeiträge aufdrängen müssen.
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aa) Diese Ausführungen des FG reichen zur Annahme grober Fahrlässigkeit nicht aus.
- 19
-
Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des BFH, dass grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO dann nicht gegeben ist, wenn die Abgabe einer unvollständigen Steuererklärung allein auf einem subjektiv entschuldbaren Rechtsirrtum beruht (Urteile vom 21. Juli 1989 III R 303/84, BFHE 157, 488, BStBl II 1989, 960; vom 9. August 1991 III R 24/87, BFHE 165, 454, BStBl II 1992, 65; in BFHE 168, 221, BStBl II 1993, 80; in BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264, und in BFHE 194, 9, BStBl II 2001, 379). Allerdings muss auch ein Steuerpflichtiger, dem einschlägige steuerrechtliche Kenntnisse fehlen, im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte Fragen beantworten und dem Steuererklärungsformular beigefügte Erläuterungen mit der von ihm zu erwartenden Sorgfalt lesen und beachten. Dies gilt jedenfalls dann, wenn solche Fragen und Hinweise ausreichend verständlich sowie klar und eindeutig sind (BFH-Urteile in BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264, und in BFHE 194, 9, BStBl II 2001, 379). Auch muss der Steuerpflichtige sich ihm aufdrängenden Zweifelsfragen nachgehen (BFH-Urteil in BFHE 168, 221, BStBl II 1993, 80).
- 20
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Im Streitfall wurde im Steuererklärungsformular 2005 getrennt für einzelne Fallgruppen nach den im Jahr 2005 geleisteten Altersvorsorgebeiträgen gefragt. Nicht gefragt wurde jedoch nach von Selbstständigen geleisteten Pflichtbeiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung. Demgemäß blieb im Streitfall nicht eine ausdrücklich gestellte Frage unbeantwortet. Das Unterlassen von Angaben zu einem im Erklärungsvordruck nicht vorgesehenen Punkt spricht jedenfalls im Ausgangspunkt gegen das Vorliegen von grobem Verschulden (BFH-Urteil in BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264 und Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 173 Rz 116). Erst recht gilt dies, wenn wie im Streitfall alle anderen Arten von Altersvorsorgebeiträgen im Einzelnen abgefragt werden, da hierdurch der Eindruck erweckt werden könnte, die im Formular nicht erwähnten anderen Altersvorsorgebeiträge seien steuerlich irrelevant. Es wurde zudem weder vom FG festgestellt noch vom FA behauptet, dass das Merkblatt zur Steuererklärung 2005 Hinweise auf die hier in Frage stehenden Pflichtbeiträge Selbständiger enthalten habe, die die Kläger nicht berücksichtigt hätten.
- 21
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bb) Unerheblich ist, dass in dem Steuererklärungsformular für das Folgejahr 2006 ausdrücklich Angaben zu den Pflichtbeiträgen Selbständiger zur gesetzlichen Rentenversicherung zu machen waren. Denn die Kläger hatten ihre Einkommensteuer-Erklärung bereits im Oktober 2006 abgegeben und den Einkommensteuer-Bescheid 2005 erhalten, so dass etwaige Erkenntnisse aufgrund des Erklärungsformulars für 2006 nicht mehr berücksichtigt werden konnten.
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cc) Angesichts dieser Umstände hätte das FG im Einzelnen darlegen müssen, aufgrund welcher individuellen beruflichen oder sonstigen Kenntnisse oder Erfahrungen die Kläger ohne Weiteres in der Lage sein mussten, die steuerliche Relevanz der in Frage stehenden Pflichtbeiträge zu erkennen. Das FG durfte sich nicht mit dem Hinweis begnügen, den Klägern sei die Beitragszahlung bekannt gewesen. Auch lässt sich das Vorliegen von grober Fahrlässigkeit nicht damit begründen, die Kläger hätten die steuerliche Regelung über die Altersvorsorge im Grundsätzlichen gekannt.
- 23
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Sofern das FG im 2. Rechtsgang Tatsachen feststellen sollte, aus denen zu schließen ist, dass für die Kläger die steuerliche Relevanz der zu beurteilenden Beiträge erkennbar war, wäre ein etwaiger Irrtum, diese Beiträge seien im konkreten Fall steuerlich ohne Auswirkung, unbeachtlich. Beauftragt ein Steuerpflichtiger zur Erstellung einer Steuererklärung einen Steuerberater, dann handelt er regelmäßig grob fahrlässig, wenn er diesem Unterlagen vorenthält, die steuerlich relevant sein können (ebenso FG Hamburg, Urteil vom 4. Dezember 1990 II 117/89, Entscheidungen der Finanzgerichte 1991, 444).
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Klarstellend weist der erkennende Senat darauf hin, dass es nicht von entscheidender Bedeutung ist, dass die Klägerin ihren Ehemann nicht über die geleisteten Zahlungen informiert hat. Sofern sich für sie aufgedrängt haben sollte, dass die in Frage stehenden Beiträge abziehbar sein könnten, wäre das bei ihr vorliegende grobe Verschulden im Rahmen der Zusammenveranlagung auch ihrem Ehemann zuzurechnen (BFH-Urteil vom 24. Juli 1996 I R 62/95, BFHE 181, 252, BStBl II 1997, 115).
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dd) Das FG wird auch zu prüfen haben, ob den steuerlichen Berater der Kläger ein grobes Verschulden trifft. Der vom Steuerpflichtigen beauftragte steuerliche Berater muss sich ebenso wie der Steuerpflichtige um eine sachgerechte und gewissenhafte Erfüllung der steuerlichen Erklärungspflicht bemühen. Eine schuldhafte Verletzung dieser Pflicht wäre den Klägern wie eigenes Verschulden zuzurechnen (BFH-Urteil in BFHE 151, 299, BStBl II 1988, 109).
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Das FG wird insbesondere zu prüfen haben, ob das nachträgliche Bekanntwerden der von der Klägerin geleisteten Rentenversicherungsbeiträge auf einer Verletzung der Pflicht des Steuerberaters beruht, die Kläger über die gesetzlichen Neuregelungen des AltEinkG zu informieren. Auch wird das FG untersuchen müssen, ob sich aufgrund der konkreten Einzelfallumstände dem steuerlichen Berater aufdrängen musste, die Klägerin könnte als Selbstständige gesetzlich rentenversicherungspflichtig gewesen sein und im Jahr 2005 entsprechende Aufwendungen getragen haben (zu den an einen Steuerberater zu stellenden Anforderungen vgl. Klein/Rüsken, a.a.O., § 173 Rz 126 ff. i.V.m. Rz 112 f.).
Tatbestand
- 1
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I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Vater einer Tochter, die im Streitjahr 2007 in seiner Wohnung lebte und für die ihm Kindergeld zustand. Mit der Mutter des Kindes war er nicht verheiratet; im Streitjahr lebte er nicht mehr in Haushaltsgemeinschaft mit ihr.
- 2
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Der Kläger beauftragte seinen Steuerberater mit der Erstellung der Steuererklärung für das Streitjahr. Dieser fertigte die Erklärung anhand der Angaben des Klägers an und legte die mit Hilfe des Programms "Elster" der Finanzverwaltung erstellte, komprimierte Einkommensteuererklärung dem Kläger zur Prüfung, Unterzeichnung und Weiterleitung an den Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) vor. Die komprimierte Steuererklärung enthielt dabei keine Rubriken --und damit auch keine Eintragungen-- zum Entlastungsbetrag für Alleinerziehende, wie sie in dem amtlichen Vordruck ("Anlage Kind") vorgesehen sind.
- 3
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Am 19. Februar 2009 ging die komprimierte, von dem Kläger unterzeichnete Steuererklärung postalisch beim FA ein.
- 4
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Der daraufhin erlassene Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr vom 9. März 2009, in dem kein Entlastungsbetrag für Alleinerziehende berücksichtigt worden ist, wurde bestandskräftig.
- 5
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Mit Schreiben vom 3. August 2009 beantragte der Kläger die Änderung dieses Einkommensteuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) und begehrte die Gewährung des Entlastungsbetrags für Alleinerziehende für das Streitjahr. Bei der Erstellung der Einkommensteuererklärung des Jahres 2008 sei dem steuerlichen Berater aufgefallen, dass die "Anlage Kind" für das Streitjahr unvollständig ausgefüllt worden sei. Es hätten in den Zeilen 35 ff. der "Anlage Kind" Angaben zum Entlastungsbetrag für Alleinerziehende gemacht werden müssen, weil er seit Dezember 2006 von der Mutter seines Kindes getrennt lebe und deshalb alleinerziehend sei. Er, der Kläger, habe aus der ihm übersandten komprimierten Steuererklärung nicht erkennen können, dass diese steuerrelevanten Angaben fehlten. Ihm sei außerdem gar nicht bekannt gewesen, dass die Tatsache der Alleinerziehung zu einer zusätzlichen steuerlichen Entlastung führen könne.
- 6
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Das FA lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 11. September 2009 ab.
- 7
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Der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 1677 veröffentlichten Urteil statt. Nach Auffassung des FG könne der Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO geändert werden. Den Kläger treffe insbesondere kein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden der Tatsache der räumlichen Trennung des Klägers von der Mutter seines Kindes, so dass eine Änderung des streitgegenständlichen Steuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht ausgeschlossen sei.
- 8
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Dem Kläger sei ein eigenes grobes Verschulden nicht vorzuwerfen. Die Angaben zu dem Entlastungsbetrag für Alleinerziehende, die auf der Seite 2 der "Anlage Kind" in den Zeilen 35 ff. vorgesehen seien, seien in der komprimierten Steuererklärung nicht enthalten gewesen, die dem Kläger von seinem steuerlichen Berater zur Prüfung, Unterzeichnung und Weiterleitung überlassen worden sei. Es sei dem Kläger damit nicht möglich gewesen, insoweit auf ausdrücklich gestellte Fragen zu antworten oder insoweit vorbereitete Angaben zu überprüfen. Ein Anlass für den Kläger, auf die steuerliche Bedeutsamkeit dieser Fragestellung aufmerksam zu werden, habe deshalb nicht vorgelegen. Dem Kläger könne überdies nicht vorgeworfen werden, dass er dem Umstand, dass er im Streitjahr alleinerziehend gewesen sei, nicht von sich aus seinem steuerlichen Berater mitgeteilt habe, da hierzu --mangels entsprechender Fragestellung-- für einen steuerlichen Laien kein Anlass bestanden habe.
- 9
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Dem Kläger sei auch nicht ein grobes Verschulden seines steuerlichen Beraters zuzurechnen. Der Steuerberater sei nicht verpflichtet gewesen, "ins Blaue" nach einer Änderung der Familienverhältnisse zu fragen, da hierzu keinerlei Anlass bestanden habe. Anders als in dem der Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 3. Dezember 2009 VI R 58/07 (BFHE 227, 365, BStBl II 2010, 531) zugrunde liegenden Sachverhalt, in dem es um das nachträgliche Bekanntwerden von als außergewöhnliche Belastungen zu qualifizierenden Krankheitskosten gegangen sei, bestehe keine Verpflichtung des Steuerberaters, sich jährlich nach dem Stand der ehelichen oder nichtehelichen Beziehung des Mandanten zu erkundigen, wenn insoweit keine Anhaltspunkte für eine steuerrelevante Veränderung vorlägen.
- 10
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Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO. In Bezug auf ein dem Steuerpflichtigen zuzurechnendes grobes Verschulden des Steuerberaters führt es aus, der Steuerberater habe bei dem Auftrag, die Steuererklärung zu fertigen, u.a. zu prüfen, welche Steuertatbestände verwirklicht worden seien und welche Begünstigungsvorschriften zu berücksichtigen seien. Es verweist auf das BFH-Urteil in BFHE 227, 365, BStBl II 2010, 531, nach dem ein Steuerberater seinen Mandanten, von dessen Belehrungsbedürftigkeit er grundsätzlich auszugehen habe, umfassend zu beraten habe und nach dem er --im Rahmen dieser Verpflichtung-- den für die Abgabe einer vollständigen Steuererklärung maßgebenden Sachverhalt zu ermitteln habe.
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Diesen Maßstäben werde das FG mit seinem Urteil nicht gerecht, in dem es in den Entscheidungsgründen anführe, der Steuerberater sei nicht verpflichtet, "ins Blaue" nach einer Änderung der Familienverhältnisse zu fragen, da hierzu im Streitfall keinerlei Anlass bestanden habe. Das FG verlange damit seitens des steuerlichen Beraters lediglich eine anlassbezogene Rückfrage, und zwar nur dann, wenn Anhaltspunkte für eine steuerrelevante Veränderung vorlägen.
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Jedoch sei die steuerliche Relevanz der persönlichen Verhältnisse in Anbetracht der verschiedenen kinderbedingten Vergünstigungen dem steuerlichen Laien nicht ohne weiteres bewusst und erfordere daher einen Informationsaustausch mit dem Steuerpflichtigen. Die im Streitfall mangelnde Kommunikation müsse sich der Kläger als Verschulden seines steuerlichen Beraters zurechnen lassen.
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Das FA beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
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Nach seiner Auffassung sei das Problem letztlich in der Verkürzung der Steuererklärung bei Ausdruck der "Elster-Übermittlungen" zu sehen. Wären hier ebenfalls die genannten Rubriken und damit Leerfelder für den Steuerpflichtigen erkennbar, so wären Informationsverluste wie im vorliegenden Fall vermeidbar. Die in dem Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte Frage zum Entlastungsbetrag für Alleinerziehende sei für den Steuerpflichtigen bei der verkürzt ausgedruckten Steuererklärung gerade nicht erkennbar.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG war zu Unrecht der Ansicht, der bestandskräftige Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr könne nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zugunsten des Klägers geändert werden, weil diesem kein grobes Verschulden vorzuwerfen sei.
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Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.
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1. Allein streitig ist das Vorliegen von grobem Verschulden.
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a) Als grobes Verschulden hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Letztere ist dann anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt hat (z.B. BFH-Urteile vom 20. November 2008 III R 107/06, BFH/NV 2009, 545, und vom 9. November 2011 X R 53/09, BFH/NV 2012, 545).
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Grob fahrlässiges Handeln liegt insbesondere vor, wenn ein Steuerpflichtiger seiner Erklärungspflicht nur unzureichend nachkommt, indem er unvollständige Steuererklärungen abgibt (z.B. Senatsurteile vom 30. Oktober 1986 III R 163/82, BFHE 148, 208, BStBl II 1987, 161; vom 1. Oktober 1993 III R 58/92, BFHE 172, 397, BStBl II 1994, 346, und in BFH/NV 2009, 545). Beruht die unvollständige Steuererklärung auf einem Rechtsirrtum wegen mangelnder Kenntnis steuerrechtlicher Vorschriften, ist dies dem Steuerpflichtigen in der Regel nicht als grobes Verschulden anzulasten (BFH-Urteile vom 23. Februar 2000 VIII R 80/98, BFH/NV 2000, 978, und in BFH/NV 2009, 545).
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Auf einen die grobe Fahrlässigkeit ausschließenden, entschuldbaren Rechtsirrtum kann sich der Steuerpflichtige allerdings dann nicht berufen, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen bestimmten Vorgang bezogene und für ihn verständliche Frage nicht beantwortet (z.B. Senatsurteile vom 23. Oktober 2002 III R 32/00, BFH/NV 2003, 441, und in BFH/NV 2009, 545). Dies gilt auch dann, wenn er eine derartige, im Erklärungsformular ausdrücklich gestellte Frage nur deshalb nicht oder nur unvollständig beantwortet, weil er infolge eines Rechtsirrtums der Ansicht ist, die unterlassenen Angaben hätten in seinem Einzelfall keine Auswirkung (z.B. Senatsurteile in BFH/NV 2003, 441, und in BFH/NV 2009, 545).
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Einem Steuerpflichtigen kann des Weiteren dann ein eigenes grobes Verschulden angelastet werden, wenn er die von seinem steuerlichen Berater angefertigte Steuererklärung nicht auf ihre Richtigkeit und Vollständigkeit durchgesehen hat und ihm ohne Weiteres hätte auffallen müssen, dass steuermindernde Tatsachen oder Beweismittel nicht berücksichtigt worden sind (BFH-Urteil vom 28. August 1992 VI R 93/89, BFH/NV 1993, 147).
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b) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH hat der Steuerpflichtige auch ein Verschulden seines steuerlichen Beraters bei der Anfertigung der Steuererklärung zu vertreten (z.B. BFH-Urteile vom 17. November 2005 III R 44/04, BFHE 211, 401, BStBl II 2006, 412, und in BFHE 227, 365, BStBl II 2010, 531). Die Zurechnung des Verschuldens des steuerlichen Beraters bei der Anfertigung der Steuererklärung ergibt sich aus der Verantwortung des Steuerpflichtigen für die Vollständigkeit und Richtigkeit seiner Angaben in der Steuererklärung (vgl. § 150 Abs. 2 Satz 1 AO; vgl. BFH-Urteile vom 14. Januar 1998 X R 84/95, BFHE 185, 111, BStBl II 1999, 203; in BFHE 211, 401, BStBl II 2006, 412, und in BFHE 227, 365, BStBl II 2010, 531). Dieser Verantwortung kann er sich nicht dadurch entziehen, dass er die Ausarbeitung der Steuererklärung seinem steuerlichen Berater überträgt (BFH-Urteile in BFHE 211, 401, BStBl II 2006, 412, und in BFHE 227, 365, BStBl II 2010, 531). Dabei sind an einen steuerlichen Berater, dessen sich der Steuerpflichtige zur Ausarbeitung der Steuererklärung bedient, erhöhte Anforderungen hinsichtlich der von ihm zu erwartenden Sorgfalt zu stellen (z.B. BFH-Urteile vom 28. Juni 1983 VIII R 37/81, BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2; vom 26. August 1987 I R 144/86, BFHE 151, 299, BStBl II 1988, 109, und vom 13. Juni 1989 VIII R 174/85, BFHE 157, 196, BStBl II 1989, 789).
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c) Ob ein Beteiligter grob fahrlässig gehandelt hat, ist im Wesentlichen Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG dürfen --abgesehen von zulässigen und begründeten Verfahrensrügen-- nur daraufhin überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind und ob die Würdigung der Umstände hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und allgemeinen Erfahrungssätzen entspricht. Dies hindert das Revisionsgericht allerdings nicht, selbst zur Annahme eines groben Verschuldens zu kommen, wenn hierfür ausreichende tatsächliche Feststellungen vorliegen (z.B. Senatsurteile in BFH/NV 2003, 441, und in BFH/NV 2009, 545).
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2. Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall kann das Urteil des FG keinen Bestand haben.
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a) Rechtsfehlerfrei hat das FG zwar zunächst ein eigenes grobes Verschulden des Klägers verneint. Es hat zutreffend darauf abgestellt, dass aus der komprimierten Steuererklärung für den Kläger nicht ersichtlich war, dass weitere Angaben zur Gewährung des Entlastungsbetrags für Alleinerziehende erforderlich waren und insoweit steuermindernde Tatsachen nicht berücksichtigt worden sind. Außerdem kann dem Kläger --wie das FG zutreffend ausgeführt hat-- nicht vorgeworfen werden, die Tatsache, dass er im Streitjahr nicht mehr in Haushaltsgemeinschaft mit der Mutter gelebt hat, nicht von sich aus dem Berater mitgeteilt zu haben, da hierzu für einen steuerlichen Laien mangels Kenntnis der steuerlichen Relevanz dieser Tatsache kein Anlass bestand.
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b) Entgegen der Auffassung des FG trifft jedoch den steuerlichen Berater ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden dieser Tatsache, welches sich der Kläger zurechnen lassen muss.
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aa) Indem er dem insoweit steuerlich unerfahrenen Kläger lediglich die komprimierte Einkommensteuererklärung zur Prüfung überließ, ohne den für die Abgabe einer vollständigen Steuererklärung maßgebenden Sachverhalt zu ermitteln, handelte er grob fahrlässig. Denn damit nahm er dem Kläger die Möglichkeit zur Kenntnisnahme, dass --wie in den Zeilen 35 ff. der "Anlage Kind" aufgeführt-- ein Entlastungsbetrag für Alleinerziehende gewährt werden kann und insoweit weitere Angaben zur vollständigen Beantwortung der in dem amtlichen Vordruck gestellten Fragen erforderlich sind. Durch sein Handeln übernahm der steuerliche Berater die Verantwortung, dass die in der von ihm erstellten komprimierten Steuererklärung aufgeführten Angaben des Steuerpflichtigen (auch) vollständig sind.
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Dieses Ergebnis ergibt sich auch aus der Verantwortung des Steuerpflichtigen für die Richtigkeit und Vollständigkeit seiner Angaben in der Steuererklärung, der er sich nicht dadurch entziehen kann, dass er die Ausarbeitung der Steuererklärung seinem steuerlichen Berater überträgt (BFH-Urteile in BFHE 185, 111, BStBl II 1999, 203; in BFHE 211, 401, BStBl II 2006, 412, und in BFHE 227, 365, BStBl II 2010, 531). Diese Verantwortung des Steuerpflichtigen rechtfertigt die Zurechnung des Verschuldens des steuerlichen Beraters, welche letztlich sicherstellen soll, dass der Steuerpflichtige durch die Bevollmächtigung nicht besser gestellt wird als der nicht vertretene Steuerpflichtige. Hätte der Kläger seine Steuererklärung selbst erstellt, wäre ihm regelmäßig grobes Verschulden anzulasten, wenn er eine unvollständige Steuererklärung abgegeben und eine ausdrücklich gestellte, auf einen bestimmten Vorgang bezogene und für ihn verständliche Frage nicht beantwortet hätte (s. oben unter II.1.a). Dann muss nach Auffassung des erkennenden Senats ein grobes Verschulden des vom Steuerpflichtigen beauftragten steuerlichen Beraters bejaht werden, wenn dieser --im Falle der Nichtermittlung des für die Abgabe einer vollständigen Steuererklärung maßgebenden Sachverhalts-- dem Steuerpflichtigen lediglich eine komprimierte Steuererklärung aushändigt und ihm damit die Möglichkeit nimmt, die darin enthaltenen Angaben auf Vollständigkeit und Richtigkeit zu prüfen. Würde man ein grobes Verschulden des steuerlichen Beraters in diesen Fällen verneinen, käme es zu einer Besserstellung des vertretenen Steuerpflichtigen gegenüber dem nicht vertretenen, da dem Steuerpflichtigen selbst --insbesondere mangels Erkennbarkeit der Unvollständigkeit der in der komprimierten Steuererklärung enthaltenen Angaben-- ein grobes Verschulden nicht vorgeworfen werden kann (vgl. oben unter II.2.a).
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bb) Dabei kann es --entgegen der Auffassung des Klägers-- nicht darauf ankommen, dass der Ausdruck der komprimierten Steuererklärung auf die Verwendung des Programms "Elster" zurückzuführen ist. Insoweit hat der steuerliche Berater selbst sicherzustellen, dass er dem Steuerpflichtigen, von dessen Belehrungsbedürftigkeit er grundsätzlich auszugehen hat, die Möglichkeit belässt, die Angaben in der von ihm gefertigten Steuererklärung auf Vollständigkeit und Richtigkeit prüfen zu können, wenn sich der Berater entscheidet, den für die Abgabe einer vollständigen Steuererklärung maßgebenden Sachverhalt nicht vor Erstellung der Steuererklärung --ggf. durch ausdrückliche Nachfrage beim Steuerpflichtigen-- vollständig zu ermitteln. Indem der steuerliche Berater dem Steuerpflichtigen lediglich eine komprimierte Steuererklärung aushändigt, übernimmt er die Verantwortung, dass die in dieser Steuererklärung aufgeführten Angaben des Steuerpflichtigen (auch) vollständig sind (s. oben unter II.2.b aa).
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cc) Der Senat kann offenlassen, ob ein grobes Verschulden des steuerlichen Beraters auch aufgrund der fehlenden Nachfrage bei dem Kläger hinsichtlich des Umstands der Haushaltsgemeinschaft der Kindseltern angenommen werden müsste. Offen bleiben kann damit, ob ein grobes Verschulden des steuerlichen Beraters stets dann anzunehmen ist, wenn dieser im Rahmen seiner Verpflichtung, seinen Mandanten im Rahmen dessen Belehrungsbedürftigkeit umfassend zu beraten, den für die Abgabe einer vollständigen Steuererklärung maßgebenden Sachverhalt --auch ohne entsprechende Anhaltspunkte für eine steuerrelevante Veränderung-- selbst nicht vollständig ermittelt hat (so --im Hinblick auf als außergewöhnliche Belastungen berücksichtigungsfähige Zahnbehandlungskosten-- wohl: BFH-Urteil in BFHE 227, 365, BStBl II 2010, 531; ebenso: von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO § 173 Rz 95.1.; kritisch: Loose in Tipke/ Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 173 AO Rz 84; Klein/Rüsken, AO, 11. Aufl., § 173 Rz 126) oder ob insoweit auch Fälle der "lediglich" einfachen Fahrlässigkeit denkbar sind.
Tatbestand
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I. Die Beteiligten streiten darüber, ob Steuerbescheide zugunsten des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) geändert werden müssen.
- 2
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Der Kläger wohnte in den Streitjahren (2005 und 2006) in den Niederlanden. In der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) erzielte er Einkünfte aus selbständiger Arbeit, mit denen er der beschränkten Steuerpflicht unterlag. Außerdem bezog er seit 2004 eine Berufsunfähigkeitsrente, die in den Niederlanden zu versteuern war.
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Im Rahmen seiner Veranlagung zur Einkommensteuer 2004 hatte der Kläger unter anderem beantragt, die Einnahmen aus der Rente in die Bemessungsgrundlage für die deutsche Steuer einzubeziehen. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) hatte dies mit der Begründung abgelehnt, die Rente müsse nach dem insoweit maßgeblichen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (DBA) in den Niederlanden versteuert werden. Daraufhin hatte der Kläger einen insoweit eingelegten Einspruch zurückgenommen.
- 4
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In den Einkommensteuerbescheiden für die Streitjahre berücksichtigte das FA Einkünfte des Klägers aus selbständiger Arbeit in der vom Kläger erklärten Höhe von 38.456 € (2005) und 49.103 € (2006). Die Steuererklärungen und die dazugehörenden Gewinnermittlungen hatte eine Steuerberaterin (S) erstellt. Die Steuerbescheide ergingen am 26. Juli 2007 (2005) und am 16. Juni 2008 (2006) und wurden nicht innerhalb der Rechtsbehelfsfristen angefochten.
- 5
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Im Jahr 2009 beantragte der Kläger, die Bescheide nach § 174 der Abgabenordnung (AO) zu ändern. In ihnen seien Beträge von 14.995,60 € (2005) und 15.040,80 € (2006) berücksichtigt, bei denen es sich um die in den Niederlanden zu versteuernden Rentenbezüge handele. Diese Beträge waren in den Gewinnermittlungen des Klägers in den Konten "Umsatzerlöse Seminare" (2005) und "Einnahmen, Versicherungen" (2006) enthalten gewesen. Das FA lehnte die beantragte Änderung ab. Ein Einspruch des Klägers, der sein Begehren nunmehr auf § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO stützte, hatte ebenso wie die anschließend erhobene Klage keinen Erfolg. Das klageabweisende Urteil des Finanzgerichts (FG) Düsseldorf vom 7. Juli 2010 7 K 369/10 E ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2010, 2045 abgedruckt.
- 6
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Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Er beantragt sinngemäß, das FG-Urteil aufzuheben und das FA zu verpflichten, die Einkommensteuerbescheide 2005 und 2006 zu ändern und dabei die Einkünfte aus selbständiger Arbeit mit um 14.977 € (2005) und 15.037 € (2006) verminderten Beträgen zu berücksichtigen.
- 7
-
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet und führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz kommt im Streitfall eine Änderung der Einkommensteuerbescheide gemäß § 174 Abs. 1 Satz 1 AO in Betracht. Um beurteilen zu können, ob dessen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, bedarf es jedoch noch weiterer tatsächlicher Feststellungen.
- 9
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1. Frei von Rechtsfehlern hat das FG entschieden, dass die vom Kläger begehrte Änderung der Steuerbescheide nicht auf § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO gestützt werden kann.
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a) Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Unter bestimmten Voraussetzungen ist ein grobes Verschulden in diesem Zusammenhang unerheblich (§ 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO); ein solcher Sachverhalt liegt aber im Streitfall nicht vor.
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b) Im Streitfall ist dem FA, auf dessen Kenntnis es bei der Anwendung des § 173 AO ankommt, eine Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO nachträglich bekannt geworden. Denn das FA hat erst nach Durchführung der Veranlagungen und sogar erst nach Eintritt der Unanfechtbarkeit der Steuerbescheide erfahren, dass der Kläger in seinen Steuererklärungen Einnahmen aus der in den Niederlanden bezogenen Berufsunfähigkeitsrente angegeben und den steuerpflichtigen Einkünften zugeordnet hatte. Diese Tatsache führt deshalb zu einer niedrigeren Steuer, weil die daraufhin in den Bescheiden erfassten Einkünfte in Deutschland nicht hätten besteuert werden dürfen. Das ist zwischen den Beteiligten unstreitig und bedarf deshalb keiner näheren Erörterung.
- 12
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c) Eine Änderung der Bescheide nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO scheidet jedoch deshalb aus, weil die unrichtige Angabe der Einkünfte dem Kläger als grobes Verschulden anzulasten ist.
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aa) Ein grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO liegt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) vor, wenn jemand die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße verletzt (BFH-Urteil vom 15. Juli 2010 III R 32/08, BFH/NV 2010, 2237, m.w.N.). Ob ein solcher Sachverhalt im Einzelfall vorliegt, ist Tatfrage (BFH-Beschluss vom 17. Februar 2010 IX B 199/09, BFH/NV 2010, 1079) und in erster Linie vom FG zu beurteilen. Dessen Würdigung kann im Revisionsverfahren nur daraufhin überprüft werden, ob sie auf einer rechtsfehlerhaften Auslegung des Begriffs "grobes Verschulden" oder auf einem Verfahrensfehler beruht oder ob sie gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstößt (BFH-Beschluss vom 31. Januar 2005 VIII B 18/02, BFH/NV 2005, 1212; BFH-Urteil vom 3. Dezember 2009 VI R 58/07, BFHE 227, 365, BStBl II 2010, 531). Fehlt es daran, so ist die Beurteilung durch das FG auch dann revisionsrechtlich bindend (§ 118 Abs. 2 FGO), wenn eine abweichende Einschätzung ebenfalls vertretbar wäre.
- 14
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bb) Im Streitfall weist die vom FG vorgenommene Würdigung keinen derartigen Rechtsfehler auf. Das FG hat insbesondere beachtet, dass sich ein Steuerpflichtiger im Zusammenhang mit § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO das Verschulden eines von ihm hinzugezogenen steuerlichen Beraters wie eigenes Verschulden zurechnen lassen muss (BFH-Urteil vom 17. November 2005 III R 44/04, BFHE 211, 401, BStBl II 2006, 412, m.w.N.) und dass von einem steuerlichen Berater die Kenntnis und sachgemäße Anwendung steuerrechtlicher Bestimmungen erwartet werden kann (BFH-Urteil vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324). Wenn die Vorinstanz auf dieser Basis zu der Einschätzung gelangt ist, dass zumindest S ein grobes Verschulden traf, so liegt darin kein vom Revisionsgericht zu beanstandender Fehler. Diese Würdigung wird nicht nur durch den Umstand gestützt, dass ein steuerlicher Berater die Angaben seines Mandanten nicht ungeprüft übernehmen darf, sondern eigenverantwortlich aus dem steuerrechtlichen Blickwinkel überprüfen und bei Unklarheiten ggf. Nachfrage halten muss. Vielmehr bestand gerade im Streitfall eine besondere Sorgfaltspflicht deshalb, weil S wusste, dass der Kläger in seiner Einkommensteuererklärung für 2004 die Rentenzahlungen fälschlich den im Inland zu versteuernden Einkünften zugeordnet hatte. Angesichts dessen ist die Annahme des FG, dass S die ihr vom Kläger vorgelegten Unterlagen unter diesem Gesichtspunkt hätte überprüfen müssen und dass ihr bei einer solchen Überprüfung der Fehler aufgefallen wäre, nicht zu beanstanden. Die von der Revisionserwiderung aufgeworfene Frage, ob insoweit auch den Kläger selbst ein grobes Verschulden trifft, muss deshalb im Streitfall nicht erörtert werden.
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2. Jedoch bietet § 174 Abs. 1 Satz 1 AO eine Grundlage für eine Änderung der Steuerbescheide zugunsten des Klägers. Diese Vorschrift setzt voraus, dass ein bestimmter Sachverhalt in mehreren Steuerbescheiden zuungunsten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger berücksichtigt worden ist, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen; in diesem Fall ist der fehlerhafte Steuerbescheid auf Antrag aufzuheben oder zu ändern (§ 174 Abs. 1 Satz 1 AO). Die Voraussetzungen dieser Korrekturvorschrift würden hier vorliegen, wenn die dem Kläger in den Streitjahren zugeflossene Berufsunfähigkeitsrente nicht nur in den vom FA erlassenen Steuerbescheiden erfasst, sondern auch im Rahmen der in den Niederlanden vorgenommenen Besteuerung zuungunsten des Klägers berücksichtigt worden wäre.
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a) Die Frage, ob der in § 174 AO verwendete Begriff "Steuerbescheid" nur nach inländischem Recht erlassene Verwaltungsakte (so z.B. von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO, § 174 AO Rz 26, m.w.N.; Frotscher in Schwarz, AO, § 174 Rz 56, Koenig in Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 174 Rz 12; Haug-Adrion, Der Betrieb --DB-- 1985, 1969) oder auch damit vergleichbare Maßnahmen ausländischer Behörden umfasst (so Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 174 AO Rz 8; Klein/Rüsken, AO, 11. Aufl., § 174 Rz 15; Birkenfeld, Betriebs-Berater 1993, 1185, 1187; App, DB 1985, 939, 941), ist im Schrifttum streitig. Der Senat folgt der letztgenannten Auffassung jedenfalls insoweit, als --wie im Streitfall-- Maßnahmen von Steuerbehörden von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) in Rede stehen.
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aa) Für eine Begrenzung auf inländische Verwaltungsakte kann allerdings ins Feld geführt werden, dass der Begriff "Steuerbescheid" nach der allgemeinen Terminologie der Abgabenordnung (in § 155 Abs. 1 Satz 2 AO) einen Verwaltungsakt bezeichnet, durch den eine von einer Bundesfinanzbehörde oder einer Landesfinanzbehörde (vgl. § 6 Abs. 2 AO) verwaltete Steuer (§ 1 Abs. 1 Satz 1 AO) festgesetzt wird (§ 155 Abs. 1 Satz 1 AO). Dem Zweck des § 174 AO, der darin besteht, Vorteile und Nachteile auszugleichen, die sich durch einander inhaltlich widersprechende Steuerbescheide ergeben (vgl. von Wedelstädt in Beermann/Gosch, a.a.O., § 174 AO Rz 3), kann indes eine zwingende Begrenzung dahin, dass ein (unrichtiger) inländischer Bescheid nur geändert werden darf, wenn der inhaltliche Widerspruch zu einem anderem inländischen Bescheid besteht, nicht entnommen werden. Die in § 174 AO angelegte Durchbrechung der Bestandskraft des Steuerbescheids zugunsten der materiellen Richtigkeit der Besteuerung ist der Sache nach vielmehr nicht minder gerechtfertigt, wenn der in Rede stehende Widerspruch zwischen dem (unrichtigen) inländischen Steuerbescheid und einem von einer ausländischen Behörde erlassenen Steuerbescheid besteht.
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bb) Die von Wortlaut (vgl. § 155 Abs. 1 Satz 1 AO: "soweit nichts anderes vorgeschrieben ist") und Zweck der Norm her mögliche Einbeziehung ausländischer Verwaltungsakte in den Anwendungsbereich des § 174 Abs. 1 AO ist unter dem Aspekt der unionsrechtskonformen Auslegung der nationalen Rechtsnormen jedenfalls insoweit geboten, als es um die Berücksichtigung von Steuerbescheiden geht, die von Steuerbehörden aus EU-Mitgliedstaaten erlassen worden sind.
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aaa) Aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaftsorgane (Art. 4 Abs. 3 des Vertrages über die Europäische Union --EUV-- i.d.F. des Vertrags von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft [Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2007, Nr. C 306, S. 1] bzw. --bezogen auf die Streitjahre-- Art. 10 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft --EG-- i.d.F. des Vertrages von Nizza zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte [Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 2002, Nr. C 325, 1]; vgl. dazu von Bogdandy/Schill in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 4 EUV Rz 47 ff.) folgt der auch die nationalen Gerichte bindende Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung des innerstaatlichen Rechts (Zuleeg, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1994, 154, 165 ff.; von Bogdandy/ Schill in Grabitz/Hilf/Nettesheim, a.a.O., Art. 4 EUV Rz 94, m.w.N.). Danach haben die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und unter Anwendung der Auslegungsmethoden alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von dem Gemeinschaftsrecht verfolgten Ziel übereinstimmt (Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften [seit 2009 Gerichtshof der Europäischen Union] --EuGH-- vom 4. Juli 2006 C-212/04 "Adeneler", Slg. 2006, I-6057; vom 19. Januar 2010 C-555/07 "Kücükdeveci", Slg. 2010, I-365, DB 2010, 228). Der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung findet seinen primären Anwendungsbereich zwar in den durch EU-Richtlinien harmonisierten Rechtsbereichen. Dazu gehören nach ständiger Spruchpraxis des EuGH mangels einer einschlägigen Unionsregelung nicht die Verfahrensmodalitäten, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen; vielmehr sind diese nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats. Nach ebenfalls ständiger Spruchpraxis des EuGH dürfen diese Verfahrensmodalitäten aber nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art regeln --Äquivalenzgrundsatz--, und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren --Effektivitätsgrundsatz-- (vgl. z.B. EuGH-Urteile vom 7. Januar 2004 C-201/02 "Wells", Slg. 2004, I-723, Rz 67; vom 19. September 2006 C-392/04 und C-422/04 "i-21 Germany und Arcor", Slg. 2006, I-8559, Rz 57; vom 30. Juni 2011 C-262/09 "Meilicke u.a.", Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2011, 1262). Der besagte Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung gilt insbesondere mit Blick auf die unionsrechtlichen Grundfreiheiten deshalb auch darüber hinaus (vgl. Schön in Veröffentlichungen der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e.V., Bd. 19 (1996), S. 167, 180; Gosch, DStR 2007, 1553, 1555; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl., Rz 3.54, 3.57; Kahl in Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 4 EUV Rz 92 f.; Drüen in Tipke/ Kruse, a.a.O., § 4 AO Rz 240).
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bbb) Im Lichte der unionsrechtlichen Grundfreiheiten erscheint dem Senat eine Auslegung des § 174 Abs. 1 AO dahingehend, dass ein fehlerhafter inländischer Steuerbescheid auch dann geändert werden kann, wenn der widerstreitende Steuerbescheid von der Behörde eines Mitgliedstaats der EU erlassen wurde, vorzugswürdig. Selbst wenn --wie im Streitfall-- keine der speziellen Grundfreiheiten (z.B. Niederlassungsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit oder Kapitalverkehrsfreiheit) einschlägig ist, ist zumindest der Anwendungsbereich des Art. 18 EG (jetzt: Art. 21 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, ABlEU 2008, Nr. C 115, S. 47) berührt, der jedem Unionsbürger das Recht gewährt, sich --vorbehaltlich bestimmter Beschränkungen und Bedingungen-- im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Diese Vorschrift vermittelt eine allgemeine Grundfreiheit, die auch bei der Wahrnehmung von Besteuerungsbefugnissen zu beachten ist (EuGH-Urteil vom 11. September 2007 C-76/05 "Schwarz und Gootjes-Schwarz", Slg. 2007, I-6849, BFH/NV 2008, Beilage 1, 5).
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Eine Beschränkung des § 174 Abs. 1 AO auf ausschließlich inländische Steuerbescheide würde zwar nicht zu einer Diskriminierung ausländischer oder im Ausland wohnhafter Steuerpflichtiger im Vergleich zu deutschen oder im Inland wohnhaften Steuerpflichtigen führen. Denn der daraus resultierende Ausschluss der Korrekturmöglichkeit nach § 174 Abs. 1 AO würde in gleicher Weise auch deutsche Staatsangehörige oder im Inland wohnhafte Steuerpflichtige treffen, zu deren Ungunsten ein widerstreitender Steuerbescheid einer ausländischen Finanzbehörde ergangen ist.
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Jedoch folgt aus den unionsrechtlich verbürgten Grundfreiheiten über die Diskriminierungsverbote hinaus ein Beschränkungsverbot, von dem auch Inländer profitieren, wenn sie grenzüberschreitend oder im EU-Ausland tätig sind (vgl. zur Arbeitnehmerfreizügigkeit EuGH-Urteil vom 12. Dezember 2002 C-385/00 "de Groot", Slg. 2002, I-11819, BFH/NV 2003, Beilage 2, 75; zur Niederlassungsfreiheit EuGH-Urteil vom 13. April 2000 C-251/98 "Baars", Slg. 2000, I-2787; zur Kapitalverkehrsfreiheit EuGH-Urteile vom 6. Juni 2000 C-35/98 "Verkooijen", Slg. 2000, I-4071, und vom 21. November 2002 C-436/00 "X und Y", Slg. 2002, I-10829, BFH/NV 2003, Beilage 2, 92; Schön, Steuerberater-Jahrbuch 2003/2004, 27, 31; Schaumburg, a.a.O., Rz 4.16).
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Ein Ausschluss der Korrekturmöglichkeit nach § 174 Abs. 1 AO bei Widerstreit eines inländischen Steuerbescheids mit einem solchen aus einem EU-Mitgliedstaat würde eine Beschränkung der jeweils einschlägigen Grundfreiheit darstellen. Denn die Steuerpflichtigen --unabhängig von ihrer Nationalität und Ansässigkeit--, die international aktiv und dadurch in mehr als einem Mitgliedstaat steuerpflichtig sind, würden gegenüber solchen Steuerpflichtigen benachteiligt, deren Aktivitäten sich auf das Inland beschränken und die deshalb mit ihren Steuerangelegenheiten nur einem Fiskus unterworfen sind.
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Ein triftiger Grund dafür, widerstreitende Steuerbescheide ausländischer Behörden nicht zum Anlass für Korrekturen nach § 174 Abs. 1 AO zu nehmen, ist nicht ersichtlich. Der Gesichtspunkt der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten (vgl. z.B. EuGH-Urteil vom 25. Februar 2010 C-337/08 "X-Holding", Slg. 2010, I-1215, BFH/NV 2010, 1064) ist nicht berührt; denn über § 174 Abs. 1 AO kann ein Bescheid nur insoweit geändert werden, als er fehlerhaft ist (BFH-Beschluss vom 17. Februar 2005 II B 115/03, BFH/NV 2005, 1004), eine Besteuerungsbefugnis des deutschen Fiskus also materiell-rechtlich nicht besteht. Es bleibt der Umstand, dass sich die deutschen Finanzbehörden bei Berücksichtigung auch ausländischer Rechtsakte ggf. mit ausländischem Steuerrecht befassen müssen, wenn es z.B. zum Zwecke der Berechnung der Antragsfrist gemäß § 174 Abs. 1 Satz 2 AO um den Zeitpunkt der Unanfechtbarkeit des letzten der widerstreitenden Bescheide geht. Diese Erschwernis erscheint aber hinnehmbar und nicht derart gravierend, dass sie einer Auslegung der Vorschrift im vom Senat vertretenen Sinne ernstlich entgegensteht.
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b) Die weiteren Voraussetzungen einer Änderung nach § 174 Abs. 1 AO wären im Streitfall erfüllt.
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aa) Wäre die Berufsunfähigkeitsrente auch vom niederländischen Fiskus besteuert worden, wäre "ein bestimmter Sachverhalt" in mehreren Steuerbescheiden berücksichtigt worden.
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aaa) Der Begriff des "bestimmten Sachverhalts" in § 174 AO knüpft an einen einheitlichen Lebensvorgang an, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft (z.B. BFH-Urteil vom 18. Februar 1997 VIII R 54/95, BFHE 183, 6, BStBl II 1997, 647). Eine widerstreitende Steuerfestsetzung liegt nur vor, wenn derselbe Lebensvorgang in verschiedenen Steuerbescheiden unterschiedlich berücksichtigt worden ist (vgl. von Wedelstädt in Beermann/Gosch, a.a.O., § 174 AO Rz 18 f.; Klein/Rüsken, a.a.O., § 174 Rz 18).
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Die "Berücksichtigung" eines bestimmten Sachverhalts i.S. von § 174 Abs. 1 AO setzt voraus, dass er dem FA bei der Entscheidungsfindung bekannt war und als Entscheidungsgrundlage herangezogen und verwertet worden ist. Dabei ist es nicht erforderlich, dass das FA den erfassten Sachverhalt in allen Einzelheiten kennt; vielmehr kann der Vorgang z.B. in ein komprimiertes Zahlenwerk eingegangen sein, das dem FA bei der Entscheidungsfindung vorlag. Legt das FA der Veranlagung oder der Gewinnfeststellung einen vom Steuerpflichtigen erklärten Gewinn zugrunde, so sind damit alle Geschäftsvorfälle berücksichtigt, die der Steuerpflichtige bei seiner Gewinnermittlung erfasst hat (BFH-Urteil vom 6. März 1990 VIII R 28/84, BFHE 160, 140, BStBl II 1990, 558; von Wedelstädt in Beermann/ Gosch, a.a.O., § 174 AO Rz 27; Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 174 AO Rz 10).
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bbb) Der Lebensvorgang, um den es im Streitfall geht, sind die quartalsweisen Zahlungen der Berufsunfähigkeitsrente durch die niederländische Rentenkasse an den Kläger. Zwar war dem FA bei Steuerfestsetzung nicht bekannt und bewusst, dass es sich bei den den Gewinnermittlungspositionen "Umsatzerlöse Seminare" und "Einnahmen, Versicherungen" zugrunde liegenden Vorgängen um jene Rentenzahlungen handelte. Geht man aber davon aus, dass die auf den Gewinnermittlungen des Klägers basierenden Steuerfestsetzungen alle Geschäftsvorfälle berücksichtigen, die der Kläger bei seinen Gewinnermittlungen erfasst hat, dann muss das auch für die Rentenzahlungen gelten, selbst wenn sie in den Gewinnermittlungen des Klägers sowohl unter falscher Beschreibung als auch unter falscher rechtlicher Einordnung erfasst worden sind.
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bb) Wäre die in den Streitjahren vom Kläger bezogene Berufsunfähigkeitsrente auch in den Niederlanden besteuert worden, lägen widerstreitende Steuerbescheide vor.
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aaa) Die Anwendung des § 174 Abs. 1 AO erfordert nach einhelliger Auffassung das Vorliegen von (positiv) widerstreitenden Steuerfestsetzungen zu Lasten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger. Ein "Widerstreiten" in diesem Sinne setzt voraus, dass die in den (kollidierenden) Bescheiden getroffenen Regelungen (Steuerfestsetzungen oder Feststellungen) aufgrund der materiellen Rechtslage nicht miteinander vereinbar und daher widersprüchlich sind, weil nur eine der festgesetzten oder angeordneten Rechtsfolgen zutreffen kann. Die in der mehrfachen Erfassung eines bestimmten Sachverhalts liegenden Unrichtigkeiten müssen einander nach materiellem Recht zwingend (denknotwendig) ausschließen (BFH-Urteile vom 11. Juli 1991 IV R 52/90, BFHE 165, 449, BStBl II 1992, 126; vom 26. Januar 1994 X R 57/89, BFHE 174, 1, BStBl II 1994, 597; vom 7. Juli 2004 X R 26/01, BFHE 207, 35, BStBl II 2005, 145).
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bbb) Nach der materiellen Rechtslage war in den Streitjahren eine Berücksichtigung der dem Kläger zugeflossenen Berufsunfähigkeitsrente sowohl in der Bemessungsgrundlage der deutschen als auch in der Bemessungsgrundlage der niederländischen Einkommensteuer zwingend ausgeschlossen. Denn entweder war die Rente ohnehin nur nach dem Welteinkommensprinzip im Wohnsitzstaat des Klägers --den Niederlanden-- steuerbar. Oder aber sie hätte --wenn ein Tatbestand des § 49 des Einkommensteuergesetzes 2002 in der in den Streitjahren geltenden Fassungen (EStG 2002) erfüllt wäre --zusätzlich in Deutschland der beschränkten Steuerpflicht unterlegen. Auch in diesem Falle wäre indes der Besteuerungszugriff durch den deutschen Fiskus ausgeschlossen. Denn die Berufsunfähigkeitsrente zählt zu den "sonstigen Einkünften", für die Art. 16 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie verschiedener sonstiger Steuern und zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem Gebiete vom 16. Juni 1959 (BGBl II 1960, 1781, BStBl I 1960, 381) --DBA-Niederlande-- das Besteuerungsrecht dem Wohnsitzstaat zuweist. Somit ist auf der Grundlage des materiellen Rechts ein Besteuerungszugriff sowohl der Niederlande als auch Deutschlands auf die Berufsunfähigkeitsrente zwingend ausgeschlossen.
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Das FG hält demgegenüber (unter Bezugnahme auf Frotscher in Schwarz, a.a.O., § 174 Rz 56) einen "Widerstreit" im Verhältnis der beiderseitigen Steuerfestsetzungen nicht für gegeben, weil das Kollisionsverhältnis zwischen dem Steuerzugriff des Wohnsitzstaats und dem Staat, der im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht besteuert, durch die Regelungen in den Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung oder durch Anrechnung gemäß § 34c EStG 2002 aufgelöst werde (insoweit zustimmend Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 174 AO Rz 8). Dem vermag der Senat jedenfalls in Bezug auf Staaten, mit denen DBA geschlossen worden sind, nicht beizupflichten (ebenso Klein/Rüsken, a.a.O., § 174 AO Rz 15). Denn die DBA-Vorschriften, die einen parallelen Zugriff beider Vertragsstaaten auf das gleiche Steuersubstrat verhindern, sind Bestandteil der materiellen Rechtslage, aufgrund derer der "Widerstreit" zu beurteilen ist. Die abkommensrechtliche Verteilung der Besteuerungskompetenzen darf deshalb bei der Prüfung des Widerstreits nicht außer Acht gelassen werden.
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cc) Die streitbefangenen Festsetzungsbescheide des FA sind im Hinblick auf die (unbeabsichtigte) Erfassung der Berufsunfähigkeitsrente fehlerhaft. Der Kläger hat in den Streitjahren nicht im Inland gewohnt und war deshalb hier nicht unbeschränkt steuerpflichtig. Ein Tatbestand der beschränkten Steuerpflicht ist nicht einschlägig. Nach § 49 Abs. 1 Nr. 7 EStG 2002 unterfallen Einkünfte i.S. von § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG 2002 in der in den Streitjahren geltenden Fassung (bestimmte wiederkehrende Bezüge) nur dann der beschränkten Steuerpflicht, wenn sie von inländischen Unternehmen oder Einrichtungen gewährt werden. Im Streitfall stammen die Rentenzahlungen jedoch von einem niederländischen Versicherungsunternehmen. Aber selbst wenn ein Tatbestand der beschränkten Steuerpflicht erfüllt wäre, wäre die Besteuerung durch den deutschen Fiskus --wie oben ausgeführt-- gemäß Art. 16 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 DBA-Niederlande ausgeschlossen.
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3. Das FG ist teilweise von einer anderen rechtlichen Beurteilung ausgegangen. Sein Urteil ist deshalb aufzuheben. Die Sache ist noch nicht entscheidungsreif. Denn den tatrichterlichen Feststellungen lässt sich zwar entnehmen, dass die vom Kläger empfangenen Rentenzahlungen in den Niederlanden steuerpflichtig waren. Keine Feststellungen hat das FG indes --aus seiner rechtlichen Sicht konsequent-- dazu getroffen, ob die Zahlungen in den Niederlanden tatsächlich besteuert worden sind. Da dies aber Voraussetzung für eine Änderung der streitbefangenen Steuerbescheide nach § 174 Abs. 1 AO ist, wird das FG die erforderlichen Feststellungen im zweiten Rechtsgang zu treffen haben. Auf die erhöhten Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen im Rahmen der Ermittlung von Auslandssachverhalten (§ 76 Abs. 1 Satz 4 FGO i.V.m. § 90 Abs. 2 AO) wird hingewiesen.
Tatbestand
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I. Streitig ist, ob der bestandskräftige Einkommensteuerbescheid noch geändert werden kann, um in der elektronischen Steuererklärung (ELSTER) nicht angegebene Unterhaltsleistungen nachträglich zu berücksichtigen.
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Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) lebte im Streitjahr (2006) zusammen mit seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen, im Januar 2006 geborenen Kind. Der Kläger erstellte seit 1992 seine Steuererklärungen selbst. Im Streitjahr verwendete er dazu, wie schon im Vorjahr, das elektronische Steuererklärungsprogramm der Finanzverwaltung (ElsterFormular).
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Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) erließ auf Grundlage dieser Erklärung am 18. Mai 2007 einen Einkommensteuerbescheid, der bestandskräftig wurde.
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Der Kläger beantragte mit Schriftsatz vom 23. März 2008 die Änderung dieser Einkommensteuerfestsetzung für 2006 mit dem Ziel, Unterhaltsleistungen an seine Lebenspartnerin als außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen (§ 33a Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes). Er begründete dies zunächst damit, dass er diese Aufwendungen aus Unerfahrenheit nicht erklärt habe. Später trug er dazu vor, schlichtweg vergessen zu haben, die Aufwendungen zu erklären. Der Fehler sei ihm auch nach nochmaliger Durchsicht des Ausdrucks nicht aufgefallen. Denn beim ELSTER-Verfahren enthalte der abschließende Erklärungsausdruck nur die Felder, in denen auch Eintragungen vorgenommen worden seien. Letztlich habe die Unübersichtlichkeit des ElsterFormulars im Vergleich zur Steuererklärung in Papierform und die fehlende Routine im Umgang mit dem ElsterFormular die Entdeckung des Fehlers verhindert, der allenfalls auf leichter Fahrlässigkeit beruhe.
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Das FA lehnte es ab, den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr zu ändern. Denn den Kläger treffe ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der Unterhaltsleistungen. Im ElsterFormular werde ebenso wie in der Anleitung zur Steuererklärung und im Erklärungsvordruck auf den Abzug von Unterhaltsleistungen hingewiesen und nach Angaben zur unterhaltenen Person gefragt.
- 6
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Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage hat das Finanzgericht (FG) aus den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2011, 1043 veröffentlichten Gründen abgewiesen.
- 7
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Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.
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Er beantragt sinngemäß,
das Urteil des FG des Landes Sachsen-Anhalt vom 30. Juni 2010 sowie den ablehnenden Bescheid vom 27. Juni 2008 i.d.F. der Einspruchsentscheidung vom 13. Mai 2009 aufzuheben und das FA zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid für 2006 vom 18. Mai 2007 dahingehend zu ändern, dass die Einkommensteuer auf 7.130 € herabgesetzt wird.
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Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung). Das FG hat zu Recht entschieden, dass der hier streitige bestandskräftige Einkommensteuerbescheid wegen eines den Kläger treffenden groben Verschuldens nicht nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) zu ändern ist.
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Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Als grobes Verschulden hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Grobe Fahrlässigkeit ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt hat (BFH-Urteile vom 9. November 2011 X R 53/09, BFH/NV 2012, 545; vom 19. Dezember 2006 VI R 59/02, BFH/NV 2007, 866; vom 9. August 1991 III R 24/87, BFHE 165, 454, BStBl II 1992, 65; jeweils m.w.N.).
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a) Ob der Beteiligte im jeweiligen Einzelfall grob fahrlässig gehandelt hat, ist im Wesentlichen Tatfrage. Die dazu getroffenen Feststellungen und daraus folgenden Würdigungen des FG können --abgesehen von zulässigen und begründeten Verfahrensrügen-- von der Revisionsinstanz nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind und ob die Würdigung der Umstände hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (BFH-Urteil in BFH/NV 2012, 545, m.w.N.).
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b) Die Würdigung des FG, angesichts der Ausgestaltung des ElsterFormulars für die Einkommensteuererklärung 2006 und der Anleitung dazu treffe den Kläger ein grobes Verschulden daran, dass die Unterhaltsleistungen erst nachträglich bekannt wurden, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
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aa) Das FG hat im Fall des Klägers den Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit zutreffend ausgelegt und die daraus abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt. Von einem groben Verschulden ist auszugehen, wenn der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht nur unzureichend nachkommt, indem er eine unvollständige Steuererklärung abgibt. Es entspricht allerdings ständiger Rechtsprechung des BFH, dass kein grobes Verschulden vorliegt, wenn die unvollständige Steuererklärung auf einem subjektiv entschuldbaren Rechtsirrtum beruht. Aber auch der Steuerpflichtige, dem einschlägige steuerrechtliche Kenntnisse fehlen, muss im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte Fragen beantworten und dem Steuererklärungsformular beigefügte Erläuterungen mit der von ihm zu erwartenden Sorgfalt lesen und beachten. Dies gilt jedenfalls dann, wenn solche Fragen und Hinweise ausreichend verständlich sowie klar und eindeutig sind (BFH-Urteil in BFH/NV 2012, 545, m.w.N.).
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bb) Das FG hat nach Maßgabe dieser Grundsätze in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise ein grob fahrlässiges Handeln des Klägers angenommen. Es hat das grobe Verschulden insbesondere darin gesehen, dass der Kläger die mit "Unterhalt für bedürftige Personen" überschriebene Zeile 102 unbeantwortet ließ und er nicht nur die in der Anleitung zur Einkommensteuererklärung aufgeführten zwei auf ihn zutreffenden Sachverhalte, sondern auch den dort angeführten Hinweis nicht beachtete, dass eine Unterhaltspflicht gegenüber der Mutter eines gemeinsamen Kindes bestehen kann. Dazu hat das FG auch die Einlassung des Klägers, er habe eine elektronische Steuererklärung abgegeben und deshalb deren schriftliche Anleitung nicht zur Verfügung gehabt, in seine Würdigung einbezogen und im Ergebnis als unbeachtlich beurteilt. Denn es hat festgestellt, dass diese Angaben auch in dem vom Kläger verwendeten elektronischen ElsterFormular der Finanzverwaltung enthalten waren. Auch für diese Hinweise gilt --nicht anders als für solche in Papierform--, dass es regelmäßig grob fahrlässig ist, diese unbeachtet zu lassen, sofern sie ausreichend verständlich sowie klar und eindeutig sind. Davon war im Streitfall nach den Feststellungen des FG für das ElsterFormular 2006 auszugehen.
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Der hier zu entscheidende Streitfall unterscheidet sich von dem heute durch den erkennenden Senat ebenfalls entschiedenen Fall zum ElsterFormular des Veranlagungszeitraums 2008 (Urteil vom 20. März 2013 VI R 9/12, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt), indem aufscheinende Hilfstexte die Sachverhalte nur unvollständig erläuterten und den Steuerpflichtigen angesichts unübersichtlicher Vordruckgestaltungen gerade nicht dazu veranlassten, zur Verfügung gestellte weitere Anlagen zu verwenden. Das FG hat dagegen für die im Streitfall erforderlichen Eingaben in die Maske des Steuerformulars keine im Rahmen der Gesamtwürdigung zu berücksichtigenden Besonderheiten in der Programmführung des ElsterFormulars festgestellt. Insoweit unterscheidet sich der hier zu beurteilende Fall auch von dem des FG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 13. Dezember 2010 5 K 2099/09, EFG 2011, 685, Revisionsverfahren anhängig unter dem Az. X R 8/11); dort hatten die Anwendungsmodalitäten des Programms den Anwender veranlasst, in eine andere Eingabemaske zu wechseln, ohne nach der Eingabe dort zur ursprünglichen Maske zurückzukehren.
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Der Kläger kann sich schließlich nicht darauf berufen, dass im Gegensatz zur Einkommensteuererklärung in Papierform das ElsterFormular keinen vollständigen Ausdruck der Steuererklärung liefert, sondern letztlich nur die Werte und Kennziffern aufführt, zu denen der Steuerpflichtige Eintragungen vorgenommen hat. Denn dies mag zwar einen Nachteil der elektronischen Steuererklärung darstellen, betrifft aber nicht den Grund für die Annahme der groben Fahrlässigkeit, nämlich die fehlende An- und Eingabe im ElsterFormular selbst.
Tatbestand
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I. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) werden im Streitjahr 2006 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger ist Diplom-Finanzwirt (FH) und Notar, die Klägerin ist Buchhalterin und Hausfrau.
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Die Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2006 haben die Kläger mit Hilfe des elektronischen Steuerprogramms Elster/Formular 2006/2007 an den Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) übermittelt und eine komprimierte (verkürzte) Steuererklärung in Papierform unterschrieben nachgereicht. In dem elektronischen Erklärungsformular haben die Kläger in Zeile 62 des Mantelbogens, in der nach Beiträgen zu berufsständischen Versorgungseinrichtungen bei Nichtarbeitnehmern gefragt ist, Zahlungen des Klägers an die Notarversorgungskasse nicht eingetragen. Im Veranlagungszeitraum 2005 hatten sie diesen Posten korrekt in der ebenfalls mit Hilfe des elektronischen Steuerprogramms Elster erstellten Erklärung geltend gemacht.
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Das FA setzte die Einkommensteuer 2006 mit Bescheid vom 25. Juli 2008 erklärungsgemäß fest; Zahlungen an die Notarversorgungskasse wurden nicht berücksichtigt. Aus den Erläuterungen zum Bescheid ergibt sich, die Günstigerprüfung für die Veranlagung des Jahres 2006 habe ergeben, dass die Ermittlung der abziehbaren Vorsorgeaufwendungen nach der Rechtslage des Jahres 2004 zu einem günstigeren Ergebnis führe.
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Mit Abgabe der Einkommensteuererklärung für das Jahr 2007 baten die Kläger mit Schreiben vom 21. Februar 2009, den Einkommensteuerbescheid 2006 zu ändern. Bei Erstellung der Steuererklärung für das Jahr 2007 hätten sie bemerkt, dass im Vorjahr die Zahlungen des Klägers an die Notarversorgungskasse in Höhe von 18.457 € irrtümlich nicht in Zeile 62 des Mantelbogens eingetragen worden seien. Das FA entsprach diesem Begehren nicht. Mit Schreiben vom 22. April 2009 beantragten die Kläger daraufhin die Änderung des Einkommensteuerbescheids 2006 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO). Das FA lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, die Kläger treffe ein grobes Verschulden daran, dass die Zahlungen in der Einkommensteuererklärung 2006 nicht geltend gemacht worden seien.
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Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage hatte Erfolg (Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 685). Das Finanzgericht (FG) urteilte, die Kläger treffe kein grobes Verschulden daran, dass die Zahlungen des Klägers an die Notarversorgungskasse erst nachträglich bekannt geworden seien. Sie hätten übersehen, die sich aus ihren handschriftlichen Notizen ergebenden Zahlungen in die elektronische Bildmaske des Elsterprogramms zu übernehmen. Die Einkommensteuererklärung sei ansonsten vollständig ausgefüllt worden und die Zahlungen an die Notarversorgungskasse seien in den Jahren vor 2006 und im Jahr 2007 stets geltend gemacht worden. Es sei daher von einem Übertragungs- bzw. Eingabefehler aus den handschriftlichen Notizen des Klägers überschrieben mit "Vorsorgeaufwendungen" in die Zeile 62 des Mantelbogens auszugehen.
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Der Senat könne darin keine Pflichtverletzung erkennen, die in ungewöhnlichem Maße und nicht entschuldbarer Weise die gebotene Sorgfalt außer Acht lasse. Es entspreche der allgemeinen Lebenserfahrung, dass solche Fehler --trotz großer Sorgfalt-- bei der Übertragung von Daten, insbesondere aber bei der Bearbeitung größerer Dokumente am PC immer wieder vorkämen, begünstigt durch die technischen Gegebenheiten und einer Vielzahl von Bildmasken und Fenstern, die stets nur einen kleinen Ausschnitt des Gesamtdokuments zeigten. Zu berücksichtigen sei auch, dass das ElsterFormular bzw. ElsterOnline den Finanzämtern die mechanische Erfassungsarbeit von Steuererklärungsdaten abnehme und auf den Steuerpflichtigen verlagere und deshalb ein Sorgfaltsverstoß des Steuerpflichtigen nach den gleichen Maßstäben beurteilt werden müsse wie ein Übertragungs- oder Eingabefehler des Bearbeiters im FA. Ein solcher berechtige nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Berichtigung nach § 129 AO. Deshalb sei es sachgerecht, einen vergleichbaren Fehler des Steuerpflichtigen entsprechend zu qualifizieren, sodass er einer Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht entgegenstehe.
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Zwar sei nach der Rechtsprechung des BFH bei der Prüfung des groben Verschuldens auch der Zeitraum bis zur Bestandskraft des Bescheids einzubeziehen. Ein grobes Verschulden i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO könne auch darin bestehen, dass der Steuerpflichtige es unterlasse, gegen einen Steuerbescheid Einspruch einzulegen, obwohl sich ihm innerhalb der Einspruchsfrist die Geltendmachung von bisher dem FA nicht bekannter Tatsachen hätte aufdrängen müssen. Die Kläger hätten nach ihren Angaben jedoch bei Erhalt des Einkommensteuerbescheids 2006 die festgesetzte Steuer mit der Probeberechnung des ElsterProgramms verglichen und konsequenterweise habe ihnen der Fehler nicht auffallen können. Der Senat könne offenlassen, ob dieser Datenabgleich ausreiche. Selbst wenn man angesichts der juristischen Fertigkeiten und steuerrechtlichen Kenntnisse des Klägers eine umfassende Prüfungspflicht annehme, hätte sich ihm nicht aufdrängen müssen, dass die Beiträge zur Notarversorgungskasse nicht geltend gemacht worden seien. Wegen des teilweise nur prozentualen Ansatzes der Beiträge sei auch für einen steuerlichen Fachmann nicht ohne weiteres zu erkennen, welche Beiträge in welcher Höhe aus der Erklärung der Berechnung zugrunde gelegt worden seien. Zudem hätten die Kläger, wäre ihnen aufgefallen, dass ein erheblicher Teil ihrer Vorsorgeaufwendungen und Versicherungsbeiträge fehlt, rechtliche Überlegungen dahingehend anstellen müssen, dass die abziehbaren Aufwendungen nach einer anderen Rechtslage zu berechnen seien. Bei der Höchstbetragsberechnung in der bis zum Jahr 2004 geltenden Rechtslage hätten sich die Zahlungen nicht ausgewirkt.
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Mit der Revision rügt das FA Verletzung von Bundesrecht. Das FG habe die aus dem Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit abzuleitenden Sorgfaltspflichten verkannt. Das Urteil weiche von der Rechtsprechung des BFH ab, nach der die Nichtbeantwortung einer ausdrücklich im Steuererklärungsformular gestellten, sich auf einen bestimmten Vorgang beziehenden Frage ein grobes Verschulden i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO darstelle. Im Streitfall hätten die Kläger die im Erklärungsformular in Zeile 62 ausdrücklich gestellte Frage nach den als Sonderausgaben abziehbaren Beiträgen zu berufständischen Versorgungseinrichtungen nicht beantwortet. Ohne Bedeutung sei, dass sie zur Übermittlung ihrer Steuererklärung das elektronische System Elster benutzt und die Daten in einen Computer statt handschriftlich in ein Formular eingegeben hätten. Der Steuerpflichtige müsse prüfen, ob die Angaben aus einer Kladde oder einem Entwurf der Steuererklärung in den für das FA bestimmten Erklärungsbogen vollständig und richtig übertragen worden seien (BFH-Beschluss vom 30. Januar 1997 III B 99/95, BFH/NV 1997, 385). Diese Anforderungen müssten auch dann gelten, wenn Daten aus einem schriftlichen Entwurf in ein Computerprogramm übertragen würden. Es sei den Klägern als grobes Verschulden anzulasten, wenn sie den Abgleich ihrer handschriftlichen Notizen mit den für das FA zur elektronischen Übermittlung bestimmten Computerdaten unterlassen oder ihnen nicht auffällt, dass Daten nicht in das vorgesehene, ausdrücklich nachgefragte Eingabefeld eingegeben werden.
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Auch bestehe die Möglichkeit, sich unter ElsterFormular den amtlichen Erklärungsvordruck am Bildschirm anzeigen zu lassen. Diese Möglichkeit bestehe auch noch nach der elektronischen Übermittlung der Daten an das FA und dem Ausdruck der komprimierten Erklärung. Die Steuerpflichtigen handelten grob schuldhaft, wenn sie sich allein auf die Druckvorschau verließen und die weitergehende Prüfmöglichkeit nicht nutzten.
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Das FG etabliere ein Sonderrecht für elektronische Steuererklärungen, indem es den Verschuldensmaßstab entgegen der ständigen Rechtsprechung des BFH abmildere. Bedenke man, dass die Finanzverwaltung zur schnelleren Bearbeitung der Steuererklärungen im Sinne der Serviceorientierung bemüht sei, die Steuerpflichtigen zur verstärkten Nutzung der elektronischen Steuererklärung zu bewegen, die elektronische Abgabe bei der Umsatzsteuervor- und der Lohnsteueranmeldung sowie ab dem Veranlagungszeitraum 2011 für Jahreserklärungen im betrieblichen Bereich verpflichtend sei, würde bei Zugrundelegung der Rechtsauffassung des FG eine nachträgliche Änderung der Steuerbescheide zugunsten des Steuerpflichtigen aufgrund des geringeren Verschuldensmaßstabs zum Regelfall werden und das Verschuldenskorrektiv des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO entgegen der gesetzgeberischen Intention weitgehend leerlaufen. Das Einspruchsverfahren würde an Bedeutung verlieren, weil die Steuerpflichtigen auch nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist noch in großem Umfang Änderungen zu ihren Gunsten erreichen könnten.
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Grob schuldhaft hätten die Kläger auch deshalb gehandelt, weil sie den Steuerbescheid nicht daraufhin überprüft hätten, ob die Beiträge an das Versorgungswerk erfasst waren. Auch wenn das FA die Rechtslage 2004 der Besteuerung zugrunde gelegt habe, wären auch nach alter Rechtslage die Beiträge an das Versorgungswerk in der Summe der Altersvorsorgeaufwendungen im Bescheid aufgeführt worden. Diese hätten 18.457 € betragen; im Bescheid seien jedoch nur 16.294 € Versicherungsbeiträge ohne prozentuale Kürzung ausgewiesen worden. Auch sei den Klägern ein Abgleich mit dem Bescheid des Vorjahres möglich und zumutbar gewesen. Hier seien die Sonderausgaben nach der Rechtslage 2005 abgezogen worden.
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§ 173 Abs. 1 Nr. 2 AO knüpfe an Verschulden an und sei daher mit § 129 AO nicht vergleichbar.
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Das FA beantragt sinngemäß,
das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Kläger beantragen,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
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Mit dem FG vertreten sie die Auffassung, dass die Anforderungen an den Steuerpflichtigen, der das elektronische Programm Elster nutzt, niedriger sein müssten als beim Ausfüllen der Papierformulare. Zu bedenken sei auch, dass die Erklärungsvordrucke von Jahr zu Jahr geändert würden. Die Finanzbehörden müssten elektronisch ausgefüllte Vordrucke kritisch auf Fehler und Unstimmigkeiten untersuchen. Dem FA hätte der Fehler auffallen müssen. Die Beiträge zur Notarversorgungskasse seien in jedem Vorjahr angefallen. Wenn das FA die Daten nicht selbst erfassen müsse, müsse es umso kritischer die vom Steuerpflichtigen ausgefüllten Datensätze kontrollieren.
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Bei der großen Zahl von fehlerhaften Steuererklärungen könne nicht jeder Übertragungsfehler eine grobe Fahrlässigkeit sein. Eine Milderung des Verschuldensmaßstabs in § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO diene dem Rechtsfrieden und der Waffengleichheit zwischen dem FA und dem Steuerpflichtigen. Unterlaufe dem FA ein reiner Tippfehler, könne es den Bescheid jederzeit ändern; unterlaufe dem Steuerpflichtigen derselbe Fehler, müsse er dieselben Rechte haben. Im Streitfall handele es sich um einen Fall des sog. "umgekehrten § 129 AO".
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG war zu Unrecht der Ansicht, der bestandskräftige Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr könne nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zugunsten der Kläger geändert werden, weil diesen kein grobes Verschulden vorzuwerfen sei.
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Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.
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1. Allein streitig ist das Vorliegen eines groben Verschuldens.
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a) Als grobes Verschulden hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Letztere ist dann anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt hat (z.B. BFH-Urteile vom 20. November 2008 III R 107/06, BFH/NV 2009, 545, und vom 9. November 2011 X R 53/09, BFH/NV 2012, 545).
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Grob fahrlässiges Handeln liegt insbesondere vor, wenn ein Steuerpflichtiger seiner Erklärungspflicht nur unzureichend nachkommt, indem er unvollständige Steuererklärungen abgibt (z.B. BFH-Urteile vom 30. Oktober 1986 III R 163/82, BFHE 148, 208, BStBl II 1987, 161; vom 1. Oktober 1993 III R 58/92, BFHE 172, 397, BStBl II 1994, 346, und in BFH/NV 2009, 545). Beruht die unvollständige Steuererklärung auf einem Rechtsirrtum wegen mangelnder Kenntnis steuerrechtlicher Vorschriften, ist dies dem Steuerpflichtigen in der Regel nicht als grobes Verschulden anzulasten (BFH-Urteile vom 23. Februar 2000 VIII R 80/98, BFH/NV 2000, 978, und in BFH/NV 2009, 545).
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Auf einen die grobe Fahrlässigkeit ausschließenden, entschuldbaren Rechtsirrtum kann sich der Steuerpflichtige --auch wenn ihm steuerrechtliche Kenntnisse fehlen-- dann nicht berufen, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen bestimmten Vorgang bezogene und für ihn verständliche Frage nicht beantwortet (z.B. BFH-Urteile vom 23. Oktober 2002 III R 32/00, BFH/NV 2003, 441, und in BFH/NV 2009, 545, sowie in BFH/NV 2012, 545, zur Angabe von Pflichtbeiträgen Selbständiger zur gesetzlichen Rentenversicherung als Vorsorgeaufwendungen).
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b) Nach der Rechtsprechung (BFH-Urteile vom 20. März 2013 VI R 5/11, BFHE 240, 504, sowie VI R 9/12, BFHE 240, 507) handelt der Steuerpflichtige auch dann regelmäßig grob fahrlässig i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, wenn er die dem elektronischen ElsterFormular beigefügten Erläuterungen zur Einkommensteuererklärung unbeachtet lässt, soweit solche Erläuterungen für einen steuerlichen Laien ausreichend verständlich, klar und eindeutig sind (vgl. auch BFH-Urteil vom 16. Mai 2013 III R 12/12, BFHE 241, 226, zum groben Verschulden eines Beraters in Zusammenhang mit der Erstellung einer elektronischen Steuererklärung).
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2. Ob der Beteiligte im jeweiligen Einzelfall grob fahrlässig gehandelt hat, ist im Wesentlichen Tatfrage. Die dazu getroffenen Feststellungen und daraus folgenden Würdigungen des FG können --abgesehen von zulässigen und begründeten Verfahrensrügen-- von der Revisionsinstanz nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind und ob die Würdigung der Umstände hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (BFH-Urteil in BFH/NV 2012, 545, m.w.N.).
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3. Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall kann das Urteil des FG keinen Bestand haben.
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Entgegen der Annahme des FG trifft den Kläger ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden seiner Zahlungen an die Notarversorgungskasse. Im Streitjahr 2006 hat das Erklärungsformular des Elsterprogramms in Zeile 62 ausdrücklich die Frage nach den als Sonderausgaben abziehbaren Beiträgen zu berufständischen Versorgungseinrichtungen gestellt. Diese Frage hat der Kläger unbeantwortet gelassen. Beantwortet ein Steuerpflichtiger aber eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf bestimmte Vorgänge bezogene Fragen nicht, kann er sich nach ständiger Rechtsprechung nicht auf einen die grobe Fahrlässigkeit ausschließenden, entschuldbaren Rechtsirrtum berufen (vgl. z.B. BFH-Urteil in BFH/NV 2003, 441, m.w.N.).
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Entgegen der Auffassung des FG lässt der Umstand, dass der Kläger seine Steuererklärung mit Hilfe des Elsterprogramms gefertigt hat und dieses keinen vollständigen Ausdruck des Steuererklärungsformulars liefert, sondern letztlich nur die Werte und Kennziffern aufführt, zu denen der Steuerpflichtige Eintragungen vorgenommen hat, das grobe Verschulden des Klägers nicht entfallen. Denn dies mag zwar einen Nachteil der elektronischen Steuererklärung darstellen, betrifft aber nicht den Grund für die Annahme der groben Fahrlässigkeit, nämlich die fehlende An- und Eingabe im ElsterFormular selbst (BFH-Urteil in BFHE 240, 504). Zudem besteht die Möglichkeit, sich den amtlichen Erklärungsvordruck auf dem Bildschirm anzeigen zu lassen.
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Der Begriff des Verschuldens i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO bei elektronisch gefertigten Steuererklärungen ist nicht anders auszulegen als bei schriftlich gefertigten Erklärungen. Es gibt hier kein Sonderrecht (BFH-Urteile in BFHE 240, 504; in BFHE 240, 507, und in BFHE 241, 226). Bei Anwendung des Verschuldensmaßstabs des FG wäre im Übrigen ein grobes Verschulden bei unterlassenen Eintragungen im Erklärungsvordruck des ElsterProgramms kaum denkbar; Änderungen nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO wären --entgegen der gesetzgeberischen Intention-- die Regel.
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Im Streitfall trifft den Kläger zudem ein grobes Verschulden bei der Prüfung der Steuererklärung. Der Vergleich der festgesetzten Steuer mit der Probeberechnung des ElsterProgramms ist nicht geeignet, unterlassene Eintragungen im Programm aufzudecken, da diese zwangsläufig in die Probeberechnung nicht eingehen können. Bei einer Prüfung des Steuerbescheids hätte dem Kläger angesichts der Höhe seiner Beiträge zum Versorgungswerk (diese haben 18.457 € betragen; im Bescheid sind jedoch nur insgesamt 16.294 € Versicherungsbeiträge aufgeführt) auffallen müssen, dass ein erheblicher Betrag nicht in die Steuerberechnung eingegangen ist. Das FA hat im Revisionsverfahren vorgetragen, die abziehbaren Vorsorgeaufwendungen im Jahr 2005 seien nach der Rechtslage des Jahres 2005 berechnet worden. Trifft dies zu --entsprechende Feststellungen des FG fehlen-- ist das Verschulden des Klägers bei der Prüfung seines Steuerbescheids für 2006 offensichtlich. Jeder Steuerpflichtige würde sich die Frage stellen, weshalb sich 2005 die abziehbaren Vorsorgeaufwendungen nach der Rechtslage des Jahres 2005 berechnen, die Vorsorgeaufwendungen des Jahres 2006 jedoch --da für ihn vorteilhaft-- nach der Rechtslage im Jahr 2004. Doch selbst wenn die Sonderausgaben im Jahr 2005 nicht nach der Rechtslage des Jahres 2005 berechnet worden sind, hätte die Tatsache, dass für das Streitjahr 2006 die abziehbaren Vorsorgeaufwendungen nach der Rechtslage des Jahres 2004 wegen des günstigeren Ergebnisses berechnet worden sind, den Kläger wenigstens zu Nachfragen beim FA veranlassen müssen. Das Inkrafttreten des Alterseinkünftegesetzes und die damit verbundene bessere Abziehbarkeit der Vorsorgeaufwendungen ab dem 1. Januar 2005 muss dem Kläger angesichts der umfassenden Berichterstattung in den Medien bekannt gewesen sein.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
(1) Steuerbescheide sind aufzuheben oder zu ändern,
- 1.
soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen, - 2.
soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Das Verschulden ist unbeachtlich, wenn die Tatsachen oder Beweismittel in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit Tatsachen oder Beweismitteln im Sinne der Nummer 1 stehen.
(2) Abweichend von Absatz 1 können Steuerbescheide, soweit sie auf Grund einer Außenprüfung ergangen sind, nur aufgehoben oder geändert werden, wenn eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt. Dies gilt auch in den Fällen, in denen eine Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 ergangen ist.
Tenor
Unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 28. Februar 2013 und der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 2. Oktober 2013 wird der Beklagte verpflichtet, den Einkommensteuerbescheid 2011 vom 1. August 2012 dahingehend zu ändern, dass zusätzliche Werbungskosten in Höhe von 6.167,15 Euro berücksichtigt werden.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
1
T a t b e s t a n d :
2Die Klägerin ist Rechtsanwältin und als solche im Bereich des Unternehmensrechts tätig. Im Jahr 2012 fertigte sie - erstmals eigenständig - ihre Steuererklärung für das Jahr 2011 an. Im Hinblick auf eine von ihr vermietete Eigentumswohnung erklärte sie dabei auch Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung. Als Werbungskosten gab sie dabei u.a. Schuldzinsen für zwei Darlehen zur Finanzierung der vermieteten Wohnung in Höhe von insgesamt 2.059,75 Euro an. Damit übertrug sie in ihre Steuererklärung die Werte zweier Steuerbescheinigungen, welche ihr die finanzierende A-Bank über gezahlte Schuldzinsen hinsichtlich der beiden Darlehen zugesandt hatte. Laut Betreffzeile waren diese Bescheinigungen jeweils für den Zeitraum 1. Januar 2011 bis 31. März 2011 ausgestellt worden.
3Der Beklagte erließ am 1. August 2012 gegenüber der Klägerin den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2011. Die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung berücksichtigte der Beklagte erklärungsgemäß mit einem Verlust in Höhe von 431 Euro.
4Am 15. Februar 2013 erhielt die Klägerin aufgrund einer „technischen Umstellung“ von ihrer Bank zwei Darlehenskontoauszüge mit der Aufstellung der im Zeitraum 1. April 2011 bis 31. Dezember 2011 gezahlten Schuldzinsen in Höhe von insgesamt 6.167,15 Euro.
5Die Klägerin beantragte mit Schreiben ebenfalls vom 15. Februar 2013 beim Beklagten, diese Schuldzinsen im Steuerbescheid für 2011 zusätzlich zu berücksichtigen. Mit Bescheid vom 28. Februar 2013 lehnte der Beklagte eine Änderung ab.
6Hiergegen legte die Klägerin fristgerecht Einspruch ein, welchen der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 2. Oktober 2013 als unbegründet zurückwies.
7Die Klägerin hat am 4. November 2013 Klage erhoben. Sie macht geltend, dass die Voraussetzungen für eine Änderung der Steuerfestsetzung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) vorlägen. Die weiteren Schuldzinsen seien ihr erst nachträglich bekannt geworden. Es läge auch kein grobes Verschulden ihrerseits am nachträglichen Bekanntwerden vor. Seit dem Erwerb der vermieteten Eigentumswohnung habe sie zum ersten Mal die Steuererklärung selbst gefertigt. Sie habe für die Anfertigung der Steuererklärung die gleichen Belege herangezogen, die sie in den Vorjahren ihrem Steuerberater habe zukommen lassen. Da in den Vorjahren die gesamten Schuldzinsen des jeweiligen Jahres in der Zinsbescheinigung ausgewiesen worden seien, habe sie auch für das Streitjahr davon ausgehen können. Eine technische Umstellung seitens der Bank habe sie nicht vorhersehen können. Außerdem habe sie die zweite Bescheinigung nicht kurz nach Abgabe der Steuererklärung, sondern erst über ein Jahr später erhalten.
8Aus der Tatsache, dass sie Juristin sei, könne kein grobes Verschulden abgeleitet werden. Sie habe zum einen keine steuerrechtliche Vorbildung. Zum anderen gehe es vorliegend auch nicht um eine Rechtsfrage, bei der die persönliche Qualifikation entscheidend wäre, sondern vielmehr um ein bloßes Übertragen der Werte aus einer Bescheinigung in die Steuererklärung, wofür kein Fachwissen erforderlich sei. Dabei sei ihr eine bloße Nachlässigkeit passiert.
9Bei den Schuldzinsen handele es sich zwar um wiederkehrende Werbungskosten, solange das Darlehen finanziert werde. Jedoch seien die Beträge nicht konstant gewesen. Sie habe nicht ihre Sorgfaltspflicht verletzt, wenn sie nicht wisse, wie hoch der monatliche Tilgungs- bzw. Zinsanteil sei.
10Die Klägerin beantragt sinngemäß,
11unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 28. Februar 2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 2. Oktober 2013 den Beklagten zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid 2011 vom 1. August 2012 dahingehend zu ändern, dass zusätzliche Werbungskosten i.H.v. 6.167,15 Euro berücksichtigt werden.
12Der Beklagte beantragt,
13die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Revision zuzulassen.
14Er vertritt die Auffassung, dass eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht erfolgen könne, da die Klägerin ein grobes Verschulden treffe. Ein grobes Verschulden liege insbesondere dann vor, wenn Werbungskosten nicht geltend gemacht würden, weil die entsprechenden Belege aus irgendwelchen Gründen nicht greifbar seien. Die Klägerin als Rechtsanwältin verfüge über umfassende allgemeine Rechtskenntnisse. Trotz dieser persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten habe sie ungeachtet des Hinweises auf den Zeitraum in den ersten Bescheinigungen nicht nach den Bescheinigungen für den übrigen Zeitraum gesucht oder diese bei der Bank angefordert. Die Hervorhebungen des Zeitraums in den Betreffzeilen seien deutlich gewesen.
15Der Beklagte trägt außerdem vor, dass die Vorlage der Bescheinigung nicht Voraussetzung für die Berücksichtigung der Schuldzinsen sei, was der Klägerin als Rechtsanwältin hätte klar sein müssen. Es wäre ihr selbst ohne jegliche Bescheinigung möglich gewesen, die gezahlten Schuldzinsen anhand ihrer Kontoauszüge zu ermitteln und in die Steuererklärung einzutragen.
16Ferner hätte ihr sich aus der Differenz der Zinsaufwendungen im Vergleich zu den Zinsaufwendungen der Vorjahre aufdrängen müssen, dass die Angaben fehlerhaft gewesen seien. Die Klägerin hätte hinterfragen müssen, warum die Schuldzinsen sich bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung in ungewöhnlichem Maße vermindert haben sollten.
17Die Klägerin müsse sich darüber hinaus ein grobes Verschulden bei der Prüfung des Einkommensteuerbescheides vom 1. August 2012 vorwerfen lassen. Bei der Durchsicht des Steuerbescheides hätte ihr auffallen müssen, dass die Verluste aus Vermietung und Verpachtung im Jahr 2011 um ca. 6.000 Euro geringer waren als im Vorjahr.
18Der Bundesfinanzhof (BFH) habe in einem Urteil vom 29. Juni 1984 (VI R 181/80) klargestellt, dass die Nichtangabe eines Darlehens in der Steuererklärung auch beim erst nachträglichen Eingang der Bankbescheinigung ein grobes Verschulden des Steuerpflichtigen darstelle. Auch habe der BFH mit Urteil vom 18. März 2014 (X R 8/11) erst jüngst noch einmal bestätigt, dass ein grobes Verschulden vorläge, wenn eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte Frage nicht beantwortet werde.
19Mit Beschluss vom 10. Februar 2015 ist der Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden.
20E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
21Die zulässige Klage ist begründet.
22Der Ablehnungsbescheid vom 28. Februar 2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 2. Oktober 2013 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 101 Satz 1 FGO).
23Die von der Klägerin gezahlten Schuldzinsen i.H.v. 6.167,15 Euro sind gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO im Wege einer Änderung der Einkommensteuerfestsetzung 2011 steuermindernd als Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung zu berücksichtigen.
24I. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung sind Steuerbescheide zu ändern, soweit Tatsachen nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen erst nachträglich bekannt werden.
25Die Voraussetzungen der Vorschrift sind im Streitfall erfüllt.
26- 27
1. Nachträglich bekannt gewordene Tatsachen sind die Schuldzinszahlungen der Klägerin im Jahr 2011 auf die für die vermietete Wohnung aufgenommenen Darlehen, soweit sie die bereits in der Steuererklärung erklärten Zinszahlungen übersteigen. Die Zahlung dieser Zinsen ist dem Beklagten erst am 15. Februar 2013 und somit erst etwa ein halbes Jahr nach dem Erlass des Steuerbescheides für 2011 von der Klägerin mitgeteilt worden.
- 28
2. Die Klägerin trifft auch kein grobes Verschulden daran, dass sie dem Beklagten die Zahlung der zusätzlichen Schuldzinsen erst nachträglich mitgeteilt hat. Grobes Verschulden bedeutet Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit, jedoch nicht einfache Fahrlässigkeit (von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 173 AO Rz. 85). Grob fahrlässig handelt der Steuerpflichtige nach ständiger Rechtsprechung des BFH, wenn er die Sorgfalt, zu der er nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten verpflichtet und imstande ist, in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt (vgl. etwa BFH, Urteil vom 9. Mai 2012 I R 73/10, Bundessteuerblatt – BStBl. – II 2013, 566, unter II.1.c aa). Fehler, die üblicherweise vorkommen und mit denen immer gerechnet werden muss, wie z.B. Vergessen, Irrtümer und bloße Nachlässigkeiten, begründen hingegen kein grobes Verschulden (Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 173 AO Rz. 78 m.w.N.). Um einen derartigen Fehler handelt es sich im Streitfall.
a) Zwar ist dem Beklagten insoweit zuzustimmen, als sich sowohl bei sorgfältiger Durchsicht der übersandten Zinsbescheinigungen als auch bei einem Abgleich der aufgelisteten Zinsen mit den Kontoauszügen ergeben hätte, dass die bescheinigten Zinszahlungen nicht die vollständigen Zinszahlungen im Jahr 2011 darstellten. Insofern handelte die Klägerin bei der unvollständigen Angabe der Schuldzinsen in ihrer Steuererklärung für das Jahr 2011 fahrlässig. Gleichwohl ist die Grenze von der einfachen zur groben Fahrlässigkeit nicht überschritten. Eine Verletzung der bestehenden Sorgfaltspflicht liegt nämlich zwar vor, jedoch nicht „in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise“.
30b) Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass es atypisch ist, dass eine Bank eine Steuerbescheinigung versendet, die sich auf die Zinszahlungen nur weniger Monate des Jahres bezieht. Im Streitfall handelte sich um einen Sonderfall aufgrund einer technischen Umstellung. Die Klägerin ging dementsprechend fälschlich von der Annahme aus, dass die Zinsbescheinigungen – wie im Regelfall auch üblich – das ganze Jahr abdeckten. Dabei ist in die Bewertung des Grades der Sorgfaltspflichtverletzung mit einzubeziehen, dass für das Anfertigen einer Steuererklärung eine ganze Reihe von Angaben mit zugrundeliegenden Belegen erforderlich ist, so dass es einen nicht unüblichen Fehler darstellt, wenn ein nicht beratener Steuerpflichtige einen Hinweis auf einem dieser Belege übersieht.
31c) Sofern der Beklagte auf die persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten der als Rechtsanwältin tätigen Klägerin abstellt, ist festzustellen, dass die Klägerin zum ersten Mal selbständig eine Steuererklärung ausfüllte und auch über keine steuerrechtlichen Kenntnisse verfügte. Letztlich kommt es auf die (steuer)rechtlichen Kenntnisse der Klägerin vorliegend aber nicht an. Die Ausführungen des Beklagten, die Klägerin hätte als Rechtsanwältin zum einen wissen müssen, dass die Vorlage einer Zinsbescheinigung keine materielle Voraussetzung für den Schuldzinsenabzug ist und zum anderen die Höhe der gezahlten Schuldzinsen auch ohne Bescheinigung selbst errechnen können, gehen im Streitfall fehl. Die Klägerin trägt nämlich vor, dass sie davon ausging, bei den in den bereits bei Anfertigung der Steuererklärung vorliegenden Bescheinigungen aufgeführten Zinsen habe es sich um die gesamten Zinszahlungen des Jahres 2011 gehandelt. Diese Aussage hält das Gericht nach einer umfassenden Würdigung der Gesamtumstände des Streitfalles für überzeugend. Die Klägerin ging gerade nicht davon aus, Schuldzinsen erst dann geltend machen zu können, wenn eine entsprechende Bescheinigung vorliegt. Dies spiegelt sich auch in dem Schreiben der Klägerin vom 15. Februar 2013 an den Beklagten wider. Bereits in diesem Schreiben hatte die Klägerin – ohne die Rechtsauffassung des Beklagten zu diesem Zeitpunkt kennen zu können – ausgeführt, dass sie erst am selben Tage erfahren habe, dass sie in ihrer Steuererklärung nicht den vollen Betrag der Zinszahlungen angesetzt hatte und spricht in diesem Zusammenhang von einem „sehr unglücklichen Umstand“. Gleichzeitig bittet sie in diesem Schreiben um Überprüfung, ob sie dies noch vortragen könne. Eine rechtliche Fehleinschätzung der Klägerin liegt somit nicht vor. Insofern ist es auch unerheblich, ob die Klägerin die Fähigkeit gehabt hätte, die gezahlten Zinsen auch ohne die Bescheinigungen zu berechnen, da die Nachlässigkeit der Klägerin darin bestand, dass sie davon ausging, die gezahlten Zinsen bereits vollständig erklärt zu haben.
32d) Der hier vorgenommenen Würdigung stehen auch nicht die vom Beklagten angeführten Urteile des BFH vom 29. Juni 1984 (VI R 181/80, BStBl. II 1984, 693) und vom 18. März 2014 (X R 8/11, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH – BFH/NV – 2014, 1347) entgegen. Der BFH hatte im erstgenannten Urteil ausgeführt, dass ein grobes Verschulden des Steuerpflichtigen vorliegt, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen ganz bestimmten Vorgang bezogene Frage nicht beachtet. Auf der gleichen Linie liegt das Urteil des X. Senats des BFH vom 18. März 2014 (a.a.O.). Der BFH bestätigte in diesem Urteil seine ständige Rechtsprechung, dass sich der Steuerpflichtige auch bei fehlenden steuerrechtlichen Kenntnissen nicht auf einen die grobe Fahrlässigkeit ausschließenden, entschuldbaren Rechtsirrtum berufen könne, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen bestimmten Vorgang bezogene und für ihn verständliche Frage nicht beantwortet.
33Der hier zu beurteilende Sachverhalt unterscheidet sich von den vom BFH zu entscheidenden Sachverhalten maßgeblich, als der Klägerin bewusst gewesen ist, dass die im Hinblick auf die vermietete Immobilie gezahlten Schuldzinsen in der Steuererklärung als Werbungskosten anzugeben sind, was sie auch vom Grunde her getan hat. Lediglich hinsichtlich der Höhe ist aufgrund der atypischen Steuerbescheinigung bei ihr ein Irrtum erzeugt worden. Es liegt somit weder ein (vermeidbarer) Rechtsirrtum über die steuerliche Bedeutung der Schuldzinsen als solche noch ein „Vergessen“ eines Darlehens trotz einer ausdrücklich gestellten Frage im Steuererklärungsformular vor.
34Sofern der BFH in einem weiteren Urteil ausgeführt hat, dass ein grobes Verschulden des Steuerpflichtigen vorliegt, wenn dieser eine ausdrücklich gestellte Frage „nur unvollständig“ beantwortet (BFH, Urteil vom 28. Juli 2011 IX B 47/11, BFH/NV 2012, 1), betraf dies die Konstellation, dass die Steuerpflichtigen in ihrer Steuererklärung zwar diverse Schuldzinsen erklärten, ein Darlehen jedoch vollständig „vergaßen“. Insofern kann nichts anderes gelten, als wenn nur ein Darlehen vorhanden ist und dieses nicht angegeben wird. Eine Aussage des BFH, dass eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO per se ausgeschlossen sei, sofern ein bloßer Zusammenhang der nachträglich bekannt gewordenen Tatsache mit einer in der Steuererklärung gestellten Frage besteht, kann darin jedoch nicht gesehen werden.
35II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
36III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
37IV. Die Revision war nicht zuzulassen. Eine vom Beklagten geltend gemachte Abweichung in einer Rechtsfrage von einer Entscheidung des BFH i.S.d. § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO liegt, wie unter I.2.d) ausgeführt, nicht vor. Zum anderen ist die Frage, ob ein Beteiligter grob schuldhaft gehandelt hat, vom Finanzgericht als Tatsacheninstanz anhand der Umstände des Einzelfalles zu entscheiden (BFH, Urteil vom 28. Juli 2011 IX B 47/11, BFH/NV 2012, 1). Die Würdigung der Einzelfallumstände ist auch nicht grundsätzlich bedeutsam i.S.d. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.
Tatbestand
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I. Die Beteiligten streiten darüber, ob Steuerbescheide zugunsten des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) geändert werden müssen.
- 2
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Der Kläger wohnte in den Streitjahren (2005 und 2006) in den Niederlanden. In der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) erzielte er Einkünfte aus selbständiger Arbeit, mit denen er der beschränkten Steuerpflicht unterlag. Außerdem bezog er seit 2004 eine Berufsunfähigkeitsrente, die in den Niederlanden zu versteuern war.
- 3
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Im Rahmen seiner Veranlagung zur Einkommensteuer 2004 hatte der Kläger unter anderem beantragt, die Einnahmen aus der Rente in die Bemessungsgrundlage für die deutsche Steuer einzubeziehen. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) hatte dies mit der Begründung abgelehnt, die Rente müsse nach dem insoweit maßgeblichen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (DBA) in den Niederlanden versteuert werden. Daraufhin hatte der Kläger einen insoweit eingelegten Einspruch zurückgenommen.
- 4
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In den Einkommensteuerbescheiden für die Streitjahre berücksichtigte das FA Einkünfte des Klägers aus selbständiger Arbeit in der vom Kläger erklärten Höhe von 38.456 € (2005) und 49.103 € (2006). Die Steuererklärungen und die dazugehörenden Gewinnermittlungen hatte eine Steuerberaterin (S) erstellt. Die Steuerbescheide ergingen am 26. Juli 2007 (2005) und am 16. Juni 2008 (2006) und wurden nicht innerhalb der Rechtsbehelfsfristen angefochten.
- 5
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Im Jahr 2009 beantragte der Kläger, die Bescheide nach § 174 der Abgabenordnung (AO) zu ändern. In ihnen seien Beträge von 14.995,60 € (2005) und 15.040,80 € (2006) berücksichtigt, bei denen es sich um die in den Niederlanden zu versteuernden Rentenbezüge handele. Diese Beträge waren in den Gewinnermittlungen des Klägers in den Konten "Umsatzerlöse Seminare" (2005) und "Einnahmen, Versicherungen" (2006) enthalten gewesen. Das FA lehnte die beantragte Änderung ab. Ein Einspruch des Klägers, der sein Begehren nunmehr auf § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO stützte, hatte ebenso wie die anschließend erhobene Klage keinen Erfolg. Das klageabweisende Urteil des Finanzgerichts (FG) Düsseldorf vom 7. Juli 2010 7 K 369/10 E ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2010, 2045 abgedruckt.
- 6
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Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Er beantragt sinngemäß, das FG-Urteil aufzuheben und das FA zu verpflichten, die Einkommensteuerbescheide 2005 und 2006 zu ändern und dabei die Einkünfte aus selbständiger Arbeit mit um 14.977 € (2005) und 15.037 € (2006) verminderten Beträgen zu berücksichtigen.
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Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet und führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz kommt im Streitfall eine Änderung der Einkommensteuerbescheide gemäß § 174 Abs. 1 Satz 1 AO in Betracht. Um beurteilen zu können, ob dessen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, bedarf es jedoch noch weiterer tatsächlicher Feststellungen.
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1. Frei von Rechtsfehlern hat das FG entschieden, dass die vom Kläger begehrte Änderung der Steuerbescheide nicht auf § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO gestützt werden kann.
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a) Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Unter bestimmten Voraussetzungen ist ein grobes Verschulden in diesem Zusammenhang unerheblich (§ 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO); ein solcher Sachverhalt liegt aber im Streitfall nicht vor.
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b) Im Streitfall ist dem FA, auf dessen Kenntnis es bei der Anwendung des § 173 AO ankommt, eine Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO nachträglich bekannt geworden. Denn das FA hat erst nach Durchführung der Veranlagungen und sogar erst nach Eintritt der Unanfechtbarkeit der Steuerbescheide erfahren, dass der Kläger in seinen Steuererklärungen Einnahmen aus der in den Niederlanden bezogenen Berufsunfähigkeitsrente angegeben und den steuerpflichtigen Einkünften zugeordnet hatte. Diese Tatsache führt deshalb zu einer niedrigeren Steuer, weil die daraufhin in den Bescheiden erfassten Einkünfte in Deutschland nicht hätten besteuert werden dürfen. Das ist zwischen den Beteiligten unstreitig und bedarf deshalb keiner näheren Erörterung.
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c) Eine Änderung der Bescheide nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO scheidet jedoch deshalb aus, weil die unrichtige Angabe der Einkünfte dem Kläger als grobes Verschulden anzulasten ist.
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aa) Ein grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO liegt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) vor, wenn jemand die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße verletzt (BFH-Urteil vom 15. Juli 2010 III R 32/08, BFH/NV 2010, 2237, m.w.N.). Ob ein solcher Sachverhalt im Einzelfall vorliegt, ist Tatfrage (BFH-Beschluss vom 17. Februar 2010 IX B 199/09, BFH/NV 2010, 1079) und in erster Linie vom FG zu beurteilen. Dessen Würdigung kann im Revisionsverfahren nur daraufhin überprüft werden, ob sie auf einer rechtsfehlerhaften Auslegung des Begriffs "grobes Verschulden" oder auf einem Verfahrensfehler beruht oder ob sie gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstößt (BFH-Beschluss vom 31. Januar 2005 VIII B 18/02, BFH/NV 2005, 1212; BFH-Urteil vom 3. Dezember 2009 VI R 58/07, BFHE 227, 365, BStBl II 2010, 531). Fehlt es daran, so ist die Beurteilung durch das FG auch dann revisionsrechtlich bindend (§ 118 Abs. 2 FGO), wenn eine abweichende Einschätzung ebenfalls vertretbar wäre.
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bb) Im Streitfall weist die vom FG vorgenommene Würdigung keinen derartigen Rechtsfehler auf. Das FG hat insbesondere beachtet, dass sich ein Steuerpflichtiger im Zusammenhang mit § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO das Verschulden eines von ihm hinzugezogenen steuerlichen Beraters wie eigenes Verschulden zurechnen lassen muss (BFH-Urteil vom 17. November 2005 III R 44/04, BFHE 211, 401, BStBl II 2006, 412, m.w.N.) und dass von einem steuerlichen Berater die Kenntnis und sachgemäße Anwendung steuerrechtlicher Bestimmungen erwartet werden kann (BFH-Urteil vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324). Wenn die Vorinstanz auf dieser Basis zu der Einschätzung gelangt ist, dass zumindest S ein grobes Verschulden traf, so liegt darin kein vom Revisionsgericht zu beanstandender Fehler. Diese Würdigung wird nicht nur durch den Umstand gestützt, dass ein steuerlicher Berater die Angaben seines Mandanten nicht ungeprüft übernehmen darf, sondern eigenverantwortlich aus dem steuerrechtlichen Blickwinkel überprüfen und bei Unklarheiten ggf. Nachfrage halten muss. Vielmehr bestand gerade im Streitfall eine besondere Sorgfaltspflicht deshalb, weil S wusste, dass der Kläger in seiner Einkommensteuererklärung für 2004 die Rentenzahlungen fälschlich den im Inland zu versteuernden Einkünften zugeordnet hatte. Angesichts dessen ist die Annahme des FG, dass S die ihr vom Kläger vorgelegten Unterlagen unter diesem Gesichtspunkt hätte überprüfen müssen und dass ihr bei einer solchen Überprüfung der Fehler aufgefallen wäre, nicht zu beanstanden. Die von der Revisionserwiderung aufgeworfene Frage, ob insoweit auch den Kläger selbst ein grobes Verschulden trifft, muss deshalb im Streitfall nicht erörtert werden.
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2. Jedoch bietet § 174 Abs. 1 Satz 1 AO eine Grundlage für eine Änderung der Steuerbescheide zugunsten des Klägers. Diese Vorschrift setzt voraus, dass ein bestimmter Sachverhalt in mehreren Steuerbescheiden zuungunsten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger berücksichtigt worden ist, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen; in diesem Fall ist der fehlerhafte Steuerbescheid auf Antrag aufzuheben oder zu ändern (§ 174 Abs. 1 Satz 1 AO). Die Voraussetzungen dieser Korrekturvorschrift würden hier vorliegen, wenn die dem Kläger in den Streitjahren zugeflossene Berufsunfähigkeitsrente nicht nur in den vom FA erlassenen Steuerbescheiden erfasst, sondern auch im Rahmen der in den Niederlanden vorgenommenen Besteuerung zuungunsten des Klägers berücksichtigt worden wäre.
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a) Die Frage, ob der in § 174 AO verwendete Begriff "Steuerbescheid" nur nach inländischem Recht erlassene Verwaltungsakte (so z.B. von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO, § 174 AO Rz 26, m.w.N.; Frotscher in Schwarz, AO, § 174 Rz 56, Koenig in Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 174 Rz 12; Haug-Adrion, Der Betrieb --DB-- 1985, 1969) oder auch damit vergleichbare Maßnahmen ausländischer Behörden umfasst (so Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 174 AO Rz 8; Klein/Rüsken, AO, 11. Aufl., § 174 Rz 15; Birkenfeld, Betriebs-Berater 1993, 1185, 1187; App, DB 1985, 939, 941), ist im Schrifttum streitig. Der Senat folgt der letztgenannten Auffassung jedenfalls insoweit, als --wie im Streitfall-- Maßnahmen von Steuerbehörden von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) in Rede stehen.
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aa) Für eine Begrenzung auf inländische Verwaltungsakte kann allerdings ins Feld geführt werden, dass der Begriff "Steuerbescheid" nach der allgemeinen Terminologie der Abgabenordnung (in § 155 Abs. 1 Satz 2 AO) einen Verwaltungsakt bezeichnet, durch den eine von einer Bundesfinanzbehörde oder einer Landesfinanzbehörde (vgl. § 6 Abs. 2 AO) verwaltete Steuer (§ 1 Abs. 1 Satz 1 AO) festgesetzt wird (§ 155 Abs. 1 Satz 1 AO). Dem Zweck des § 174 AO, der darin besteht, Vorteile und Nachteile auszugleichen, die sich durch einander inhaltlich widersprechende Steuerbescheide ergeben (vgl. von Wedelstädt in Beermann/Gosch, a.a.O., § 174 AO Rz 3), kann indes eine zwingende Begrenzung dahin, dass ein (unrichtiger) inländischer Bescheid nur geändert werden darf, wenn der inhaltliche Widerspruch zu einem anderem inländischen Bescheid besteht, nicht entnommen werden. Die in § 174 AO angelegte Durchbrechung der Bestandskraft des Steuerbescheids zugunsten der materiellen Richtigkeit der Besteuerung ist der Sache nach vielmehr nicht minder gerechtfertigt, wenn der in Rede stehende Widerspruch zwischen dem (unrichtigen) inländischen Steuerbescheid und einem von einer ausländischen Behörde erlassenen Steuerbescheid besteht.
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bb) Die von Wortlaut (vgl. § 155 Abs. 1 Satz 1 AO: "soweit nichts anderes vorgeschrieben ist") und Zweck der Norm her mögliche Einbeziehung ausländischer Verwaltungsakte in den Anwendungsbereich des § 174 Abs. 1 AO ist unter dem Aspekt der unionsrechtskonformen Auslegung der nationalen Rechtsnormen jedenfalls insoweit geboten, als es um die Berücksichtigung von Steuerbescheiden geht, die von Steuerbehörden aus EU-Mitgliedstaaten erlassen worden sind.
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aaa) Aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaftsorgane (Art. 4 Abs. 3 des Vertrages über die Europäische Union --EUV-- i.d.F. des Vertrags von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft [Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2007, Nr. C 306, S. 1] bzw. --bezogen auf die Streitjahre-- Art. 10 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft --EG-- i.d.F. des Vertrages von Nizza zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte [Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 2002, Nr. C 325, 1]; vgl. dazu von Bogdandy/Schill in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 4 EUV Rz 47 ff.) folgt der auch die nationalen Gerichte bindende Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung des innerstaatlichen Rechts (Zuleeg, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1994, 154, 165 ff.; von Bogdandy/ Schill in Grabitz/Hilf/Nettesheim, a.a.O., Art. 4 EUV Rz 94, m.w.N.). Danach haben die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und unter Anwendung der Auslegungsmethoden alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von dem Gemeinschaftsrecht verfolgten Ziel übereinstimmt (Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften [seit 2009 Gerichtshof der Europäischen Union] --EuGH-- vom 4. Juli 2006 C-212/04 "Adeneler", Slg. 2006, I-6057; vom 19. Januar 2010 C-555/07 "Kücükdeveci", Slg. 2010, I-365, DB 2010, 228). Der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung findet seinen primären Anwendungsbereich zwar in den durch EU-Richtlinien harmonisierten Rechtsbereichen. Dazu gehören nach ständiger Spruchpraxis des EuGH mangels einer einschlägigen Unionsregelung nicht die Verfahrensmodalitäten, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen; vielmehr sind diese nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats. Nach ebenfalls ständiger Spruchpraxis des EuGH dürfen diese Verfahrensmodalitäten aber nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art regeln --Äquivalenzgrundsatz--, und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren --Effektivitätsgrundsatz-- (vgl. z.B. EuGH-Urteile vom 7. Januar 2004 C-201/02 "Wells", Slg. 2004, I-723, Rz 67; vom 19. September 2006 C-392/04 und C-422/04 "i-21 Germany und Arcor", Slg. 2006, I-8559, Rz 57; vom 30. Juni 2011 C-262/09 "Meilicke u.a.", Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2011, 1262). Der besagte Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung gilt insbesondere mit Blick auf die unionsrechtlichen Grundfreiheiten deshalb auch darüber hinaus (vgl. Schön in Veröffentlichungen der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e.V., Bd. 19 (1996), S. 167, 180; Gosch, DStR 2007, 1553, 1555; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl., Rz 3.54, 3.57; Kahl in Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 4 EUV Rz 92 f.; Drüen in Tipke/ Kruse, a.a.O., § 4 AO Rz 240).
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bbb) Im Lichte der unionsrechtlichen Grundfreiheiten erscheint dem Senat eine Auslegung des § 174 Abs. 1 AO dahingehend, dass ein fehlerhafter inländischer Steuerbescheid auch dann geändert werden kann, wenn der widerstreitende Steuerbescheid von der Behörde eines Mitgliedstaats der EU erlassen wurde, vorzugswürdig. Selbst wenn --wie im Streitfall-- keine der speziellen Grundfreiheiten (z.B. Niederlassungsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit oder Kapitalverkehrsfreiheit) einschlägig ist, ist zumindest der Anwendungsbereich des Art. 18 EG (jetzt: Art. 21 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, ABlEU 2008, Nr. C 115, S. 47) berührt, der jedem Unionsbürger das Recht gewährt, sich --vorbehaltlich bestimmter Beschränkungen und Bedingungen-- im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Diese Vorschrift vermittelt eine allgemeine Grundfreiheit, die auch bei der Wahrnehmung von Besteuerungsbefugnissen zu beachten ist (EuGH-Urteil vom 11. September 2007 C-76/05 "Schwarz und Gootjes-Schwarz", Slg. 2007, I-6849, BFH/NV 2008, Beilage 1, 5).
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Eine Beschränkung des § 174 Abs. 1 AO auf ausschließlich inländische Steuerbescheide würde zwar nicht zu einer Diskriminierung ausländischer oder im Ausland wohnhafter Steuerpflichtiger im Vergleich zu deutschen oder im Inland wohnhaften Steuerpflichtigen führen. Denn der daraus resultierende Ausschluss der Korrekturmöglichkeit nach § 174 Abs. 1 AO würde in gleicher Weise auch deutsche Staatsangehörige oder im Inland wohnhafte Steuerpflichtige treffen, zu deren Ungunsten ein widerstreitender Steuerbescheid einer ausländischen Finanzbehörde ergangen ist.
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Jedoch folgt aus den unionsrechtlich verbürgten Grundfreiheiten über die Diskriminierungsverbote hinaus ein Beschränkungsverbot, von dem auch Inländer profitieren, wenn sie grenzüberschreitend oder im EU-Ausland tätig sind (vgl. zur Arbeitnehmerfreizügigkeit EuGH-Urteil vom 12. Dezember 2002 C-385/00 "de Groot", Slg. 2002, I-11819, BFH/NV 2003, Beilage 2, 75; zur Niederlassungsfreiheit EuGH-Urteil vom 13. April 2000 C-251/98 "Baars", Slg. 2000, I-2787; zur Kapitalverkehrsfreiheit EuGH-Urteile vom 6. Juni 2000 C-35/98 "Verkooijen", Slg. 2000, I-4071, und vom 21. November 2002 C-436/00 "X und Y", Slg. 2002, I-10829, BFH/NV 2003, Beilage 2, 92; Schön, Steuerberater-Jahrbuch 2003/2004, 27, 31; Schaumburg, a.a.O., Rz 4.16).
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Ein Ausschluss der Korrekturmöglichkeit nach § 174 Abs. 1 AO bei Widerstreit eines inländischen Steuerbescheids mit einem solchen aus einem EU-Mitgliedstaat würde eine Beschränkung der jeweils einschlägigen Grundfreiheit darstellen. Denn die Steuerpflichtigen --unabhängig von ihrer Nationalität und Ansässigkeit--, die international aktiv und dadurch in mehr als einem Mitgliedstaat steuerpflichtig sind, würden gegenüber solchen Steuerpflichtigen benachteiligt, deren Aktivitäten sich auf das Inland beschränken und die deshalb mit ihren Steuerangelegenheiten nur einem Fiskus unterworfen sind.
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Ein triftiger Grund dafür, widerstreitende Steuerbescheide ausländischer Behörden nicht zum Anlass für Korrekturen nach § 174 Abs. 1 AO zu nehmen, ist nicht ersichtlich. Der Gesichtspunkt der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten (vgl. z.B. EuGH-Urteil vom 25. Februar 2010 C-337/08 "X-Holding", Slg. 2010, I-1215, BFH/NV 2010, 1064) ist nicht berührt; denn über § 174 Abs. 1 AO kann ein Bescheid nur insoweit geändert werden, als er fehlerhaft ist (BFH-Beschluss vom 17. Februar 2005 II B 115/03, BFH/NV 2005, 1004), eine Besteuerungsbefugnis des deutschen Fiskus also materiell-rechtlich nicht besteht. Es bleibt der Umstand, dass sich die deutschen Finanzbehörden bei Berücksichtigung auch ausländischer Rechtsakte ggf. mit ausländischem Steuerrecht befassen müssen, wenn es z.B. zum Zwecke der Berechnung der Antragsfrist gemäß § 174 Abs. 1 Satz 2 AO um den Zeitpunkt der Unanfechtbarkeit des letzten der widerstreitenden Bescheide geht. Diese Erschwernis erscheint aber hinnehmbar und nicht derart gravierend, dass sie einer Auslegung der Vorschrift im vom Senat vertretenen Sinne ernstlich entgegensteht.
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b) Die weiteren Voraussetzungen einer Änderung nach § 174 Abs. 1 AO wären im Streitfall erfüllt.
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aa) Wäre die Berufsunfähigkeitsrente auch vom niederländischen Fiskus besteuert worden, wäre "ein bestimmter Sachverhalt" in mehreren Steuerbescheiden berücksichtigt worden.
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aaa) Der Begriff des "bestimmten Sachverhalts" in § 174 AO knüpft an einen einheitlichen Lebensvorgang an, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft (z.B. BFH-Urteil vom 18. Februar 1997 VIII R 54/95, BFHE 183, 6, BStBl II 1997, 647). Eine widerstreitende Steuerfestsetzung liegt nur vor, wenn derselbe Lebensvorgang in verschiedenen Steuerbescheiden unterschiedlich berücksichtigt worden ist (vgl. von Wedelstädt in Beermann/Gosch, a.a.O., § 174 AO Rz 18 f.; Klein/Rüsken, a.a.O., § 174 Rz 18).
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Die "Berücksichtigung" eines bestimmten Sachverhalts i.S. von § 174 Abs. 1 AO setzt voraus, dass er dem FA bei der Entscheidungsfindung bekannt war und als Entscheidungsgrundlage herangezogen und verwertet worden ist. Dabei ist es nicht erforderlich, dass das FA den erfassten Sachverhalt in allen Einzelheiten kennt; vielmehr kann der Vorgang z.B. in ein komprimiertes Zahlenwerk eingegangen sein, das dem FA bei der Entscheidungsfindung vorlag. Legt das FA der Veranlagung oder der Gewinnfeststellung einen vom Steuerpflichtigen erklärten Gewinn zugrunde, so sind damit alle Geschäftsvorfälle berücksichtigt, die der Steuerpflichtige bei seiner Gewinnermittlung erfasst hat (BFH-Urteil vom 6. März 1990 VIII R 28/84, BFHE 160, 140, BStBl II 1990, 558; von Wedelstädt in Beermann/ Gosch, a.a.O., § 174 AO Rz 27; Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 174 AO Rz 10).
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bbb) Der Lebensvorgang, um den es im Streitfall geht, sind die quartalsweisen Zahlungen der Berufsunfähigkeitsrente durch die niederländische Rentenkasse an den Kläger. Zwar war dem FA bei Steuerfestsetzung nicht bekannt und bewusst, dass es sich bei den den Gewinnermittlungspositionen "Umsatzerlöse Seminare" und "Einnahmen, Versicherungen" zugrunde liegenden Vorgängen um jene Rentenzahlungen handelte. Geht man aber davon aus, dass die auf den Gewinnermittlungen des Klägers basierenden Steuerfestsetzungen alle Geschäftsvorfälle berücksichtigen, die der Kläger bei seinen Gewinnermittlungen erfasst hat, dann muss das auch für die Rentenzahlungen gelten, selbst wenn sie in den Gewinnermittlungen des Klägers sowohl unter falscher Beschreibung als auch unter falscher rechtlicher Einordnung erfasst worden sind.
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bb) Wäre die in den Streitjahren vom Kläger bezogene Berufsunfähigkeitsrente auch in den Niederlanden besteuert worden, lägen widerstreitende Steuerbescheide vor.
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aaa) Die Anwendung des § 174 Abs. 1 AO erfordert nach einhelliger Auffassung das Vorliegen von (positiv) widerstreitenden Steuerfestsetzungen zu Lasten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger. Ein "Widerstreiten" in diesem Sinne setzt voraus, dass die in den (kollidierenden) Bescheiden getroffenen Regelungen (Steuerfestsetzungen oder Feststellungen) aufgrund der materiellen Rechtslage nicht miteinander vereinbar und daher widersprüchlich sind, weil nur eine der festgesetzten oder angeordneten Rechtsfolgen zutreffen kann. Die in der mehrfachen Erfassung eines bestimmten Sachverhalts liegenden Unrichtigkeiten müssen einander nach materiellem Recht zwingend (denknotwendig) ausschließen (BFH-Urteile vom 11. Juli 1991 IV R 52/90, BFHE 165, 449, BStBl II 1992, 126; vom 26. Januar 1994 X R 57/89, BFHE 174, 1, BStBl II 1994, 597; vom 7. Juli 2004 X R 26/01, BFHE 207, 35, BStBl II 2005, 145).
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bbb) Nach der materiellen Rechtslage war in den Streitjahren eine Berücksichtigung der dem Kläger zugeflossenen Berufsunfähigkeitsrente sowohl in der Bemessungsgrundlage der deutschen als auch in der Bemessungsgrundlage der niederländischen Einkommensteuer zwingend ausgeschlossen. Denn entweder war die Rente ohnehin nur nach dem Welteinkommensprinzip im Wohnsitzstaat des Klägers --den Niederlanden-- steuerbar. Oder aber sie hätte --wenn ein Tatbestand des § 49 des Einkommensteuergesetzes 2002 in der in den Streitjahren geltenden Fassungen (EStG 2002) erfüllt wäre --zusätzlich in Deutschland der beschränkten Steuerpflicht unterlegen. Auch in diesem Falle wäre indes der Besteuerungszugriff durch den deutschen Fiskus ausgeschlossen. Denn die Berufsunfähigkeitsrente zählt zu den "sonstigen Einkünften", für die Art. 16 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie verschiedener sonstiger Steuern und zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem Gebiete vom 16. Juni 1959 (BGBl II 1960, 1781, BStBl I 1960, 381) --DBA-Niederlande-- das Besteuerungsrecht dem Wohnsitzstaat zuweist. Somit ist auf der Grundlage des materiellen Rechts ein Besteuerungszugriff sowohl der Niederlande als auch Deutschlands auf die Berufsunfähigkeitsrente zwingend ausgeschlossen.
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Das FG hält demgegenüber (unter Bezugnahme auf Frotscher in Schwarz, a.a.O., § 174 Rz 56) einen "Widerstreit" im Verhältnis der beiderseitigen Steuerfestsetzungen nicht für gegeben, weil das Kollisionsverhältnis zwischen dem Steuerzugriff des Wohnsitzstaats und dem Staat, der im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht besteuert, durch die Regelungen in den Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung oder durch Anrechnung gemäß § 34c EStG 2002 aufgelöst werde (insoweit zustimmend Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 174 AO Rz 8). Dem vermag der Senat jedenfalls in Bezug auf Staaten, mit denen DBA geschlossen worden sind, nicht beizupflichten (ebenso Klein/Rüsken, a.a.O., § 174 AO Rz 15). Denn die DBA-Vorschriften, die einen parallelen Zugriff beider Vertragsstaaten auf das gleiche Steuersubstrat verhindern, sind Bestandteil der materiellen Rechtslage, aufgrund derer der "Widerstreit" zu beurteilen ist. Die abkommensrechtliche Verteilung der Besteuerungskompetenzen darf deshalb bei der Prüfung des Widerstreits nicht außer Acht gelassen werden.
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cc) Die streitbefangenen Festsetzungsbescheide des FA sind im Hinblick auf die (unbeabsichtigte) Erfassung der Berufsunfähigkeitsrente fehlerhaft. Der Kläger hat in den Streitjahren nicht im Inland gewohnt und war deshalb hier nicht unbeschränkt steuerpflichtig. Ein Tatbestand der beschränkten Steuerpflicht ist nicht einschlägig. Nach § 49 Abs. 1 Nr. 7 EStG 2002 unterfallen Einkünfte i.S. von § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG 2002 in der in den Streitjahren geltenden Fassung (bestimmte wiederkehrende Bezüge) nur dann der beschränkten Steuerpflicht, wenn sie von inländischen Unternehmen oder Einrichtungen gewährt werden. Im Streitfall stammen die Rentenzahlungen jedoch von einem niederländischen Versicherungsunternehmen. Aber selbst wenn ein Tatbestand der beschränkten Steuerpflicht erfüllt wäre, wäre die Besteuerung durch den deutschen Fiskus --wie oben ausgeführt-- gemäß Art. 16 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 DBA-Niederlande ausgeschlossen.
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3. Das FG ist teilweise von einer anderen rechtlichen Beurteilung ausgegangen. Sein Urteil ist deshalb aufzuheben. Die Sache ist noch nicht entscheidungsreif. Denn den tatrichterlichen Feststellungen lässt sich zwar entnehmen, dass die vom Kläger empfangenen Rentenzahlungen in den Niederlanden steuerpflichtig waren. Keine Feststellungen hat das FG indes --aus seiner rechtlichen Sicht konsequent-- dazu getroffen, ob die Zahlungen in den Niederlanden tatsächlich besteuert worden sind. Da dies aber Voraussetzung für eine Änderung der streitbefangenen Steuerbescheide nach § 174 Abs. 1 AO ist, wird das FG die erforderlichen Feststellungen im zweiten Rechtsgang zu treffen haben. Auf die erhöhten Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen im Rahmen der Ermittlung von Auslandssachverhalten (§ 76 Abs. 1 Satz 4 FGO i.V.m. § 90 Abs. 2 AO) wird hingewiesen.
(1) Steuerbescheide sind aufzuheben oder zu ändern,
- 1.
soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen, - 2.
soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Das Verschulden ist unbeachtlich, wenn die Tatsachen oder Beweismittel in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit Tatsachen oder Beweismitteln im Sinne der Nummer 1 stehen.
(2) Abweichend von Absatz 1 können Steuerbescheide, soweit sie auf Grund einer Außenprüfung ergangen sind, nur aufgehoben oder geändert werden, wenn eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt. Dies gilt auch in den Fällen, in denen eine Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 ergangen ist.
(1) Soweit ein angefochtener Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und die etwaige Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf auf; die Finanzbehörde ist an die rechtliche Beurteilung gebunden, die der Aufhebung zugrunde liegt, an die tatsächliche so weit, als nicht neu bekannt werdende Tatsachen und Beweismittel eine andere Beurteilung rechtfertigen. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, dass und wie die Finanzbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, dass die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekannt zu geben.
(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Satz 1 gilt nicht, soweit der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht nicht nachgekommen ist und deshalb die Besteuerungsgrundlagen geschätzt worden sind. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlass des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, dass Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluss kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.
(1) Der unterliegende Beteiligte trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, soweit er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Besteht der kostenpflichtige Teil aus mehreren Personen, so haften diese nach Kopfteilen. Bei erheblicher Verschiedenheit ihrer Beteiligung kann nach Ermessen des Gerichts die Beteiligung zum Maßstab genommen werden.
(1) Soll gegen den Bund, ein Land, einen Gemeindeverband, eine Gemeinde, eine Körperschaft, eine Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts vollstreckt werden, so gilt für die Zwangsvollstreckung das Achte Buch der Zivilprozessordnung sinngemäß; § 150 bleibt unberührt. Vollstreckungsgericht ist das Finanzgericht.
(2) Vollstreckt wird
- 1.
aus rechtskräftigen und aus vorläufig vollstreckbaren gerichtlichen Entscheidungen, - 2.
aus einstweiligen Anordnungen, - 3.
aus Kostenfestsetzungsbeschlüssen.
(3) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.
(4) Für die Vollstreckung können den Beteiligten auf ihren Antrag Ausfertigungen des Urteils ohne Tatbestand und ohne Entscheidungsgründe erteilt werden, deren Zustellung in den Wirkungen der Zustellung eines vollständigen Urteils gleichsteht.
Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:
- 1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen; - 2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a; - 3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird; - 4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden; - 5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären; - 6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden; - 7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen; - 8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht; - 9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung; - 10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist; - 11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.
(1) Steuerbescheide sind aufzuheben oder zu ändern,
- 1.
soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen, - 2.
soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Das Verschulden ist unbeachtlich, wenn die Tatsachen oder Beweismittel in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit Tatsachen oder Beweismitteln im Sinne der Nummer 1 stehen.
(2) Abweichend von Absatz 1 können Steuerbescheide, soweit sie auf Grund einer Außenprüfung ergangen sind, nur aufgehoben oder geändert werden, wenn eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt. Dies gilt auch in den Fällen, in denen eine Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 ergangen ist.
Tatbestand
- 1
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I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die im Streitjahr 2005 gemeinsam zur Einkommensteuer veranlagt wurden. In diesem Jahr war der Kläger als Diplomkaufmann im Rahmen eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses nichtselbständig tätig. Die Klägerin ist Diplomingenieurin und erzielte 2005 mit dem Handel von … und als … gewerbliche Einkünfte.
- 2
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In ihrer Einkommensteuer-Erklärung 2005, bei deren Anfertigung ein Steuerberater mitgewirkt hatte, machten die Kläger Angaben zu den Altersvorsorgeaufwendungen. In dem amtlichen Formular wurde nach Beiträgen zu den gesetzlichen Rentenversicherungen (Arbeitnehmeranteil) gefragt. Ferner waren Beiträge zu freiwilligen Versicherungen oder Höherversicherungen in den gesetzlichen Rentenversicherungen sowie der Arbeitgeberanteil zu gesetzlichen Rentenversicherungen einzutragen.
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Die Kläger gaben den vom Kläger geleisteten Arbeitnehmeranteil zur gesetzlichen Rentenversicherung mit 6.085 € und den hierzu geleisteten Arbeitgeberanteil mit 6.084 € an. Für die Klägerin wurden keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung erklärt.
- 4
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Der Einkommensteuer-Bescheid für 2005 vom 4. Dezember 2006 erging erklärungsgemäß. In dem Bescheid wurden Altersvorsorgeaufwendungen in Höhe von 1.218 € berücksichtigt. Der Bescheid wurde von den Klägern nicht angefochten.
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Mit Schreiben vom 10. September 2008 beantragten die durch ihren Steuerberater vertretenen Kläger u.a., den Einkommensteuer-Bescheid 2005 nach § 173 der Abgabenordnung (AO) zu ändern und die von der Klägerin als Selbständige geleisteten Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung zu berücksichtigen. Erst im Rahmen des Einspruchsverfahrens betreffend den Einkommensteuer-Bescheid 2007 sei festgestellt worden, dass die Klägerin in 2005 solche Beiträge entrichtet habe. Die Kläger treffe kein grobes Verschulden, da ihnen nicht bekannt gewesen sei, dass infolge der Neuregelung der steuerlichen Berücksichtigung der Vorsorgeaufwendungen durch das Alterseinkünftegesetz (AltEinkG) im Streitjahr Altersvorsorgeaufwendungen im größeren Umfang abziehbar seien als im Vorjahr. Dem Antrag beigefügt war eine Bescheinigung der Deutschen Rentenversicherung Bund vom 3. Februar 2006. Danach hat die Klägerin im Jahr 2005 als selbständig Tätige Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung von insgesamt 759,20 € geleistet. Die Bescheinigung enthält keine Ausführungen zur steuerlichen Abziehbarkeit der Zahlungen als Altersvorsorgeaufwendungen.
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Diesen Änderungsantrag lehnte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) ab. Den hiergegen gerichteten Einspruch wies es mit der Begründung zurück, die Kläger träfe an dem nachträglichen Bekanntwerden der von der Klägerin geleisteten Altersvorsorgeaufwendungen ein grobes Verschulden. Sie müssten sich das Verschulden ihres Beraters zurechnen lassen. Dieser sei gehalten gewesen, seine Mandanten auf die gesetzlichen Neuregelungen im AltEinkG hinzuweisen. Auch hätten die Kläger ggf. ihren Steuerberater nach den Auswirkungen der gesetzlichen Neuregelung in ihrem speziellen Fall befragen können.
- 7
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Das Finanzgericht (FG) wies die u.a. für das Streitjahr 2005 erhobene Klage ab. Den Klägern hätte sich aufdrängen müssen, dass auch Pflichtbeiträge der Selbständigen zur gesetzlichen Rentenversicherung als Vorsorgeaufwendungen steuerlich relevant seien. Zwar könne infolge der Fassung des Erklärungsformulars, das im Einzelnen Altersvorsorgebeiträge, nicht aber Pflichtbeiträge Selbständiger zur gesetzlichen Rentenversicherung abfrage, der Eindruck entstehen, solche Beiträge seien steuerlich nicht relevant und daher nicht anzugeben. Aufgrund der insgesamt in der Steuererklärung geforderten Daten sei aber ohne Weiteres zu schließen, dass solche Pflichtbeiträge steuerbegünstigt seien oder zumindest sein könnten. Den Klägern sei die steuerliche Bedeutung von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung und allgemein zur Altersvorsorge bekannt gewesen.
- 8
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Mit ihrer Revision machen die Kläger weiterhin geltend, der Einkommensteuer-Bescheid 2005 sei nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu ändern. Die gegenteilige Auffassung des FG stehe im Widerspruch zu den Urteilen des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 29. Juni 1984 VI R 181/80 (BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693) und vom 22. Mai 1992 VI R 17/91 (BFHE 168, 221, BStBl II 1993, 80). Den Klägern könne nicht vorgeworfen werden, eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte Frage nicht beantwortet zu haben. Da nach den Pflichtbeiträgen selbständiger Personen zur gesetzlichen Rentenversicherung nicht gefragt worden sei, sei für die Kläger nicht erkennbar gewesen, dass solche hätten angegeben werden können. Nach dem Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) seien solche Pflichtbeiträge nur in Ausnahmefällen zu leisten.
- 9
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Die Kläger beantragen sinngemäß,
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das angefochtenen Urteil und die Einspruchsentscheidung vom 3. November 2008 aufzuheben, soweit diese den Antrag auf Änderung des Einkommensteuer-Bescheids 2005 vom 4. Dezember 2006 betreffen, und das FA zu verpflichten, diesen Bescheid in der Weise zu ändern, dass zusätzliche Altersvorsorgebeiträge von 759,20 € berücksichtigt werden.
- 10
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Das FA beantragt,
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die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
- 11
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Die Kläger seien im Streitfall steuerlich beraten gewesen. Es könne erwartet werden, dass der steuerliche Berater seine Mandanten auf infolge einer Gesetzesänderung gegebene Abweichungen hinsichtlich der steuerlichen Abziehbarkeit von Aufwendungen hinweise. Es sei nicht unüblich, dass auch Selbständige Beiträge zur Rentenversicherung leisten müssten. Dies hätte der Steuerberater ansprechen müssen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil wird --soweit es das Streitjahr 2005 betrifft-- aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die vom FG getroffenen Feststellungen reichen nicht zur Beurteilung der Frage aus, ob das FA nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO verpflichtet ist, den angestrebten Änderungsbescheid zu erlassen.
- 13
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Steuerbescheide sind nach der vorstehend genannten Vorschrift zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden.
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a) Nicht im Streit steht, dass die von der Klägerin im Streitjahr getragenen Aufwendungen für ihre Pflichtbeiträge als Selbstständige zur gesetzlichen Rentenversicherung (§ 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI) dem FA bei Durchführung der ursprünglichen Einkommensteuer-Veranlagung für das Streitjahr nicht bekannt waren und daher Tatsachen i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO gegeben sind. Unstreitig ist auch, dass die Berücksichtigung dieser Aufwendungen eine Verminderung der Einkommensteuer-Schuld zur Folge hätte.
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b) Allein streitig ist das Vorliegen von grobem Verschulden. Dies setzt nach der ständigen Rechtsprechung des BFH Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit voraus. Letztere ist dann gegeben, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt hat (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 2. August 1994 VIII R 65/93, BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264; vom 23. Januar 2001 XI R 42/00, BFHE 194, 9, BStBl II 2001, 379, und vom 16. September 2004 IV R 62/02, BFHE 207, 369, BStBl II 2005, 75, jeweils m.w.N. aus der BFH-Rechtsprechung).
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c) Ob ein Beteiligter in dem genannten Sinn grob fahrlässig gehandelt hat, ist im wesentlichen Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG können in der Revisionsinstanz grundsätzlich nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit richtig erkannt worden ist und ob die Würdigung der Verhältnisse hinsichtlich dieses individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (BFH-Urteil vom 26. August 1987 I R 144/86, BFHE 151, 299, BStBl II 1988, 109, und Senatsurteil vom 6. Oktober 2004 X R 14/02, BFH/NV 2005, 156; ebenfalls ständige Rechtsprechung).
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d) Das FG hat angenommen, die Kläger hätten grob fahrlässig die von der Klägerin im Streitjahr als Selbstständige geleisteten Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung nicht angegeben. Zwar werde im Erklärungsformular für 2005 nicht nach solchen Beiträgen, sondern nur nach Pflichtbeiträgen von Arbeitnehmern und nach freiwillig geleisteten Beiträgen gefragt. In der Gesamtschau der anzugebenden Daten hätte sich den Klägern aber die steuerliche Relevanz der von der Klägerin geleisteten Pflichtbeiträge aufdrängen müssen.
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aa) Diese Ausführungen des FG reichen zur Annahme grober Fahrlässigkeit nicht aus.
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Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des BFH, dass grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO dann nicht gegeben ist, wenn die Abgabe einer unvollständigen Steuererklärung allein auf einem subjektiv entschuldbaren Rechtsirrtum beruht (Urteile vom 21. Juli 1989 III R 303/84, BFHE 157, 488, BStBl II 1989, 960; vom 9. August 1991 III R 24/87, BFHE 165, 454, BStBl II 1992, 65; in BFHE 168, 221, BStBl II 1993, 80; in BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264, und in BFHE 194, 9, BStBl II 2001, 379). Allerdings muss auch ein Steuerpflichtiger, dem einschlägige steuerrechtliche Kenntnisse fehlen, im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte Fragen beantworten und dem Steuererklärungsformular beigefügte Erläuterungen mit der von ihm zu erwartenden Sorgfalt lesen und beachten. Dies gilt jedenfalls dann, wenn solche Fragen und Hinweise ausreichend verständlich sowie klar und eindeutig sind (BFH-Urteile in BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264, und in BFHE 194, 9, BStBl II 2001, 379). Auch muss der Steuerpflichtige sich ihm aufdrängenden Zweifelsfragen nachgehen (BFH-Urteil in BFHE 168, 221, BStBl II 1993, 80).
- 20
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Im Streitfall wurde im Steuererklärungsformular 2005 getrennt für einzelne Fallgruppen nach den im Jahr 2005 geleisteten Altersvorsorgebeiträgen gefragt. Nicht gefragt wurde jedoch nach von Selbstständigen geleisteten Pflichtbeiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung. Demgemäß blieb im Streitfall nicht eine ausdrücklich gestellte Frage unbeantwortet. Das Unterlassen von Angaben zu einem im Erklärungsvordruck nicht vorgesehenen Punkt spricht jedenfalls im Ausgangspunkt gegen das Vorliegen von grobem Verschulden (BFH-Urteil in BFHE 175, 500, BStBl II 1995, 264 und Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 173 Rz 116). Erst recht gilt dies, wenn wie im Streitfall alle anderen Arten von Altersvorsorgebeiträgen im Einzelnen abgefragt werden, da hierdurch der Eindruck erweckt werden könnte, die im Formular nicht erwähnten anderen Altersvorsorgebeiträge seien steuerlich irrelevant. Es wurde zudem weder vom FG festgestellt noch vom FA behauptet, dass das Merkblatt zur Steuererklärung 2005 Hinweise auf die hier in Frage stehenden Pflichtbeiträge Selbständiger enthalten habe, die die Kläger nicht berücksichtigt hätten.
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bb) Unerheblich ist, dass in dem Steuererklärungsformular für das Folgejahr 2006 ausdrücklich Angaben zu den Pflichtbeiträgen Selbständiger zur gesetzlichen Rentenversicherung zu machen waren. Denn die Kläger hatten ihre Einkommensteuer-Erklärung bereits im Oktober 2006 abgegeben und den Einkommensteuer-Bescheid 2005 erhalten, so dass etwaige Erkenntnisse aufgrund des Erklärungsformulars für 2006 nicht mehr berücksichtigt werden konnten.
- 22
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cc) Angesichts dieser Umstände hätte das FG im Einzelnen darlegen müssen, aufgrund welcher individuellen beruflichen oder sonstigen Kenntnisse oder Erfahrungen die Kläger ohne Weiteres in der Lage sein mussten, die steuerliche Relevanz der in Frage stehenden Pflichtbeiträge zu erkennen. Das FG durfte sich nicht mit dem Hinweis begnügen, den Klägern sei die Beitragszahlung bekannt gewesen. Auch lässt sich das Vorliegen von grober Fahrlässigkeit nicht damit begründen, die Kläger hätten die steuerliche Regelung über die Altersvorsorge im Grundsätzlichen gekannt.
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Sofern das FG im 2. Rechtsgang Tatsachen feststellen sollte, aus denen zu schließen ist, dass für die Kläger die steuerliche Relevanz der zu beurteilenden Beiträge erkennbar war, wäre ein etwaiger Irrtum, diese Beiträge seien im konkreten Fall steuerlich ohne Auswirkung, unbeachtlich. Beauftragt ein Steuerpflichtiger zur Erstellung einer Steuererklärung einen Steuerberater, dann handelt er regelmäßig grob fahrlässig, wenn er diesem Unterlagen vorenthält, die steuerlich relevant sein können (ebenso FG Hamburg, Urteil vom 4. Dezember 1990 II 117/89, Entscheidungen der Finanzgerichte 1991, 444).
- 24
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Klarstellend weist der erkennende Senat darauf hin, dass es nicht von entscheidender Bedeutung ist, dass die Klägerin ihren Ehemann nicht über die geleisteten Zahlungen informiert hat. Sofern sich für sie aufgedrängt haben sollte, dass die in Frage stehenden Beiträge abziehbar sein könnten, wäre das bei ihr vorliegende grobe Verschulden im Rahmen der Zusammenveranlagung auch ihrem Ehemann zuzurechnen (BFH-Urteil vom 24. Juli 1996 I R 62/95, BFHE 181, 252, BStBl II 1997, 115).
- 25
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dd) Das FG wird auch zu prüfen haben, ob den steuerlichen Berater der Kläger ein grobes Verschulden trifft. Der vom Steuerpflichtigen beauftragte steuerliche Berater muss sich ebenso wie der Steuerpflichtige um eine sachgerechte und gewissenhafte Erfüllung der steuerlichen Erklärungspflicht bemühen. Eine schuldhafte Verletzung dieser Pflicht wäre den Klägern wie eigenes Verschulden zuzurechnen (BFH-Urteil in BFHE 151, 299, BStBl II 1988, 109).
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Das FG wird insbesondere zu prüfen haben, ob das nachträgliche Bekanntwerden der von der Klägerin geleisteten Rentenversicherungsbeiträge auf einer Verletzung der Pflicht des Steuerberaters beruht, die Kläger über die gesetzlichen Neuregelungen des AltEinkG zu informieren. Auch wird das FG untersuchen müssen, ob sich aufgrund der konkreten Einzelfallumstände dem steuerlichen Berater aufdrängen musste, die Klägerin könnte als Selbstständige gesetzlich rentenversicherungspflichtig gewesen sein und im Jahr 2005 entsprechende Aufwendungen getragen haben (zu den an einen Steuerberater zu stellenden Anforderungen vgl. Klein/Rüsken, a.a.O., § 173 Rz 126 ff. i.V.m. Rz 112 f.).
Tatbestand
- 1
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I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Vater einer Tochter, die im Streitjahr 2007 in seiner Wohnung lebte und für die ihm Kindergeld zustand. Mit der Mutter des Kindes war er nicht verheiratet; im Streitjahr lebte er nicht mehr in Haushaltsgemeinschaft mit ihr.
- 2
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Der Kläger beauftragte seinen Steuerberater mit der Erstellung der Steuererklärung für das Streitjahr. Dieser fertigte die Erklärung anhand der Angaben des Klägers an und legte die mit Hilfe des Programms "Elster" der Finanzverwaltung erstellte, komprimierte Einkommensteuererklärung dem Kläger zur Prüfung, Unterzeichnung und Weiterleitung an den Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) vor. Die komprimierte Steuererklärung enthielt dabei keine Rubriken --und damit auch keine Eintragungen-- zum Entlastungsbetrag für Alleinerziehende, wie sie in dem amtlichen Vordruck ("Anlage Kind") vorgesehen sind.
- 3
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Am 19. Februar 2009 ging die komprimierte, von dem Kläger unterzeichnete Steuererklärung postalisch beim FA ein.
- 4
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Der daraufhin erlassene Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr vom 9. März 2009, in dem kein Entlastungsbetrag für Alleinerziehende berücksichtigt worden ist, wurde bestandskräftig.
- 5
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Mit Schreiben vom 3. August 2009 beantragte der Kläger die Änderung dieses Einkommensteuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) und begehrte die Gewährung des Entlastungsbetrags für Alleinerziehende für das Streitjahr. Bei der Erstellung der Einkommensteuererklärung des Jahres 2008 sei dem steuerlichen Berater aufgefallen, dass die "Anlage Kind" für das Streitjahr unvollständig ausgefüllt worden sei. Es hätten in den Zeilen 35 ff. der "Anlage Kind" Angaben zum Entlastungsbetrag für Alleinerziehende gemacht werden müssen, weil er seit Dezember 2006 von der Mutter seines Kindes getrennt lebe und deshalb alleinerziehend sei. Er, der Kläger, habe aus der ihm übersandten komprimierten Steuererklärung nicht erkennen können, dass diese steuerrelevanten Angaben fehlten. Ihm sei außerdem gar nicht bekannt gewesen, dass die Tatsache der Alleinerziehung zu einer zusätzlichen steuerlichen Entlastung führen könne.
- 6
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Das FA lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 11. September 2009 ab.
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Der nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 1677 veröffentlichten Urteil statt. Nach Auffassung des FG könne der Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO geändert werden. Den Kläger treffe insbesondere kein grobes Verschulden an dem nachträglichen Bekanntwerden der Tatsache der räumlichen Trennung des Klägers von der Mutter seines Kindes, so dass eine Änderung des streitgegenständlichen Steuerbescheids nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht ausgeschlossen sei.
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Dem Kläger sei ein eigenes grobes Verschulden nicht vorzuwerfen. Die Angaben zu dem Entlastungsbetrag für Alleinerziehende, die auf der Seite 2 der "Anlage Kind" in den Zeilen 35 ff. vorgesehen seien, seien in der komprimierten Steuererklärung nicht enthalten gewesen, die dem Kläger von seinem steuerlichen Berater zur Prüfung, Unterzeichnung und Weiterleitung überlassen worden sei. Es sei dem Kläger damit nicht möglich gewesen, insoweit auf ausdrücklich gestellte Fragen zu antworten oder insoweit vorbereitete Angaben zu überprüfen. Ein Anlass für den Kläger, auf die steuerliche Bedeutsamkeit dieser Fragestellung aufmerksam zu werden, habe deshalb nicht vorgelegen. Dem Kläger könne überdies nicht vorgeworfen werden, dass er dem Umstand, dass er im Streitjahr alleinerziehend gewesen sei, nicht von sich aus seinem steuerlichen Berater mitgeteilt habe, da hierzu --mangels entsprechender Fragestellung-- für einen steuerlichen Laien kein Anlass bestanden habe.
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Dem Kläger sei auch nicht ein grobes Verschulden seines steuerlichen Beraters zuzurechnen. Der Steuerberater sei nicht verpflichtet gewesen, "ins Blaue" nach einer Änderung der Familienverhältnisse zu fragen, da hierzu keinerlei Anlass bestanden habe. Anders als in dem der Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 3. Dezember 2009 VI R 58/07 (BFHE 227, 365, BStBl II 2010, 531) zugrunde liegenden Sachverhalt, in dem es um das nachträgliche Bekanntwerden von als außergewöhnliche Belastungen zu qualifizierenden Krankheitskosten gegangen sei, bestehe keine Verpflichtung des Steuerberaters, sich jährlich nach dem Stand der ehelichen oder nichtehelichen Beziehung des Mandanten zu erkundigen, wenn insoweit keine Anhaltspunkte für eine steuerrelevante Veränderung vorlägen.
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Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO. In Bezug auf ein dem Steuerpflichtigen zuzurechnendes grobes Verschulden des Steuerberaters führt es aus, der Steuerberater habe bei dem Auftrag, die Steuererklärung zu fertigen, u.a. zu prüfen, welche Steuertatbestände verwirklicht worden seien und welche Begünstigungsvorschriften zu berücksichtigen seien. Es verweist auf das BFH-Urteil in BFHE 227, 365, BStBl II 2010, 531, nach dem ein Steuerberater seinen Mandanten, von dessen Belehrungsbedürftigkeit er grundsätzlich auszugehen habe, umfassend zu beraten habe und nach dem er --im Rahmen dieser Verpflichtung-- den für die Abgabe einer vollständigen Steuererklärung maßgebenden Sachverhalt zu ermitteln habe.
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Diesen Maßstäben werde das FG mit seinem Urteil nicht gerecht, in dem es in den Entscheidungsgründen anführe, der Steuerberater sei nicht verpflichtet, "ins Blaue" nach einer Änderung der Familienverhältnisse zu fragen, da hierzu im Streitfall keinerlei Anlass bestanden habe. Das FG verlange damit seitens des steuerlichen Beraters lediglich eine anlassbezogene Rückfrage, und zwar nur dann, wenn Anhaltspunkte für eine steuerrelevante Veränderung vorlägen.
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Jedoch sei die steuerliche Relevanz der persönlichen Verhältnisse in Anbetracht der verschiedenen kinderbedingten Vergünstigungen dem steuerlichen Laien nicht ohne weiteres bewusst und erfordere daher einen Informationsaustausch mit dem Steuerpflichtigen. Die im Streitfall mangelnde Kommunikation müsse sich der Kläger als Verschulden seines steuerlichen Beraters zurechnen lassen.
- 13
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Das FA beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
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Nach seiner Auffassung sei das Problem letztlich in der Verkürzung der Steuererklärung bei Ausdruck der "Elster-Übermittlungen" zu sehen. Wären hier ebenfalls die genannten Rubriken und damit Leerfelder für den Steuerpflichtigen erkennbar, so wären Informationsverluste wie im vorliegenden Fall vermeidbar. Die in dem Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte Frage zum Entlastungsbetrag für Alleinerziehende sei für den Steuerpflichtigen bei der verkürzt ausgedruckten Steuererklärung gerade nicht erkennbar.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG war zu Unrecht der Ansicht, der bestandskräftige Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr könne nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zugunsten des Klägers geändert werden, weil diesem kein grobes Verschulden vorzuwerfen sei.
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Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.
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1. Allein streitig ist das Vorliegen von grobem Verschulden.
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a) Als grobes Verschulden hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Letztere ist dann anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt hat (z.B. BFH-Urteile vom 20. November 2008 III R 107/06, BFH/NV 2009, 545, und vom 9. November 2011 X R 53/09, BFH/NV 2012, 545).
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Grob fahrlässiges Handeln liegt insbesondere vor, wenn ein Steuerpflichtiger seiner Erklärungspflicht nur unzureichend nachkommt, indem er unvollständige Steuererklärungen abgibt (z.B. Senatsurteile vom 30. Oktober 1986 III R 163/82, BFHE 148, 208, BStBl II 1987, 161; vom 1. Oktober 1993 III R 58/92, BFHE 172, 397, BStBl II 1994, 346, und in BFH/NV 2009, 545). Beruht die unvollständige Steuererklärung auf einem Rechtsirrtum wegen mangelnder Kenntnis steuerrechtlicher Vorschriften, ist dies dem Steuerpflichtigen in der Regel nicht als grobes Verschulden anzulasten (BFH-Urteile vom 23. Februar 2000 VIII R 80/98, BFH/NV 2000, 978, und in BFH/NV 2009, 545).
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Auf einen die grobe Fahrlässigkeit ausschließenden, entschuldbaren Rechtsirrtum kann sich der Steuerpflichtige allerdings dann nicht berufen, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen bestimmten Vorgang bezogene und für ihn verständliche Frage nicht beantwortet (z.B. Senatsurteile vom 23. Oktober 2002 III R 32/00, BFH/NV 2003, 441, und in BFH/NV 2009, 545). Dies gilt auch dann, wenn er eine derartige, im Erklärungsformular ausdrücklich gestellte Frage nur deshalb nicht oder nur unvollständig beantwortet, weil er infolge eines Rechtsirrtums der Ansicht ist, die unterlassenen Angaben hätten in seinem Einzelfall keine Auswirkung (z.B. Senatsurteile in BFH/NV 2003, 441, und in BFH/NV 2009, 545).
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Einem Steuerpflichtigen kann des Weiteren dann ein eigenes grobes Verschulden angelastet werden, wenn er die von seinem steuerlichen Berater angefertigte Steuererklärung nicht auf ihre Richtigkeit und Vollständigkeit durchgesehen hat und ihm ohne Weiteres hätte auffallen müssen, dass steuermindernde Tatsachen oder Beweismittel nicht berücksichtigt worden sind (BFH-Urteil vom 28. August 1992 VI R 93/89, BFH/NV 1993, 147).
- 23
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b) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH hat der Steuerpflichtige auch ein Verschulden seines steuerlichen Beraters bei der Anfertigung der Steuererklärung zu vertreten (z.B. BFH-Urteile vom 17. November 2005 III R 44/04, BFHE 211, 401, BStBl II 2006, 412, und in BFHE 227, 365, BStBl II 2010, 531). Die Zurechnung des Verschuldens des steuerlichen Beraters bei der Anfertigung der Steuererklärung ergibt sich aus der Verantwortung des Steuerpflichtigen für die Vollständigkeit und Richtigkeit seiner Angaben in der Steuererklärung (vgl. § 150 Abs. 2 Satz 1 AO; vgl. BFH-Urteile vom 14. Januar 1998 X R 84/95, BFHE 185, 111, BStBl II 1999, 203; in BFHE 211, 401, BStBl II 2006, 412, und in BFHE 227, 365, BStBl II 2010, 531). Dieser Verantwortung kann er sich nicht dadurch entziehen, dass er die Ausarbeitung der Steuererklärung seinem steuerlichen Berater überträgt (BFH-Urteile in BFHE 211, 401, BStBl II 2006, 412, und in BFHE 227, 365, BStBl II 2010, 531). Dabei sind an einen steuerlichen Berater, dessen sich der Steuerpflichtige zur Ausarbeitung der Steuererklärung bedient, erhöhte Anforderungen hinsichtlich der von ihm zu erwartenden Sorgfalt zu stellen (z.B. BFH-Urteile vom 28. Juni 1983 VIII R 37/81, BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2; vom 26. August 1987 I R 144/86, BFHE 151, 299, BStBl II 1988, 109, und vom 13. Juni 1989 VIII R 174/85, BFHE 157, 196, BStBl II 1989, 789).
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c) Ob ein Beteiligter grob fahrlässig gehandelt hat, ist im Wesentlichen Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG dürfen --abgesehen von zulässigen und begründeten Verfahrensrügen-- nur daraufhin überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind und ob die Würdigung der Umstände hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und allgemeinen Erfahrungssätzen entspricht. Dies hindert das Revisionsgericht allerdings nicht, selbst zur Annahme eines groben Verschuldens zu kommen, wenn hierfür ausreichende tatsächliche Feststellungen vorliegen (z.B. Senatsurteile in BFH/NV 2003, 441, und in BFH/NV 2009, 545).
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2. Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall kann das Urteil des FG keinen Bestand haben.
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a) Rechtsfehlerfrei hat das FG zwar zunächst ein eigenes grobes Verschulden des Klägers verneint. Es hat zutreffend darauf abgestellt, dass aus der komprimierten Steuererklärung für den Kläger nicht ersichtlich war, dass weitere Angaben zur Gewährung des Entlastungsbetrags für Alleinerziehende erforderlich waren und insoweit steuermindernde Tatsachen nicht berücksichtigt worden sind. Außerdem kann dem Kläger --wie das FG zutreffend ausgeführt hat-- nicht vorgeworfen werden, die Tatsache, dass er im Streitjahr nicht mehr in Haushaltsgemeinschaft mit der Mutter gelebt hat, nicht von sich aus dem Berater mitgeteilt zu haben, da hierzu für einen steuerlichen Laien mangels Kenntnis der steuerlichen Relevanz dieser Tatsache kein Anlass bestand.
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b) Entgegen der Auffassung des FG trifft jedoch den steuerlichen Berater ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden dieser Tatsache, welches sich der Kläger zurechnen lassen muss.
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aa) Indem er dem insoweit steuerlich unerfahrenen Kläger lediglich die komprimierte Einkommensteuererklärung zur Prüfung überließ, ohne den für die Abgabe einer vollständigen Steuererklärung maßgebenden Sachverhalt zu ermitteln, handelte er grob fahrlässig. Denn damit nahm er dem Kläger die Möglichkeit zur Kenntnisnahme, dass --wie in den Zeilen 35 ff. der "Anlage Kind" aufgeführt-- ein Entlastungsbetrag für Alleinerziehende gewährt werden kann und insoweit weitere Angaben zur vollständigen Beantwortung der in dem amtlichen Vordruck gestellten Fragen erforderlich sind. Durch sein Handeln übernahm der steuerliche Berater die Verantwortung, dass die in der von ihm erstellten komprimierten Steuererklärung aufgeführten Angaben des Steuerpflichtigen (auch) vollständig sind.
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Dieses Ergebnis ergibt sich auch aus der Verantwortung des Steuerpflichtigen für die Richtigkeit und Vollständigkeit seiner Angaben in der Steuererklärung, der er sich nicht dadurch entziehen kann, dass er die Ausarbeitung der Steuererklärung seinem steuerlichen Berater überträgt (BFH-Urteile in BFHE 185, 111, BStBl II 1999, 203; in BFHE 211, 401, BStBl II 2006, 412, und in BFHE 227, 365, BStBl II 2010, 531). Diese Verantwortung des Steuerpflichtigen rechtfertigt die Zurechnung des Verschuldens des steuerlichen Beraters, welche letztlich sicherstellen soll, dass der Steuerpflichtige durch die Bevollmächtigung nicht besser gestellt wird als der nicht vertretene Steuerpflichtige. Hätte der Kläger seine Steuererklärung selbst erstellt, wäre ihm regelmäßig grobes Verschulden anzulasten, wenn er eine unvollständige Steuererklärung abgegeben und eine ausdrücklich gestellte, auf einen bestimmten Vorgang bezogene und für ihn verständliche Frage nicht beantwortet hätte (s. oben unter II.1.a). Dann muss nach Auffassung des erkennenden Senats ein grobes Verschulden des vom Steuerpflichtigen beauftragten steuerlichen Beraters bejaht werden, wenn dieser --im Falle der Nichtermittlung des für die Abgabe einer vollständigen Steuererklärung maßgebenden Sachverhalts-- dem Steuerpflichtigen lediglich eine komprimierte Steuererklärung aushändigt und ihm damit die Möglichkeit nimmt, die darin enthaltenen Angaben auf Vollständigkeit und Richtigkeit zu prüfen. Würde man ein grobes Verschulden des steuerlichen Beraters in diesen Fällen verneinen, käme es zu einer Besserstellung des vertretenen Steuerpflichtigen gegenüber dem nicht vertretenen, da dem Steuerpflichtigen selbst --insbesondere mangels Erkennbarkeit der Unvollständigkeit der in der komprimierten Steuererklärung enthaltenen Angaben-- ein grobes Verschulden nicht vorgeworfen werden kann (vgl. oben unter II.2.a).
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bb) Dabei kann es --entgegen der Auffassung des Klägers-- nicht darauf ankommen, dass der Ausdruck der komprimierten Steuererklärung auf die Verwendung des Programms "Elster" zurückzuführen ist. Insoweit hat der steuerliche Berater selbst sicherzustellen, dass er dem Steuerpflichtigen, von dessen Belehrungsbedürftigkeit er grundsätzlich auszugehen hat, die Möglichkeit belässt, die Angaben in der von ihm gefertigten Steuererklärung auf Vollständigkeit und Richtigkeit prüfen zu können, wenn sich der Berater entscheidet, den für die Abgabe einer vollständigen Steuererklärung maßgebenden Sachverhalt nicht vor Erstellung der Steuererklärung --ggf. durch ausdrückliche Nachfrage beim Steuerpflichtigen-- vollständig zu ermitteln. Indem der steuerliche Berater dem Steuerpflichtigen lediglich eine komprimierte Steuererklärung aushändigt, übernimmt er die Verantwortung, dass die in dieser Steuererklärung aufgeführten Angaben des Steuerpflichtigen (auch) vollständig sind (s. oben unter II.2.b aa).
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cc) Der Senat kann offenlassen, ob ein grobes Verschulden des steuerlichen Beraters auch aufgrund der fehlenden Nachfrage bei dem Kläger hinsichtlich des Umstands der Haushaltsgemeinschaft der Kindseltern angenommen werden müsste. Offen bleiben kann damit, ob ein grobes Verschulden des steuerlichen Beraters stets dann anzunehmen ist, wenn dieser im Rahmen seiner Verpflichtung, seinen Mandanten im Rahmen dessen Belehrungsbedürftigkeit umfassend zu beraten, den für die Abgabe einer vollständigen Steuererklärung maßgebenden Sachverhalt --auch ohne entsprechende Anhaltspunkte für eine steuerrelevante Veränderung-- selbst nicht vollständig ermittelt hat (so --im Hinblick auf als außergewöhnliche Belastungen berücksichtigungsfähige Zahnbehandlungskosten-- wohl: BFH-Urteil in BFHE 227, 365, BStBl II 2010, 531; ebenso: von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO § 173 Rz 95.1.; kritisch: Loose in Tipke/ Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 173 AO Rz 84; Klein/Rüsken, AO, 11. Aufl., § 173 Rz 126) oder ob insoweit auch Fälle der "lediglich" einfachen Fahrlässigkeit denkbar sind.
Tatbestand
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I. Die Beteiligten streiten darüber, ob Steuerbescheide zugunsten des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) geändert werden müssen.
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Der Kläger wohnte in den Streitjahren (2005 und 2006) in den Niederlanden. In der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) erzielte er Einkünfte aus selbständiger Arbeit, mit denen er der beschränkten Steuerpflicht unterlag. Außerdem bezog er seit 2004 eine Berufsunfähigkeitsrente, die in den Niederlanden zu versteuern war.
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Im Rahmen seiner Veranlagung zur Einkommensteuer 2004 hatte der Kläger unter anderem beantragt, die Einnahmen aus der Rente in die Bemessungsgrundlage für die deutsche Steuer einzubeziehen. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) hatte dies mit der Begründung abgelehnt, die Rente müsse nach dem insoweit maßgeblichen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (DBA) in den Niederlanden versteuert werden. Daraufhin hatte der Kläger einen insoweit eingelegten Einspruch zurückgenommen.
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In den Einkommensteuerbescheiden für die Streitjahre berücksichtigte das FA Einkünfte des Klägers aus selbständiger Arbeit in der vom Kläger erklärten Höhe von 38.456 € (2005) und 49.103 € (2006). Die Steuererklärungen und die dazugehörenden Gewinnermittlungen hatte eine Steuerberaterin (S) erstellt. Die Steuerbescheide ergingen am 26. Juli 2007 (2005) und am 16. Juni 2008 (2006) und wurden nicht innerhalb der Rechtsbehelfsfristen angefochten.
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Im Jahr 2009 beantragte der Kläger, die Bescheide nach § 174 der Abgabenordnung (AO) zu ändern. In ihnen seien Beträge von 14.995,60 € (2005) und 15.040,80 € (2006) berücksichtigt, bei denen es sich um die in den Niederlanden zu versteuernden Rentenbezüge handele. Diese Beträge waren in den Gewinnermittlungen des Klägers in den Konten "Umsatzerlöse Seminare" (2005) und "Einnahmen, Versicherungen" (2006) enthalten gewesen. Das FA lehnte die beantragte Änderung ab. Ein Einspruch des Klägers, der sein Begehren nunmehr auf § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO stützte, hatte ebenso wie die anschließend erhobene Klage keinen Erfolg. Das klageabweisende Urteil des Finanzgerichts (FG) Düsseldorf vom 7. Juli 2010 7 K 369/10 E ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2010, 2045 abgedruckt.
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Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Er beantragt sinngemäß, das FG-Urteil aufzuheben und das FA zu verpflichten, die Einkommensteuerbescheide 2005 und 2006 zu ändern und dabei die Einkünfte aus selbständiger Arbeit mit um 14.977 € (2005) und 15.037 € (2006) verminderten Beträgen zu berücksichtigen.
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Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet und führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz kommt im Streitfall eine Änderung der Einkommensteuerbescheide gemäß § 174 Abs. 1 Satz 1 AO in Betracht. Um beurteilen zu können, ob dessen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, bedarf es jedoch noch weiterer tatsächlicher Feststellungen.
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1. Frei von Rechtsfehlern hat das FG entschieden, dass die vom Kläger begehrte Änderung der Steuerbescheide nicht auf § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO gestützt werden kann.
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a) Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Unter bestimmten Voraussetzungen ist ein grobes Verschulden in diesem Zusammenhang unerheblich (§ 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO); ein solcher Sachverhalt liegt aber im Streitfall nicht vor.
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b) Im Streitfall ist dem FA, auf dessen Kenntnis es bei der Anwendung des § 173 AO ankommt, eine Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO nachträglich bekannt geworden. Denn das FA hat erst nach Durchführung der Veranlagungen und sogar erst nach Eintritt der Unanfechtbarkeit der Steuerbescheide erfahren, dass der Kläger in seinen Steuererklärungen Einnahmen aus der in den Niederlanden bezogenen Berufsunfähigkeitsrente angegeben und den steuerpflichtigen Einkünften zugeordnet hatte. Diese Tatsache führt deshalb zu einer niedrigeren Steuer, weil die daraufhin in den Bescheiden erfassten Einkünfte in Deutschland nicht hätten besteuert werden dürfen. Das ist zwischen den Beteiligten unstreitig und bedarf deshalb keiner näheren Erörterung.
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c) Eine Änderung der Bescheide nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO scheidet jedoch deshalb aus, weil die unrichtige Angabe der Einkünfte dem Kläger als grobes Verschulden anzulasten ist.
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aa) Ein grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO liegt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) vor, wenn jemand die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße verletzt (BFH-Urteil vom 15. Juli 2010 III R 32/08, BFH/NV 2010, 2237, m.w.N.). Ob ein solcher Sachverhalt im Einzelfall vorliegt, ist Tatfrage (BFH-Beschluss vom 17. Februar 2010 IX B 199/09, BFH/NV 2010, 1079) und in erster Linie vom FG zu beurteilen. Dessen Würdigung kann im Revisionsverfahren nur daraufhin überprüft werden, ob sie auf einer rechtsfehlerhaften Auslegung des Begriffs "grobes Verschulden" oder auf einem Verfahrensfehler beruht oder ob sie gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstößt (BFH-Beschluss vom 31. Januar 2005 VIII B 18/02, BFH/NV 2005, 1212; BFH-Urteil vom 3. Dezember 2009 VI R 58/07, BFHE 227, 365, BStBl II 2010, 531). Fehlt es daran, so ist die Beurteilung durch das FG auch dann revisionsrechtlich bindend (§ 118 Abs. 2 FGO), wenn eine abweichende Einschätzung ebenfalls vertretbar wäre.
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bb) Im Streitfall weist die vom FG vorgenommene Würdigung keinen derartigen Rechtsfehler auf. Das FG hat insbesondere beachtet, dass sich ein Steuerpflichtiger im Zusammenhang mit § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO das Verschulden eines von ihm hinzugezogenen steuerlichen Beraters wie eigenes Verschulden zurechnen lassen muss (BFH-Urteil vom 17. November 2005 III R 44/04, BFHE 211, 401, BStBl II 2006, 412, m.w.N.) und dass von einem steuerlichen Berater die Kenntnis und sachgemäße Anwendung steuerrechtlicher Bestimmungen erwartet werden kann (BFH-Urteil vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324). Wenn die Vorinstanz auf dieser Basis zu der Einschätzung gelangt ist, dass zumindest S ein grobes Verschulden traf, so liegt darin kein vom Revisionsgericht zu beanstandender Fehler. Diese Würdigung wird nicht nur durch den Umstand gestützt, dass ein steuerlicher Berater die Angaben seines Mandanten nicht ungeprüft übernehmen darf, sondern eigenverantwortlich aus dem steuerrechtlichen Blickwinkel überprüfen und bei Unklarheiten ggf. Nachfrage halten muss. Vielmehr bestand gerade im Streitfall eine besondere Sorgfaltspflicht deshalb, weil S wusste, dass der Kläger in seiner Einkommensteuererklärung für 2004 die Rentenzahlungen fälschlich den im Inland zu versteuernden Einkünften zugeordnet hatte. Angesichts dessen ist die Annahme des FG, dass S die ihr vom Kläger vorgelegten Unterlagen unter diesem Gesichtspunkt hätte überprüfen müssen und dass ihr bei einer solchen Überprüfung der Fehler aufgefallen wäre, nicht zu beanstanden. Die von der Revisionserwiderung aufgeworfene Frage, ob insoweit auch den Kläger selbst ein grobes Verschulden trifft, muss deshalb im Streitfall nicht erörtert werden.
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2. Jedoch bietet § 174 Abs. 1 Satz 1 AO eine Grundlage für eine Änderung der Steuerbescheide zugunsten des Klägers. Diese Vorschrift setzt voraus, dass ein bestimmter Sachverhalt in mehreren Steuerbescheiden zuungunsten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger berücksichtigt worden ist, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen; in diesem Fall ist der fehlerhafte Steuerbescheid auf Antrag aufzuheben oder zu ändern (§ 174 Abs. 1 Satz 1 AO). Die Voraussetzungen dieser Korrekturvorschrift würden hier vorliegen, wenn die dem Kläger in den Streitjahren zugeflossene Berufsunfähigkeitsrente nicht nur in den vom FA erlassenen Steuerbescheiden erfasst, sondern auch im Rahmen der in den Niederlanden vorgenommenen Besteuerung zuungunsten des Klägers berücksichtigt worden wäre.
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a) Die Frage, ob der in § 174 AO verwendete Begriff "Steuerbescheid" nur nach inländischem Recht erlassene Verwaltungsakte (so z.B. von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO, § 174 AO Rz 26, m.w.N.; Frotscher in Schwarz, AO, § 174 Rz 56, Koenig in Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 174 Rz 12; Haug-Adrion, Der Betrieb --DB-- 1985, 1969) oder auch damit vergleichbare Maßnahmen ausländischer Behörden umfasst (so Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 174 AO Rz 8; Klein/Rüsken, AO, 11. Aufl., § 174 Rz 15; Birkenfeld, Betriebs-Berater 1993, 1185, 1187; App, DB 1985, 939, 941), ist im Schrifttum streitig. Der Senat folgt der letztgenannten Auffassung jedenfalls insoweit, als --wie im Streitfall-- Maßnahmen von Steuerbehörden von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) in Rede stehen.
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aa) Für eine Begrenzung auf inländische Verwaltungsakte kann allerdings ins Feld geführt werden, dass der Begriff "Steuerbescheid" nach der allgemeinen Terminologie der Abgabenordnung (in § 155 Abs. 1 Satz 2 AO) einen Verwaltungsakt bezeichnet, durch den eine von einer Bundesfinanzbehörde oder einer Landesfinanzbehörde (vgl. § 6 Abs. 2 AO) verwaltete Steuer (§ 1 Abs. 1 Satz 1 AO) festgesetzt wird (§ 155 Abs. 1 Satz 1 AO). Dem Zweck des § 174 AO, der darin besteht, Vorteile und Nachteile auszugleichen, die sich durch einander inhaltlich widersprechende Steuerbescheide ergeben (vgl. von Wedelstädt in Beermann/Gosch, a.a.O., § 174 AO Rz 3), kann indes eine zwingende Begrenzung dahin, dass ein (unrichtiger) inländischer Bescheid nur geändert werden darf, wenn der inhaltliche Widerspruch zu einem anderem inländischen Bescheid besteht, nicht entnommen werden. Die in § 174 AO angelegte Durchbrechung der Bestandskraft des Steuerbescheids zugunsten der materiellen Richtigkeit der Besteuerung ist der Sache nach vielmehr nicht minder gerechtfertigt, wenn der in Rede stehende Widerspruch zwischen dem (unrichtigen) inländischen Steuerbescheid und einem von einer ausländischen Behörde erlassenen Steuerbescheid besteht.
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bb) Die von Wortlaut (vgl. § 155 Abs. 1 Satz 1 AO: "soweit nichts anderes vorgeschrieben ist") und Zweck der Norm her mögliche Einbeziehung ausländischer Verwaltungsakte in den Anwendungsbereich des § 174 Abs. 1 AO ist unter dem Aspekt der unionsrechtskonformen Auslegung der nationalen Rechtsnormen jedenfalls insoweit geboten, als es um die Berücksichtigung von Steuerbescheiden geht, die von Steuerbehörden aus EU-Mitgliedstaaten erlassen worden sind.
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aaa) Aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaftsorgane (Art. 4 Abs. 3 des Vertrages über die Europäische Union --EUV-- i.d.F. des Vertrags von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft [Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2007, Nr. C 306, S. 1] bzw. --bezogen auf die Streitjahre-- Art. 10 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft --EG-- i.d.F. des Vertrages von Nizza zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte [Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 2002, Nr. C 325, 1]; vgl. dazu von Bogdandy/Schill in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 4 EUV Rz 47 ff.) folgt der auch die nationalen Gerichte bindende Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung des innerstaatlichen Rechts (Zuleeg, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1994, 154, 165 ff.; von Bogdandy/ Schill in Grabitz/Hilf/Nettesheim, a.a.O., Art. 4 EUV Rz 94, m.w.N.). Danach haben die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und unter Anwendung der Auslegungsmethoden alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von dem Gemeinschaftsrecht verfolgten Ziel übereinstimmt (Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften [seit 2009 Gerichtshof der Europäischen Union] --EuGH-- vom 4. Juli 2006 C-212/04 "Adeneler", Slg. 2006, I-6057; vom 19. Januar 2010 C-555/07 "Kücükdeveci", Slg. 2010, I-365, DB 2010, 228). Der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung findet seinen primären Anwendungsbereich zwar in den durch EU-Richtlinien harmonisierten Rechtsbereichen. Dazu gehören nach ständiger Spruchpraxis des EuGH mangels einer einschlägigen Unionsregelung nicht die Verfahrensmodalitäten, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen; vielmehr sind diese nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats. Nach ebenfalls ständiger Spruchpraxis des EuGH dürfen diese Verfahrensmodalitäten aber nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art regeln --Äquivalenzgrundsatz--, und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren --Effektivitätsgrundsatz-- (vgl. z.B. EuGH-Urteile vom 7. Januar 2004 C-201/02 "Wells", Slg. 2004, I-723, Rz 67; vom 19. September 2006 C-392/04 und C-422/04 "i-21 Germany und Arcor", Slg. 2006, I-8559, Rz 57; vom 30. Juni 2011 C-262/09 "Meilicke u.a.", Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2011, 1262). Der besagte Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung gilt insbesondere mit Blick auf die unionsrechtlichen Grundfreiheiten deshalb auch darüber hinaus (vgl. Schön in Veröffentlichungen der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e.V., Bd. 19 (1996), S. 167, 180; Gosch, DStR 2007, 1553, 1555; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl., Rz 3.54, 3.57; Kahl in Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 4 EUV Rz 92 f.; Drüen in Tipke/ Kruse, a.a.O., § 4 AO Rz 240).
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bbb) Im Lichte der unionsrechtlichen Grundfreiheiten erscheint dem Senat eine Auslegung des § 174 Abs. 1 AO dahingehend, dass ein fehlerhafter inländischer Steuerbescheid auch dann geändert werden kann, wenn der widerstreitende Steuerbescheid von der Behörde eines Mitgliedstaats der EU erlassen wurde, vorzugswürdig. Selbst wenn --wie im Streitfall-- keine der speziellen Grundfreiheiten (z.B. Niederlassungsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit oder Kapitalverkehrsfreiheit) einschlägig ist, ist zumindest der Anwendungsbereich des Art. 18 EG (jetzt: Art. 21 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, ABlEU 2008, Nr. C 115, S. 47) berührt, der jedem Unionsbürger das Recht gewährt, sich --vorbehaltlich bestimmter Beschränkungen und Bedingungen-- im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Diese Vorschrift vermittelt eine allgemeine Grundfreiheit, die auch bei der Wahrnehmung von Besteuerungsbefugnissen zu beachten ist (EuGH-Urteil vom 11. September 2007 C-76/05 "Schwarz und Gootjes-Schwarz", Slg. 2007, I-6849, BFH/NV 2008, Beilage 1, 5).
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Eine Beschränkung des § 174 Abs. 1 AO auf ausschließlich inländische Steuerbescheide würde zwar nicht zu einer Diskriminierung ausländischer oder im Ausland wohnhafter Steuerpflichtiger im Vergleich zu deutschen oder im Inland wohnhaften Steuerpflichtigen führen. Denn der daraus resultierende Ausschluss der Korrekturmöglichkeit nach § 174 Abs. 1 AO würde in gleicher Weise auch deutsche Staatsangehörige oder im Inland wohnhafte Steuerpflichtige treffen, zu deren Ungunsten ein widerstreitender Steuerbescheid einer ausländischen Finanzbehörde ergangen ist.
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Jedoch folgt aus den unionsrechtlich verbürgten Grundfreiheiten über die Diskriminierungsverbote hinaus ein Beschränkungsverbot, von dem auch Inländer profitieren, wenn sie grenzüberschreitend oder im EU-Ausland tätig sind (vgl. zur Arbeitnehmerfreizügigkeit EuGH-Urteil vom 12. Dezember 2002 C-385/00 "de Groot", Slg. 2002, I-11819, BFH/NV 2003, Beilage 2, 75; zur Niederlassungsfreiheit EuGH-Urteil vom 13. April 2000 C-251/98 "Baars", Slg. 2000, I-2787; zur Kapitalverkehrsfreiheit EuGH-Urteile vom 6. Juni 2000 C-35/98 "Verkooijen", Slg. 2000, I-4071, und vom 21. November 2002 C-436/00 "X und Y", Slg. 2002, I-10829, BFH/NV 2003, Beilage 2, 92; Schön, Steuerberater-Jahrbuch 2003/2004, 27, 31; Schaumburg, a.a.O., Rz 4.16).
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Ein Ausschluss der Korrekturmöglichkeit nach § 174 Abs. 1 AO bei Widerstreit eines inländischen Steuerbescheids mit einem solchen aus einem EU-Mitgliedstaat würde eine Beschränkung der jeweils einschlägigen Grundfreiheit darstellen. Denn die Steuerpflichtigen --unabhängig von ihrer Nationalität und Ansässigkeit--, die international aktiv und dadurch in mehr als einem Mitgliedstaat steuerpflichtig sind, würden gegenüber solchen Steuerpflichtigen benachteiligt, deren Aktivitäten sich auf das Inland beschränken und die deshalb mit ihren Steuerangelegenheiten nur einem Fiskus unterworfen sind.
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Ein triftiger Grund dafür, widerstreitende Steuerbescheide ausländischer Behörden nicht zum Anlass für Korrekturen nach § 174 Abs. 1 AO zu nehmen, ist nicht ersichtlich. Der Gesichtspunkt der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten (vgl. z.B. EuGH-Urteil vom 25. Februar 2010 C-337/08 "X-Holding", Slg. 2010, I-1215, BFH/NV 2010, 1064) ist nicht berührt; denn über § 174 Abs. 1 AO kann ein Bescheid nur insoweit geändert werden, als er fehlerhaft ist (BFH-Beschluss vom 17. Februar 2005 II B 115/03, BFH/NV 2005, 1004), eine Besteuerungsbefugnis des deutschen Fiskus also materiell-rechtlich nicht besteht. Es bleibt der Umstand, dass sich die deutschen Finanzbehörden bei Berücksichtigung auch ausländischer Rechtsakte ggf. mit ausländischem Steuerrecht befassen müssen, wenn es z.B. zum Zwecke der Berechnung der Antragsfrist gemäß § 174 Abs. 1 Satz 2 AO um den Zeitpunkt der Unanfechtbarkeit des letzten der widerstreitenden Bescheide geht. Diese Erschwernis erscheint aber hinnehmbar und nicht derart gravierend, dass sie einer Auslegung der Vorschrift im vom Senat vertretenen Sinne ernstlich entgegensteht.
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b) Die weiteren Voraussetzungen einer Änderung nach § 174 Abs. 1 AO wären im Streitfall erfüllt.
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aa) Wäre die Berufsunfähigkeitsrente auch vom niederländischen Fiskus besteuert worden, wäre "ein bestimmter Sachverhalt" in mehreren Steuerbescheiden berücksichtigt worden.
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aaa) Der Begriff des "bestimmten Sachverhalts" in § 174 AO knüpft an einen einheitlichen Lebensvorgang an, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft (z.B. BFH-Urteil vom 18. Februar 1997 VIII R 54/95, BFHE 183, 6, BStBl II 1997, 647). Eine widerstreitende Steuerfestsetzung liegt nur vor, wenn derselbe Lebensvorgang in verschiedenen Steuerbescheiden unterschiedlich berücksichtigt worden ist (vgl. von Wedelstädt in Beermann/Gosch, a.a.O., § 174 AO Rz 18 f.; Klein/Rüsken, a.a.O., § 174 Rz 18).
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Die "Berücksichtigung" eines bestimmten Sachverhalts i.S. von § 174 Abs. 1 AO setzt voraus, dass er dem FA bei der Entscheidungsfindung bekannt war und als Entscheidungsgrundlage herangezogen und verwertet worden ist. Dabei ist es nicht erforderlich, dass das FA den erfassten Sachverhalt in allen Einzelheiten kennt; vielmehr kann der Vorgang z.B. in ein komprimiertes Zahlenwerk eingegangen sein, das dem FA bei der Entscheidungsfindung vorlag. Legt das FA der Veranlagung oder der Gewinnfeststellung einen vom Steuerpflichtigen erklärten Gewinn zugrunde, so sind damit alle Geschäftsvorfälle berücksichtigt, die der Steuerpflichtige bei seiner Gewinnermittlung erfasst hat (BFH-Urteil vom 6. März 1990 VIII R 28/84, BFHE 160, 140, BStBl II 1990, 558; von Wedelstädt in Beermann/ Gosch, a.a.O., § 174 AO Rz 27; Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 174 AO Rz 10).
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bbb) Der Lebensvorgang, um den es im Streitfall geht, sind die quartalsweisen Zahlungen der Berufsunfähigkeitsrente durch die niederländische Rentenkasse an den Kläger. Zwar war dem FA bei Steuerfestsetzung nicht bekannt und bewusst, dass es sich bei den den Gewinnermittlungspositionen "Umsatzerlöse Seminare" und "Einnahmen, Versicherungen" zugrunde liegenden Vorgängen um jene Rentenzahlungen handelte. Geht man aber davon aus, dass die auf den Gewinnermittlungen des Klägers basierenden Steuerfestsetzungen alle Geschäftsvorfälle berücksichtigen, die der Kläger bei seinen Gewinnermittlungen erfasst hat, dann muss das auch für die Rentenzahlungen gelten, selbst wenn sie in den Gewinnermittlungen des Klägers sowohl unter falscher Beschreibung als auch unter falscher rechtlicher Einordnung erfasst worden sind.
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bb) Wäre die in den Streitjahren vom Kläger bezogene Berufsunfähigkeitsrente auch in den Niederlanden besteuert worden, lägen widerstreitende Steuerbescheide vor.
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aaa) Die Anwendung des § 174 Abs. 1 AO erfordert nach einhelliger Auffassung das Vorliegen von (positiv) widerstreitenden Steuerfestsetzungen zu Lasten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger. Ein "Widerstreiten" in diesem Sinne setzt voraus, dass die in den (kollidierenden) Bescheiden getroffenen Regelungen (Steuerfestsetzungen oder Feststellungen) aufgrund der materiellen Rechtslage nicht miteinander vereinbar und daher widersprüchlich sind, weil nur eine der festgesetzten oder angeordneten Rechtsfolgen zutreffen kann. Die in der mehrfachen Erfassung eines bestimmten Sachverhalts liegenden Unrichtigkeiten müssen einander nach materiellem Recht zwingend (denknotwendig) ausschließen (BFH-Urteile vom 11. Juli 1991 IV R 52/90, BFHE 165, 449, BStBl II 1992, 126; vom 26. Januar 1994 X R 57/89, BFHE 174, 1, BStBl II 1994, 597; vom 7. Juli 2004 X R 26/01, BFHE 207, 35, BStBl II 2005, 145).
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bbb) Nach der materiellen Rechtslage war in den Streitjahren eine Berücksichtigung der dem Kläger zugeflossenen Berufsunfähigkeitsrente sowohl in der Bemessungsgrundlage der deutschen als auch in der Bemessungsgrundlage der niederländischen Einkommensteuer zwingend ausgeschlossen. Denn entweder war die Rente ohnehin nur nach dem Welteinkommensprinzip im Wohnsitzstaat des Klägers --den Niederlanden-- steuerbar. Oder aber sie hätte --wenn ein Tatbestand des § 49 des Einkommensteuergesetzes 2002 in der in den Streitjahren geltenden Fassungen (EStG 2002) erfüllt wäre --zusätzlich in Deutschland der beschränkten Steuerpflicht unterlegen. Auch in diesem Falle wäre indes der Besteuerungszugriff durch den deutschen Fiskus ausgeschlossen. Denn die Berufsunfähigkeitsrente zählt zu den "sonstigen Einkünften", für die Art. 16 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie verschiedener sonstiger Steuern und zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem Gebiete vom 16. Juni 1959 (BGBl II 1960, 1781, BStBl I 1960, 381) --DBA-Niederlande-- das Besteuerungsrecht dem Wohnsitzstaat zuweist. Somit ist auf der Grundlage des materiellen Rechts ein Besteuerungszugriff sowohl der Niederlande als auch Deutschlands auf die Berufsunfähigkeitsrente zwingend ausgeschlossen.
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Das FG hält demgegenüber (unter Bezugnahme auf Frotscher in Schwarz, a.a.O., § 174 Rz 56) einen "Widerstreit" im Verhältnis der beiderseitigen Steuerfestsetzungen nicht für gegeben, weil das Kollisionsverhältnis zwischen dem Steuerzugriff des Wohnsitzstaats und dem Staat, der im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht besteuert, durch die Regelungen in den Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung oder durch Anrechnung gemäß § 34c EStG 2002 aufgelöst werde (insoweit zustimmend Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 174 AO Rz 8). Dem vermag der Senat jedenfalls in Bezug auf Staaten, mit denen DBA geschlossen worden sind, nicht beizupflichten (ebenso Klein/Rüsken, a.a.O., § 174 AO Rz 15). Denn die DBA-Vorschriften, die einen parallelen Zugriff beider Vertragsstaaten auf das gleiche Steuersubstrat verhindern, sind Bestandteil der materiellen Rechtslage, aufgrund derer der "Widerstreit" zu beurteilen ist. Die abkommensrechtliche Verteilung der Besteuerungskompetenzen darf deshalb bei der Prüfung des Widerstreits nicht außer Acht gelassen werden.
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cc) Die streitbefangenen Festsetzungsbescheide des FA sind im Hinblick auf die (unbeabsichtigte) Erfassung der Berufsunfähigkeitsrente fehlerhaft. Der Kläger hat in den Streitjahren nicht im Inland gewohnt und war deshalb hier nicht unbeschränkt steuerpflichtig. Ein Tatbestand der beschränkten Steuerpflicht ist nicht einschlägig. Nach § 49 Abs. 1 Nr. 7 EStG 2002 unterfallen Einkünfte i.S. von § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG 2002 in der in den Streitjahren geltenden Fassung (bestimmte wiederkehrende Bezüge) nur dann der beschränkten Steuerpflicht, wenn sie von inländischen Unternehmen oder Einrichtungen gewährt werden. Im Streitfall stammen die Rentenzahlungen jedoch von einem niederländischen Versicherungsunternehmen. Aber selbst wenn ein Tatbestand der beschränkten Steuerpflicht erfüllt wäre, wäre die Besteuerung durch den deutschen Fiskus --wie oben ausgeführt-- gemäß Art. 16 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 DBA-Niederlande ausgeschlossen.
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3. Das FG ist teilweise von einer anderen rechtlichen Beurteilung ausgegangen. Sein Urteil ist deshalb aufzuheben. Die Sache ist noch nicht entscheidungsreif. Denn den tatrichterlichen Feststellungen lässt sich zwar entnehmen, dass die vom Kläger empfangenen Rentenzahlungen in den Niederlanden steuerpflichtig waren. Keine Feststellungen hat das FG indes --aus seiner rechtlichen Sicht konsequent-- dazu getroffen, ob die Zahlungen in den Niederlanden tatsächlich besteuert worden sind. Da dies aber Voraussetzung für eine Änderung der streitbefangenen Steuerbescheide nach § 174 Abs. 1 AO ist, wird das FG die erforderlichen Feststellungen im zweiten Rechtsgang zu treffen haben. Auf die erhöhten Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen im Rahmen der Ermittlung von Auslandssachverhalten (§ 76 Abs. 1 Satz 4 FGO i.V.m. § 90 Abs. 2 AO) wird hingewiesen.
Tatbestand
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I. Streitig ist, ob der bestandskräftige Einkommensteuerbescheid noch geändert werden kann, um in der elektronischen Steuererklärung (ELSTER) nicht angegebene Unterhaltsleistungen nachträglich zu berücksichtigen.
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Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) lebte im Streitjahr (2006) zusammen mit seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen, im Januar 2006 geborenen Kind. Der Kläger erstellte seit 1992 seine Steuererklärungen selbst. Im Streitjahr verwendete er dazu, wie schon im Vorjahr, das elektronische Steuererklärungsprogramm der Finanzverwaltung (ElsterFormular).
- 3
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Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) erließ auf Grundlage dieser Erklärung am 18. Mai 2007 einen Einkommensteuerbescheid, der bestandskräftig wurde.
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Der Kläger beantragte mit Schriftsatz vom 23. März 2008 die Änderung dieser Einkommensteuerfestsetzung für 2006 mit dem Ziel, Unterhaltsleistungen an seine Lebenspartnerin als außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen (§ 33a Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes). Er begründete dies zunächst damit, dass er diese Aufwendungen aus Unerfahrenheit nicht erklärt habe. Später trug er dazu vor, schlichtweg vergessen zu haben, die Aufwendungen zu erklären. Der Fehler sei ihm auch nach nochmaliger Durchsicht des Ausdrucks nicht aufgefallen. Denn beim ELSTER-Verfahren enthalte der abschließende Erklärungsausdruck nur die Felder, in denen auch Eintragungen vorgenommen worden seien. Letztlich habe die Unübersichtlichkeit des ElsterFormulars im Vergleich zur Steuererklärung in Papierform und die fehlende Routine im Umgang mit dem ElsterFormular die Entdeckung des Fehlers verhindert, der allenfalls auf leichter Fahrlässigkeit beruhe.
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Das FA lehnte es ab, den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr zu ändern. Denn den Kläger treffe ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden der Unterhaltsleistungen. Im ElsterFormular werde ebenso wie in der Anleitung zur Steuererklärung und im Erklärungsvordruck auf den Abzug von Unterhaltsleistungen hingewiesen und nach Angaben zur unterhaltenen Person gefragt.
- 6
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Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage hat das Finanzgericht (FG) aus den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2011, 1043 veröffentlichten Gründen abgewiesen.
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Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.
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Er beantragt sinngemäß,
das Urteil des FG des Landes Sachsen-Anhalt vom 30. Juni 2010 sowie den ablehnenden Bescheid vom 27. Juni 2008 i.d.F. der Einspruchsentscheidung vom 13. Mai 2009 aufzuheben und das FA zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid für 2006 vom 18. Mai 2007 dahingehend zu ändern, dass die Einkommensteuer auf 7.130 € herabgesetzt wird.
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Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung). Das FG hat zu Recht entschieden, dass der hier streitige bestandskräftige Einkommensteuerbescheid wegen eines den Kläger treffenden groben Verschuldens nicht nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) zu ändern ist.
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Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Als grobes Verschulden hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Grobe Fahrlässigkeit ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt hat (BFH-Urteile vom 9. November 2011 X R 53/09, BFH/NV 2012, 545; vom 19. Dezember 2006 VI R 59/02, BFH/NV 2007, 866; vom 9. August 1991 III R 24/87, BFHE 165, 454, BStBl II 1992, 65; jeweils m.w.N.).
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a) Ob der Beteiligte im jeweiligen Einzelfall grob fahrlässig gehandelt hat, ist im Wesentlichen Tatfrage. Die dazu getroffenen Feststellungen und daraus folgenden Würdigungen des FG können --abgesehen von zulässigen und begründeten Verfahrensrügen-- von der Revisionsinstanz nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind und ob die Würdigung der Umstände hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (BFH-Urteil in BFH/NV 2012, 545, m.w.N.).
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b) Die Würdigung des FG, angesichts der Ausgestaltung des ElsterFormulars für die Einkommensteuererklärung 2006 und der Anleitung dazu treffe den Kläger ein grobes Verschulden daran, dass die Unterhaltsleistungen erst nachträglich bekannt wurden, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
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aa) Das FG hat im Fall des Klägers den Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit zutreffend ausgelegt und die daraus abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt. Von einem groben Verschulden ist auszugehen, wenn der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht nur unzureichend nachkommt, indem er eine unvollständige Steuererklärung abgibt. Es entspricht allerdings ständiger Rechtsprechung des BFH, dass kein grobes Verschulden vorliegt, wenn die unvollständige Steuererklärung auf einem subjektiv entschuldbaren Rechtsirrtum beruht. Aber auch der Steuerpflichtige, dem einschlägige steuerrechtliche Kenntnisse fehlen, muss im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte Fragen beantworten und dem Steuererklärungsformular beigefügte Erläuterungen mit der von ihm zu erwartenden Sorgfalt lesen und beachten. Dies gilt jedenfalls dann, wenn solche Fragen und Hinweise ausreichend verständlich sowie klar und eindeutig sind (BFH-Urteil in BFH/NV 2012, 545, m.w.N.).
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bb) Das FG hat nach Maßgabe dieser Grundsätze in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise ein grob fahrlässiges Handeln des Klägers angenommen. Es hat das grobe Verschulden insbesondere darin gesehen, dass der Kläger die mit "Unterhalt für bedürftige Personen" überschriebene Zeile 102 unbeantwortet ließ und er nicht nur die in der Anleitung zur Einkommensteuererklärung aufgeführten zwei auf ihn zutreffenden Sachverhalte, sondern auch den dort angeführten Hinweis nicht beachtete, dass eine Unterhaltspflicht gegenüber der Mutter eines gemeinsamen Kindes bestehen kann. Dazu hat das FG auch die Einlassung des Klägers, er habe eine elektronische Steuererklärung abgegeben und deshalb deren schriftliche Anleitung nicht zur Verfügung gehabt, in seine Würdigung einbezogen und im Ergebnis als unbeachtlich beurteilt. Denn es hat festgestellt, dass diese Angaben auch in dem vom Kläger verwendeten elektronischen ElsterFormular der Finanzverwaltung enthalten waren. Auch für diese Hinweise gilt --nicht anders als für solche in Papierform--, dass es regelmäßig grob fahrlässig ist, diese unbeachtet zu lassen, sofern sie ausreichend verständlich sowie klar und eindeutig sind. Davon war im Streitfall nach den Feststellungen des FG für das ElsterFormular 2006 auszugehen.
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Der hier zu entscheidende Streitfall unterscheidet sich von dem heute durch den erkennenden Senat ebenfalls entschiedenen Fall zum ElsterFormular des Veranlagungszeitraums 2008 (Urteil vom 20. März 2013 VI R 9/12, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt), indem aufscheinende Hilfstexte die Sachverhalte nur unvollständig erläuterten und den Steuerpflichtigen angesichts unübersichtlicher Vordruckgestaltungen gerade nicht dazu veranlassten, zur Verfügung gestellte weitere Anlagen zu verwenden. Das FG hat dagegen für die im Streitfall erforderlichen Eingaben in die Maske des Steuerformulars keine im Rahmen der Gesamtwürdigung zu berücksichtigenden Besonderheiten in der Programmführung des ElsterFormulars festgestellt. Insoweit unterscheidet sich der hier zu beurteilende Fall auch von dem des FG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 13. Dezember 2010 5 K 2099/09, EFG 2011, 685, Revisionsverfahren anhängig unter dem Az. X R 8/11); dort hatten die Anwendungsmodalitäten des Programms den Anwender veranlasst, in eine andere Eingabemaske zu wechseln, ohne nach der Eingabe dort zur ursprünglichen Maske zurückzukehren.
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Der Kläger kann sich schließlich nicht darauf berufen, dass im Gegensatz zur Einkommensteuererklärung in Papierform das ElsterFormular keinen vollständigen Ausdruck der Steuererklärung liefert, sondern letztlich nur die Werte und Kennziffern aufführt, zu denen der Steuerpflichtige Eintragungen vorgenommen hat. Denn dies mag zwar einen Nachteil der elektronischen Steuererklärung darstellen, betrifft aber nicht den Grund für die Annahme der groben Fahrlässigkeit, nämlich die fehlende An- und Eingabe im ElsterFormular selbst.
Tatbestand
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I. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) werden im Streitjahr 2006 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger ist Diplom-Finanzwirt (FH) und Notar, die Klägerin ist Buchhalterin und Hausfrau.
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Die Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2006 haben die Kläger mit Hilfe des elektronischen Steuerprogramms Elster/Formular 2006/2007 an den Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) übermittelt und eine komprimierte (verkürzte) Steuererklärung in Papierform unterschrieben nachgereicht. In dem elektronischen Erklärungsformular haben die Kläger in Zeile 62 des Mantelbogens, in der nach Beiträgen zu berufsständischen Versorgungseinrichtungen bei Nichtarbeitnehmern gefragt ist, Zahlungen des Klägers an die Notarversorgungskasse nicht eingetragen. Im Veranlagungszeitraum 2005 hatten sie diesen Posten korrekt in der ebenfalls mit Hilfe des elektronischen Steuerprogramms Elster erstellten Erklärung geltend gemacht.
- 3
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Das FA setzte die Einkommensteuer 2006 mit Bescheid vom 25. Juli 2008 erklärungsgemäß fest; Zahlungen an die Notarversorgungskasse wurden nicht berücksichtigt. Aus den Erläuterungen zum Bescheid ergibt sich, die Günstigerprüfung für die Veranlagung des Jahres 2006 habe ergeben, dass die Ermittlung der abziehbaren Vorsorgeaufwendungen nach der Rechtslage des Jahres 2004 zu einem günstigeren Ergebnis führe.
- 4
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Mit Abgabe der Einkommensteuererklärung für das Jahr 2007 baten die Kläger mit Schreiben vom 21. Februar 2009, den Einkommensteuerbescheid 2006 zu ändern. Bei Erstellung der Steuererklärung für das Jahr 2007 hätten sie bemerkt, dass im Vorjahr die Zahlungen des Klägers an die Notarversorgungskasse in Höhe von 18.457 € irrtümlich nicht in Zeile 62 des Mantelbogens eingetragen worden seien. Das FA entsprach diesem Begehren nicht. Mit Schreiben vom 22. April 2009 beantragten die Kläger daraufhin die Änderung des Einkommensteuerbescheids 2006 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO). Das FA lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, die Kläger treffe ein grobes Verschulden daran, dass die Zahlungen in der Einkommensteuererklärung 2006 nicht geltend gemacht worden seien.
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Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage hatte Erfolg (Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 685). Das Finanzgericht (FG) urteilte, die Kläger treffe kein grobes Verschulden daran, dass die Zahlungen des Klägers an die Notarversorgungskasse erst nachträglich bekannt geworden seien. Sie hätten übersehen, die sich aus ihren handschriftlichen Notizen ergebenden Zahlungen in die elektronische Bildmaske des Elsterprogramms zu übernehmen. Die Einkommensteuererklärung sei ansonsten vollständig ausgefüllt worden und die Zahlungen an die Notarversorgungskasse seien in den Jahren vor 2006 und im Jahr 2007 stets geltend gemacht worden. Es sei daher von einem Übertragungs- bzw. Eingabefehler aus den handschriftlichen Notizen des Klägers überschrieben mit "Vorsorgeaufwendungen" in die Zeile 62 des Mantelbogens auszugehen.
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Der Senat könne darin keine Pflichtverletzung erkennen, die in ungewöhnlichem Maße und nicht entschuldbarer Weise die gebotene Sorgfalt außer Acht lasse. Es entspreche der allgemeinen Lebenserfahrung, dass solche Fehler --trotz großer Sorgfalt-- bei der Übertragung von Daten, insbesondere aber bei der Bearbeitung größerer Dokumente am PC immer wieder vorkämen, begünstigt durch die technischen Gegebenheiten und einer Vielzahl von Bildmasken und Fenstern, die stets nur einen kleinen Ausschnitt des Gesamtdokuments zeigten. Zu berücksichtigen sei auch, dass das ElsterFormular bzw. ElsterOnline den Finanzämtern die mechanische Erfassungsarbeit von Steuererklärungsdaten abnehme und auf den Steuerpflichtigen verlagere und deshalb ein Sorgfaltsverstoß des Steuerpflichtigen nach den gleichen Maßstäben beurteilt werden müsse wie ein Übertragungs- oder Eingabefehler des Bearbeiters im FA. Ein solcher berechtige nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Berichtigung nach § 129 AO. Deshalb sei es sachgerecht, einen vergleichbaren Fehler des Steuerpflichtigen entsprechend zu qualifizieren, sodass er einer Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht entgegenstehe.
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Zwar sei nach der Rechtsprechung des BFH bei der Prüfung des groben Verschuldens auch der Zeitraum bis zur Bestandskraft des Bescheids einzubeziehen. Ein grobes Verschulden i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO könne auch darin bestehen, dass der Steuerpflichtige es unterlasse, gegen einen Steuerbescheid Einspruch einzulegen, obwohl sich ihm innerhalb der Einspruchsfrist die Geltendmachung von bisher dem FA nicht bekannter Tatsachen hätte aufdrängen müssen. Die Kläger hätten nach ihren Angaben jedoch bei Erhalt des Einkommensteuerbescheids 2006 die festgesetzte Steuer mit der Probeberechnung des ElsterProgramms verglichen und konsequenterweise habe ihnen der Fehler nicht auffallen können. Der Senat könne offenlassen, ob dieser Datenabgleich ausreiche. Selbst wenn man angesichts der juristischen Fertigkeiten und steuerrechtlichen Kenntnisse des Klägers eine umfassende Prüfungspflicht annehme, hätte sich ihm nicht aufdrängen müssen, dass die Beiträge zur Notarversorgungskasse nicht geltend gemacht worden seien. Wegen des teilweise nur prozentualen Ansatzes der Beiträge sei auch für einen steuerlichen Fachmann nicht ohne weiteres zu erkennen, welche Beiträge in welcher Höhe aus der Erklärung der Berechnung zugrunde gelegt worden seien. Zudem hätten die Kläger, wäre ihnen aufgefallen, dass ein erheblicher Teil ihrer Vorsorgeaufwendungen und Versicherungsbeiträge fehlt, rechtliche Überlegungen dahingehend anstellen müssen, dass die abziehbaren Aufwendungen nach einer anderen Rechtslage zu berechnen seien. Bei der Höchstbetragsberechnung in der bis zum Jahr 2004 geltenden Rechtslage hätten sich die Zahlungen nicht ausgewirkt.
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Mit der Revision rügt das FA Verletzung von Bundesrecht. Das FG habe die aus dem Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit abzuleitenden Sorgfaltspflichten verkannt. Das Urteil weiche von der Rechtsprechung des BFH ab, nach der die Nichtbeantwortung einer ausdrücklich im Steuererklärungsformular gestellten, sich auf einen bestimmten Vorgang beziehenden Frage ein grobes Verschulden i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO darstelle. Im Streitfall hätten die Kläger die im Erklärungsformular in Zeile 62 ausdrücklich gestellte Frage nach den als Sonderausgaben abziehbaren Beiträgen zu berufständischen Versorgungseinrichtungen nicht beantwortet. Ohne Bedeutung sei, dass sie zur Übermittlung ihrer Steuererklärung das elektronische System Elster benutzt und die Daten in einen Computer statt handschriftlich in ein Formular eingegeben hätten. Der Steuerpflichtige müsse prüfen, ob die Angaben aus einer Kladde oder einem Entwurf der Steuererklärung in den für das FA bestimmten Erklärungsbogen vollständig und richtig übertragen worden seien (BFH-Beschluss vom 30. Januar 1997 III B 99/95, BFH/NV 1997, 385). Diese Anforderungen müssten auch dann gelten, wenn Daten aus einem schriftlichen Entwurf in ein Computerprogramm übertragen würden. Es sei den Klägern als grobes Verschulden anzulasten, wenn sie den Abgleich ihrer handschriftlichen Notizen mit den für das FA zur elektronischen Übermittlung bestimmten Computerdaten unterlassen oder ihnen nicht auffällt, dass Daten nicht in das vorgesehene, ausdrücklich nachgefragte Eingabefeld eingegeben werden.
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Auch bestehe die Möglichkeit, sich unter ElsterFormular den amtlichen Erklärungsvordruck am Bildschirm anzeigen zu lassen. Diese Möglichkeit bestehe auch noch nach der elektronischen Übermittlung der Daten an das FA und dem Ausdruck der komprimierten Erklärung. Die Steuerpflichtigen handelten grob schuldhaft, wenn sie sich allein auf die Druckvorschau verließen und die weitergehende Prüfmöglichkeit nicht nutzten.
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Das FG etabliere ein Sonderrecht für elektronische Steuererklärungen, indem es den Verschuldensmaßstab entgegen der ständigen Rechtsprechung des BFH abmildere. Bedenke man, dass die Finanzverwaltung zur schnelleren Bearbeitung der Steuererklärungen im Sinne der Serviceorientierung bemüht sei, die Steuerpflichtigen zur verstärkten Nutzung der elektronischen Steuererklärung zu bewegen, die elektronische Abgabe bei der Umsatzsteuervor- und der Lohnsteueranmeldung sowie ab dem Veranlagungszeitraum 2011 für Jahreserklärungen im betrieblichen Bereich verpflichtend sei, würde bei Zugrundelegung der Rechtsauffassung des FG eine nachträgliche Änderung der Steuerbescheide zugunsten des Steuerpflichtigen aufgrund des geringeren Verschuldensmaßstabs zum Regelfall werden und das Verschuldenskorrektiv des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO entgegen der gesetzgeberischen Intention weitgehend leerlaufen. Das Einspruchsverfahren würde an Bedeutung verlieren, weil die Steuerpflichtigen auch nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist noch in großem Umfang Änderungen zu ihren Gunsten erreichen könnten.
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Grob schuldhaft hätten die Kläger auch deshalb gehandelt, weil sie den Steuerbescheid nicht daraufhin überprüft hätten, ob die Beiträge an das Versorgungswerk erfasst waren. Auch wenn das FA die Rechtslage 2004 der Besteuerung zugrunde gelegt habe, wären auch nach alter Rechtslage die Beiträge an das Versorgungswerk in der Summe der Altersvorsorgeaufwendungen im Bescheid aufgeführt worden. Diese hätten 18.457 € betragen; im Bescheid seien jedoch nur 16.294 € Versicherungsbeiträge ohne prozentuale Kürzung ausgewiesen worden. Auch sei den Klägern ein Abgleich mit dem Bescheid des Vorjahres möglich und zumutbar gewesen. Hier seien die Sonderausgaben nach der Rechtslage 2005 abgezogen worden.
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§ 173 Abs. 1 Nr. 2 AO knüpfe an Verschulden an und sei daher mit § 129 AO nicht vergleichbar.
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Das FA beantragt sinngemäß,
das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Kläger beantragen,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
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Mit dem FG vertreten sie die Auffassung, dass die Anforderungen an den Steuerpflichtigen, der das elektronische Programm Elster nutzt, niedriger sein müssten als beim Ausfüllen der Papierformulare. Zu bedenken sei auch, dass die Erklärungsvordrucke von Jahr zu Jahr geändert würden. Die Finanzbehörden müssten elektronisch ausgefüllte Vordrucke kritisch auf Fehler und Unstimmigkeiten untersuchen. Dem FA hätte der Fehler auffallen müssen. Die Beiträge zur Notarversorgungskasse seien in jedem Vorjahr angefallen. Wenn das FA die Daten nicht selbst erfassen müsse, müsse es umso kritischer die vom Steuerpflichtigen ausgefüllten Datensätze kontrollieren.
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Bei der großen Zahl von fehlerhaften Steuererklärungen könne nicht jeder Übertragungsfehler eine grobe Fahrlässigkeit sein. Eine Milderung des Verschuldensmaßstabs in § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO diene dem Rechtsfrieden und der Waffengleichheit zwischen dem FA und dem Steuerpflichtigen. Unterlaufe dem FA ein reiner Tippfehler, könne es den Bescheid jederzeit ändern; unterlaufe dem Steuerpflichtigen derselbe Fehler, müsse er dieselben Rechte haben. Im Streitfall handele es sich um einen Fall des sog. "umgekehrten § 129 AO".
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG war zu Unrecht der Ansicht, der bestandskräftige Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr könne nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zugunsten der Kläger geändert werden, weil diesen kein grobes Verschulden vorzuwerfen sei.
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Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.
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1. Allein streitig ist das Vorliegen eines groben Verschuldens.
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a) Als grobes Verschulden hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Letztere ist dann anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt hat (z.B. BFH-Urteile vom 20. November 2008 III R 107/06, BFH/NV 2009, 545, und vom 9. November 2011 X R 53/09, BFH/NV 2012, 545).
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Grob fahrlässiges Handeln liegt insbesondere vor, wenn ein Steuerpflichtiger seiner Erklärungspflicht nur unzureichend nachkommt, indem er unvollständige Steuererklärungen abgibt (z.B. BFH-Urteile vom 30. Oktober 1986 III R 163/82, BFHE 148, 208, BStBl II 1987, 161; vom 1. Oktober 1993 III R 58/92, BFHE 172, 397, BStBl II 1994, 346, und in BFH/NV 2009, 545). Beruht die unvollständige Steuererklärung auf einem Rechtsirrtum wegen mangelnder Kenntnis steuerrechtlicher Vorschriften, ist dies dem Steuerpflichtigen in der Regel nicht als grobes Verschulden anzulasten (BFH-Urteile vom 23. Februar 2000 VIII R 80/98, BFH/NV 2000, 978, und in BFH/NV 2009, 545).
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Auf einen die grobe Fahrlässigkeit ausschließenden, entschuldbaren Rechtsirrtum kann sich der Steuerpflichtige --auch wenn ihm steuerrechtliche Kenntnisse fehlen-- dann nicht berufen, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen bestimmten Vorgang bezogene und für ihn verständliche Frage nicht beantwortet (z.B. BFH-Urteile vom 23. Oktober 2002 III R 32/00, BFH/NV 2003, 441, und in BFH/NV 2009, 545, sowie in BFH/NV 2012, 545, zur Angabe von Pflichtbeiträgen Selbständiger zur gesetzlichen Rentenversicherung als Vorsorgeaufwendungen).
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b) Nach der Rechtsprechung (BFH-Urteile vom 20. März 2013 VI R 5/11, BFHE 240, 504, sowie VI R 9/12, BFHE 240, 507) handelt der Steuerpflichtige auch dann regelmäßig grob fahrlässig i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, wenn er die dem elektronischen ElsterFormular beigefügten Erläuterungen zur Einkommensteuererklärung unbeachtet lässt, soweit solche Erläuterungen für einen steuerlichen Laien ausreichend verständlich, klar und eindeutig sind (vgl. auch BFH-Urteil vom 16. Mai 2013 III R 12/12, BFHE 241, 226, zum groben Verschulden eines Beraters in Zusammenhang mit der Erstellung einer elektronischen Steuererklärung).
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2. Ob der Beteiligte im jeweiligen Einzelfall grob fahrlässig gehandelt hat, ist im Wesentlichen Tatfrage. Die dazu getroffenen Feststellungen und daraus folgenden Würdigungen des FG können --abgesehen von zulässigen und begründeten Verfahrensrügen-- von der Revisionsinstanz nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind und ob die Würdigung der Umstände hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (BFH-Urteil in BFH/NV 2012, 545, m.w.N.).
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3. Bei Anwendung dieser Grundsätze auf den Streitfall kann das Urteil des FG keinen Bestand haben.
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Entgegen der Annahme des FG trifft den Kläger ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden seiner Zahlungen an die Notarversorgungskasse. Im Streitjahr 2006 hat das Erklärungsformular des Elsterprogramms in Zeile 62 ausdrücklich die Frage nach den als Sonderausgaben abziehbaren Beiträgen zu berufständischen Versorgungseinrichtungen gestellt. Diese Frage hat der Kläger unbeantwortet gelassen. Beantwortet ein Steuerpflichtiger aber eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf bestimmte Vorgänge bezogene Fragen nicht, kann er sich nach ständiger Rechtsprechung nicht auf einen die grobe Fahrlässigkeit ausschließenden, entschuldbaren Rechtsirrtum berufen (vgl. z.B. BFH-Urteil in BFH/NV 2003, 441, m.w.N.).
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Entgegen der Auffassung des FG lässt der Umstand, dass der Kläger seine Steuererklärung mit Hilfe des Elsterprogramms gefertigt hat und dieses keinen vollständigen Ausdruck des Steuererklärungsformulars liefert, sondern letztlich nur die Werte und Kennziffern aufführt, zu denen der Steuerpflichtige Eintragungen vorgenommen hat, das grobe Verschulden des Klägers nicht entfallen. Denn dies mag zwar einen Nachteil der elektronischen Steuererklärung darstellen, betrifft aber nicht den Grund für die Annahme der groben Fahrlässigkeit, nämlich die fehlende An- und Eingabe im ElsterFormular selbst (BFH-Urteil in BFHE 240, 504). Zudem besteht die Möglichkeit, sich den amtlichen Erklärungsvordruck auf dem Bildschirm anzeigen zu lassen.
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Der Begriff des Verschuldens i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO bei elektronisch gefertigten Steuererklärungen ist nicht anders auszulegen als bei schriftlich gefertigten Erklärungen. Es gibt hier kein Sonderrecht (BFH-Urteile in BFHE 240, 504; in BFHE 240, 507, und in BFHE 241, 226). Bei Anwendung des Verschuldensmaßstabs des FG wäre im Übrigen ein grobes Verschulden bei unterlassenen Eintragungen im Erklärungsvordruck des ElsterProgramms kaum denkbar; Änderungen nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO wären --entgegen der gesetzgeberischen Intention-- die Regel.
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Im Streitfall trifft den Kläger zudem ein grobes Verschulden bei der Prüfung der Steuererklärung. Der Vergleich der festgesetzten Steuer mit der Probeberechnung des ElsterProgramms ist nicht geeignet, unterlassene Eintragungen im Programm aufzudecken, da diese zwangsläufig in die Probeberechnung nicht eingehen können. Bei einer Prüfung des Steuerbescheids hätte dem Kläger angesichts der Höhe seiner Beiträge zum Versorgungswerk (diese haben 18.457 € betragen; im Bescheid sind jedoch nur insgesamt 16.294 € Versicherungsbeiträge aufgeführt) auffallen müssen, dass ein erheblicher Betrag nicht in die Steuerberechnung eingegangen ist. Das FA hat im Revisionsverfahren vorgetragen, die abziehbaren Vorsorgeaufwendungen im Jahr 2005 seien nach der Rechtslage des Jahres 2005 berechnet worden. Trifft dies zu --entsprechende Feststellungen des FG fehlen-- ist das Verschulden des Klägers bei der Prüfung seines Steuerbescheids für 2006 offensichtlich. Jeder Steuerpflichtige würde sich die Frage stellen, weshalb sich 2005 die abziehbaren Vorsorgeaufwendungen nach der Rechtslage des Jahres 2005 berechnen, die Vorsorgeaufwendungen des Jahres 2006 jedoch --da für ihn vorteilhaft-- nach der Rechtslage im Jahr 2004. Doch selbst wenn die Sonderausgaben im Jahr 2005 nicht nach der Rechtslage des Jahres 2005 berechnet worden sind, hätte die Tatsache, dass für das Streitjahr 2006 die abziehbaren Vorsorgeaufwendungen nach der Rechtslage des Jahres 2004 wegen des günstigeren Ergebnisses berechnet worden sind, den Kläger wenigstens zu Nachfragen beim FA veranlassen müssen. Das Inkrafttreten des Alterseinkünftegesetzes und die damit verbundene bessere Abziehbarkeit der Vorsorgeaufwendungen ab dem 1. Januar 2005 muss dem Kläger angesichts der umfassenden Berichterstattung in den Medien bekannt gewesen sein.
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-
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
(1) Steuerbescheide sind aufzuheben oder zu ändern,
- 1.
soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen, - 2.
soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Das Verschulden ist unbeachtlich, wenn die Tatsachen oder Beweismittel in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit Tatsachen oder Beweismitteln im Sinne der Nummer 1 stehen.
(2) Abweichend von Absatz 1 können Steuerbescheide, soweit sie auf Grund einer Außenprüfung ergangen sind, nur aufgehoben oder geändert werden, wenn eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt. Dies gilt auch in den Fällen, in denen eine Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 ergangen ist.
Tenor
Unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 28. Februar 2013 und der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 2. Oktober 2013 wird der Beklagte verpflichtet, den Einkommensteuerbescheid 2011 vom 1. August 2012 dahingehend zu ändern, dass zusätzliche Werbungskosten in Höhe von 6.167,15 Euro berücksichtigt werden.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs der Klägerin abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in derselben Höhe leistet.
1
T a t b e s t a n d :
2Die Klägerin ist Rechtsanwältin und als solche im Bereich des Unternehmensrechts tätig. Im Jahr 2012 fertigte sie - erstmals eigenständig - ihre Steuererklärung für das Jahr 2011 an. Im Hinblick auf eine von ihr vermietete Eigentumswohnung erklärte sie dabei auch Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung. Als Werbungskosten gab sie dabei u.a. Schuldzinsen für zwei Darlehen zur Finanzierung der vermieteten Wohnung in Höhe von insgesamt 2.059,75 Euro an. Damit übertrug sie in ihre Steuererklärung die Werte zweier Steuerbescheinigungen, welche ihr die finanzierende A-Bank über gezahlte Schuldzinsen hinsichtlich der beiden Darlehen zugesandt hatte. Laut Betreffzeile waren diese Bescheinigungen jeweils für den Zeitraum 1. Januar 2011 bis 31. März 2011 ausgestellt worden.
3Der Beklagte erließ am 1. August 2012 gegenüber der Klägerin den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2011. Die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung berücksichtigte der Beklagte erklärungsgemäß mit einem Verlust in Höhe von 431 Euro.
4Am 15. Februar 2013 erhielt die Klägerin aufgrund einer „technischen Umstellung“ von ihrer Bank zwei Darlehenskontoauszüge mit der Aufstellung der im Zeitraum 1. April 2011 bis 31. Dezember 2011 gezahlten Schuldzinsen in Höhe von insgesamt 6.167,15 Euro.
5Die Klägerin beantragte mit Schreiben ebenfalls vom 15. Februar 2013 beim Beklagten, diese Schuldzinsen im Steuerbescheid für 2011 zusätzlich zu berücksichtigen. Mit Bescheid vom 28. Februar 2013 lehnte der Beklagte eine Änderung ab.
6Hiergegen legte die Klägerin fristgerecht Einspruch ein, welchen der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 2. Oktober 2013 als unbegründet zurückwies.
7Die Klägerin hat am 4. November 2013 Klage erhoben. Sie macht geltend, dass die Voraussetzungen für eine Änderung der Steuerfestsetzung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) vorlägen. Die weiteren Schuldzinsen seien ihr erst nachträglich bekannt geworden. Es läge auch kein grobes Verschulden ihrerseits am nachträglichen Bekanntwerden vor. Seit dem Erwerb der vermieteten Eigentumswohnung habe sie zum ersten Mal die Steuererklärung selbst gefertigt. Sie habe für die Anfertigung der Steuererklärung die gleichen Belege herangezogen, die sie in den Vorjahren ihrem Steuerberater habe zukommen lassen. Da in den Vorjahren die gesamten Schuldzinsen des jeweiligen Jahres in der Zinsbescheinigung ausgewiesen worden seien, habe sie auch für das Streitjahr davon ausgehen können. Eine technische Umstellung seitens der Bank habe sie nicht vorhersehen können. Außerdem habe sie die zweite Bescheinigung nicht kurz nach Abgabe der Steuererklärung, sondern erst über ein Jahr später erhalten.
8Aus der Tatsache, dass sie Juristin sei, könne kein grobes Verschulden abgeleitet werden. Sie habe zum einen keine steuerrechtliche Vorbildung. Zum anderen gehe es vorliegend auch nicht um eine Rechtsfrage, bei der die persönliche Qualifikation entscheidend wäre, sondern vielmehr um ein bloßes Übertragen der Werte aus einer Bescheinigung in die Steuererklärung, wofür kein Fachwissen erforderlich sei. Dabei sei ihr eine bloße Nachlässigkeit passiert.
9Bei den Schuldzinsen handele es sich zwar um wiederkehrende Werbungskosten, solange das Darlehen finanziert werde. Jedoch seien die Beträge nicht konstant gewesen. Sie habe nicht ihre Sorgfaltspflicht verletzt, wenn sie nicht wisse, wie hoch der monatliche Tilgungs- bzw. Zinsanteil sei.
10Die Klägerin beantragt sinngemäß,
11unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 28. Februar 2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 2. Oktober 2013 den Beklagten zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid 2011 vom 1. August 2012 dahingehend zu ändern, dass zusätzliche Werbungskosten i.H.v. 6.167,15 Euro berücksichtigt werden.
12Der Beklagte beantragt,
13die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Revision zuzulassen.
14Er vertritt die Auffassung, dass eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO nicht erfolgen könne, da die Klägerin ein grobes Verschulden treffe. Ein grobes Verschulden liege insbesondere dann vor, wenn Werbungskosten nicht geltend gemacht würden, weil die entsprechenden Belege aus irgendwelchen Gründen nicht greifbar seien. Die Klägerin als Rechtsanwältin verfüge über umfassende allgemeine Rechtskenntnisse. Trotz dieser persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten habe sie ungeachtet des Hinweises auf den Zeitraum in den ersten Bescheinigungen nicht nach den Bescheinigungen für den übrigen Zeitraum gesucht oder diese bei der Bank angefordert. Die Hervorhebungen des Zeitraums in den Betreffzeilen seien deutlich gewesen.
15Der Beklagte trägt außerdem vor, dass die Vorlage der Bescheinigung nicht Voraussetzung für die Berücksichtigung der Schuldzinsen sei, was der Klägerin als Rechtsanwältin hätte klar sein müssen. Es wäre ihr selbst ohne jegliche Bescheinigung möglich gewesen, die gezahlten Schuldzinsen anhand ihrer Kontoauszüge zu ermitteln und in die Steuererklärung einzutragen.
16Ferner hätte ihr sich aus der Differenz der Zinsaufwendungen im Vergleich zu den Zinsaufwendungen der Vorjahre aufdrängen müssen, dass die Angaben fehlerhaft gewesen seien. Die Klägerin hätte hinterfragen müssen, warum die Schuldzinsen sich bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung in ungewöhnlichem Maße vermindert haben sollten.
17Die Klägerin müsse sich darüber hinaus ein grobes Verschulden bei der Prüfung des Einkommensteuerbescheides vom 1. August 2012 vorwerfen lassen. Bei der Durchsicht des Steuerbescheides hätte ihr auffallen müssen, dass die Verluste aus Vermietung und Verpachtung im Jahr 2011 um ca. 6.000 Euro geringer waren als im Vorjahr.
18Der Bundesfinanzhof (BFH) habe in einem Urteil vom 29. Juni 1984 (VI R 181/80) klargestellt, dass die Nichtangabe eines Darlehens in der Steuererklärung auch beim erst nachträglichen Eingang der Bankbescheinigung ein grobes Verschulden des Steuerpflichtigen darstelle. Auch habe der BFH mit Urteil vom 18. März 2014 (X R 8/11) erst jüngst noch einmal bestätigt, dass ein grobes Verschulden vorläge, wenn eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte Frage nicht beantwortet werde.
19Mit Beschluss vom 10. Februar 2015 ist der Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen worden.
20E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
21Die zulässige Klage ist begründet.
22Der Ablehnungsbescheid vom 28. Februar 2013 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 2. Oktober 2013 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 101 Satz 1 FGO).
23Die von der Klägerin gezahlten Schuldzinsen i.H.v. 6.167,15 Euro sind gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO im Wege einer Änderung der Einkommensteuerfestsetzung 2011 steuermindernd als Werbungskosten bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung zu berücksichtigen.
24I. Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung sind Steuerbescheide zu ändern, soweit Tatsachen nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen erst nachträglich bekannt werden.
25Die Voraussetzungen der Vorschrift sind im Streitfall erfüllt.
26- 27
1. Nachträglich bekannt gewordene Tatsachen sind die Schuldzinszahlungen der Klägerin im Jahr 2011 auf die für die vermietete Wohnung aufgenommenen Darlehen, soweit sie die bereits in der Steuererklärung erklärten Zinszahlungen übersteigen. Die Zahlung dieser Zinsen ist dem Beklagten erst am 15. Februar 2013 und somit erst etwa ein halbes Jahr nach dem Erlass des Steuerbescheides für 2011 von der Klägerin mitgeteilt worden.
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2. Die Klägerin trifft auch kein grobes Verschulden daran, dass sie dem Beklagten die Zahlung der zusätzlichen Schuldzinsen erst nachträglich mitgeteilt hat. Grobes Verschulden bedeutet Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit, jedoch nicht einfache Fahrlässigkeit (von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 173 AO Rz. 85). Grob fahrlässig handelt der Steuerpflichtige nach ständiger Rechtsprechung des BFH, wenn er die Sorgfalt, zu der er nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten verpflichtet und imstande ist, in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt (vgl. etwa BFH, Urteil vom 9. Mai 2012 I R 73/10, Bundessteuerblatt – BStBl. – II 2013, 566, unter II.1.c aa). Fehler, die üblicherweise vorkommen und mit denen immer gerechnet werden muss, wie z.B. Vergessen, Irrtümer und bloße Nachlässigkeiten, begründen hingegen kein grobes Verschulden (Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 173 AO Rz. 78 m.w.N.). Um einen derartigen Fehler handelt es sich im Streitfall.
a) Zwar ist dem Beklagten insoweit zuzustimmen, als sich sowohl bei sorgfältiger Durchsicht der übersandten Zinsbescheinigungen als auch bei einem Abgleich der aufgelisteten Zinsen mit den Kontoauszügen ergeben hätte, dass die bescheinigten Zinszahlungen nicht die vollständigen Zinszahlungen im Jahr 2011 darstellten. Insofern handelte die Klägerin bei der unvollständigen Angabe der Schuldzinsen in ihrer Steuererklärung für das Jahr 2011 fahrlässig. Gleichwohl ist die Grenze von der einfachen zur groben Fahrlässigkeit nicht überschritten. Eine Verletzung der bestehenden Sorgfaltspflicht liegt nämlich zwar vor, jedoch nicht „in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise“.
30b) Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass es atypisch ist, dass eine Bank eine Steuerbescheinigung versendet, die sich auf die Zinszahlungen nur weniger Monate des Jahres bezieht. Im Streitfall handelte sich um einen Sonderfall aufgrund einer technischen Umstellung. Die Klägerin ging dementsprechend fälschlich von der Annahme aus, dass die Zinsbescheinigungen – wie im Regelfall auch üblich – das ganze Jahr abdeckten. Dabei ist in die Bewertung des Grades der Sorgfaltspflichtverletzung mit einzubeziehen, dass für das Anfertigen einer Steuererklärung eine ganze Reihe von Angaben mit zugrundeliegenden Belegen erforderlich ist, so dass es einen nicht unüblichen Fehler darstellt, wenn ein nicht beratener Steuerpflichtige einen Hinweis auf einem dieser Belege übersieht.
31c) Sofern der Beklagte auf die persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten der als Rechtsanwältin tätigen Klägerin abstellt, ist festzustellen, dass die Klägerin zum ersten Mal selbständig eine Steuererklärung ausfüllte und auch über keine steuerrechtlichen Kenntnisse verfügte. Letztlich kommt es auf die (steuer)rechtlichen Kenntnisse der Klägerin vorliegend aber nicht an. Die Ausführungen des Beklagten, die Klägerin hätte als Rechtsanwältin zum einen wissen müssen, dass die Vorlage einer Zinsbescheinigung keine materielle Voraussetzung für den Schuldzinsenabzug ist und zum anderen die Höhe der gezahlten Schuldzinsen auch ohne Bescheinigung selbst errechnen können, gehen im Streitfall fehl. Die Klägerin trägt nämlich vor, dass sie davon ausging, bei den in den bereits bei Anfertigung der Steuererklärung vorliegenden Bescheinigungen aufgeführten Zinsen habe es sich um die gesamten Zinszahlungen des Jahres 2011 gehandelt. Diese Aussage hält das Gericht nach einer umfassenden Würdigung der Gesamtumstände des Streitfalles für überzeugend. Die Klägerin ging gerade nicht davon aus, Schuldzinsen erst dann geltend machen zu können, wenn eine entsprechende Bescheinigung vorliegt. Dies spiegelt sich auch in dem Schreiben der Klägerin vom 15. Februar 2013 an den Beklagten wider. Bereits in diesem Schreiben hatte die Klägerin – ohne die Rechtsauffassung des Beklagten zu diesem Zeitpunkt kennen zu können – ausgeführt, dass sie erst am selben Tage erfahren habe, dass sie in ihrer Steuererklärung nicht den vollen Betrag der Zinszahlungen angesetzt hatte und spricht in diesem Zusammenhang von einem „sehr unglücklichen Umstand“. Gleichzeitig bittet sie in diesem Schreiben um Überprüfung, ob sie dies noch vortragen könne. Eine rechtliche Fehleinschätzung der Klägerin liegt somit nicht vor. Insofern ist es auch unerheblich, ob die Klägerin die Fähigkeit gehabt hätte, die gezahlten Zinsen auch ohne die Bescheinigungen zu berechnen, da die Nachlässigkeit der Klägerin darin bestand, dass sie davon ausging, die gezahlten Zinsen bereits vollständig erklärt zu haben.
32d) Der hier vorgenommenen Würdigung stehen auch nicht die vom Beklagten angeführten Urteile des BFH vom 29. Juni 1984 (VI R 181/80, BStBl. II 1984, 693) und vom 18. März 2014 (X R 8/11, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH – BFH/NV – 2014, 1347) entgegen. Der BFH hatte im erstgenannten Urteil ausgeführt, dass ein grobes Verschulden des Steuerpflichtigen vorliegt, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen ganz bestimmten Vorgang bezogene Frage nicht beachtet. Auf der gleichen Linie liegt das Urteil des X. Senats des BFH vom 18. März 2014 (a.a.O.). Der BFH bestätigte in diesem Urteil seine ständige Rechtsprechung, dass sich der Steuerpflichtige auch bei fehlenden steuerrechtlichen Kenntnissen nicht auf einen die grobe Fahrlässigkeit ausschließenden, entschuldbaren Rechtsirrtum berufen könne, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen bestimmten Vorgang bezogene und für ihn verständliche Frage nicht beantwortet.
33Der hier zu beurteilende Sachverhalt unterscheidet sich von den vom BFH zu entscheidenden Sachverhalten maßgeblich, als der Klägerin bewusst gewesen ist, dass die im Hinblick auf die vermietete Immobilie gezahlten Schuldzinsen in der Steuererklärung als Werbungskosten anzugeben sind, was sie auch vom Grunde her getan hat. Lediglich hinsichtlich der Höhe ist aufgrund der atypischen Steuerbescheinigung bei ihr ein Irrtum erzeugt worden. Es liegt somit weder ein (vermeidbarer) Rechtsirrtum über die steuerliche Bedeutung der Schuldzinsen als solche noch ein „Vergessen“ eines Darlehens trotz einer ausdrücklich gestellten Frage im Steuererklärungsformular vor.
34Sofern der BFH in einem weiteren Urteil ausgeführt hat, dass ein grobes Verschulden des Steuerpflichtigen vorliegt, wenn dieser eine ausdrücklich gestellte Frage „nur unvollständig“ beantwortet (BFH, Urteil vom 28. Juli 2011 IX B 47/11, BFH/NV 2012, 1), betraf dies die Konstellation, dass die Steuerpflichtigen in ihrer Steuererklärung zwar diverse Schuldzinsen erklärten, ein Darlehen jedoch vollständig „vergaßen“. Insofern kann nichts anderes gelten, als wenn nur ein Darlehen vorhanden ist und dieses nicht angegeben wird. Eine Aussage des BFH, dass eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO per se ausgeschlossen sei, sofern ein bloßer Zusammenhang der nachträglich bekannt gewordenen Tatsache mit einer in der Steuererklärung gestellten Frage besteht, kann darin jedoch nicht gesehen werden.
35II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
36III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
37IV. Die Revision war nicht zuzulassen. Eine vom Beklagten geltend gemachte Abweichung in einer Rechtsfrage von einer Entscheidung des BFH i.S.d. § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO liegt, wie unter I.2.d) ausgeführt, nicht vor. Zum anderen ist die Frage, ob ein Beteiligter grob schuldhaft gehandelt hat, vom Finanzgericht als Tatsacheninstanz anhand der Umstände des Einzelfalles zu entscheiden (BFH, Urteil vom 28. Juli 2011 IX B 47/11, BFH/NV 2012, 1). Die Würdigung der Einzelfallumstände ist auch nicht grundsätzlich bedeutsam i.S.d. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.
Tatbestand
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I. Die Beteiligten streiten darüber, ob Steuerbescheide zugunsten des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) geändert werden müssen.
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Der Kläger wohnte in den Streitjahren (2005 und 2006) in den Niederlanden. In der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) erzielte er Einkünfte aus selbständiger Arbeit, mit denen er der beschränkten Steuerpflicht unterlag. Außerdem bezog er seit 2004 eine Berufsunfähigkeitsrente, die in den Niederlanden zu versteuern war.
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Im Rahmen seiner Veranlagung zur Einkommensteuer 2004 hatte der Kläger unter anderem beantragt, die Einnahmen aus der Rente in die Bemessungsgrundlage für die deutsche Steuer einzubeziehen. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) hatte dies mit der Begründung abgelehnt, die Rente müsse nach dem insoweit maßgeblichen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (DBA) in den Niederlanden versteuert werden. Daraufhin hatte der Kläger einen insoweit eingelegten Einspruch zurückgenommen.
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In den Einkommensteuerbescheiden für die Streitjahre berücksichtigte das FA Einkünfte des Klägers aus selbständiger Arbeit in der vom Kläger erklärten Höhe von 38.456 € (2005) und 49.103 € (2006). Die Steuererklärungen und die dazugehörenden Gewinnermittlungen hatte eine Steuerberaterin (S) erstellt. Die Steuerbescheide ergingen am 26. Juli 2007 (2005) und am 16. Juni 2008 (2006) und wurden nicht innerhalb der Rechtsbehelfsfristen angefochten.
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Im Jahr 2009 beantragte der Kläger, die Bescheide nach § 174 der Abgabenordnung (AO) zu ändern. In ihnen seien Beträge von 14.995,60 € (2005) und 15.040,80 € (2006) berücksichtigt, bei denen es sich um die in den Niederlanden zu versteuernden Rentenbezüge handele. Diese Beträge waren in den Gewinnermittlungen des Klägers in den Konten "Umsatzerlöse Seminare" (2005) und "Einnahmen, Versicherungen" (2006) enthalten gewesen. Das FA lehnte die beantragte Änderung ab. Ein Einspruch des Klägers, der sein Begehren nunmehr auf § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO stützte, hatte ebenso wie die anschließend erhobene Klage keinen Erfolg. Das klageabweisende Urteil des Finanzgerichts (FG) Düsseldorf vom 7. Juli 2010 7 K 369/10 E ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2010, 2045 abgedruckt.
- 6
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Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Er beantragt sinngemäß, das FG-Urteil aufzuheben und das FA zu verpflichten, die Einkommensteuerbescheide 2005 und 2006 zu ändern und dabei die Einkünfte aus selbständiger Arbeit mit um 14.977 € (2005) und 15.037 € (2006) verminderten Beträgen zu berücksichtigen.
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Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet und führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz kommt im Streitfall eine Änderung der Einkommensteuerbescheide gemäß § 174 Abs. 1 Satz 1 AO in Betracht. Um beurteilen zu können, ob dessen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, bedarf es jedoch noch weiterer tatsächlicher Feststellungen.
- 9
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1. Frei von Rechtsfehlern hat das FG entschieden, dass die vom Kläger begehrte Änderung der Steuerbescheide nicht auf § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO gestützt werden kann.
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a) Nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Unter bestimmten Voraussetzungen ist ein grobes Verschulden in diesem Zusammenhang unerheblich (§ 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 AO); ein solcher Sachverhalt liegt aber im Streitfall nicht vor.
- 11
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b) Im Streitfall ist dem FA, auf dessen Kenntnis es bei der Anwendung des § 173 AO ankommt, eine Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO nachträglich bekannt geworden. Denn das FA hat erst nach Durchführung der Veranlagungen und sogar erst nach Eintritt der Unanfechtbarkeit der Steuerbescheide erfahren, dass der Kläger in seinen Steuererklärungen Einnahmen aus der in den Niederlanden bezogenen Berufsunfähigkeitsrente angegeben und den steuerpflichtigen Einkünften zugeordnet hatte. Diese Tatsache führt deshalb zu einer niedrigeren Steuer, weil die daraufhin in den Bescheiden erfassten Einkünfte in Deutschland nicht hätten besteuert werden dürfen. Das ist zwischen den Beteiligten unstreitig und bedarf deshalb keiner näheren Erörterung.
- 12
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c) Eine Änderung der Bescheide nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO scheidet jedoch deshalb aus, weil die unrichtige Angabe der Einkünfte dem Kläger als grobes Verschulden anzulasten ist.
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aa) Ein grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO liegt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) vor, wenn jemand die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße verletzt (BFH-Urteil vom 15. Juli 2010 III R 32/08, BFH/NV 2010, 2237, m.w.N.). Ob ein solcher Sachverhalt im Einzelfall vorliegt, ist Tatfrage (BFH-Beschluss vom 17. Februar 2010 IX B 199/09, BFH/NV 2010, 1079) und in erster Linie vom FG zu beurteilen. Dessen Würdigung kann im Revisionsverfahren nur daraufhin überprüft werden, ob sie auf einer rechtsfehlerhaften Auslegung des Begriffs "grobes Verschulden" oder auf einem Verfahrensfehler beruht oder ob sie gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstößt (BFH-Beschluss vom 31. Januar 2005 VIII B 18/02, BFH/NV 2005, 1212; BFH-Urteil vom 3. Dezember 2009 VI R 58/07, BFHE 227, 365, BStBl II 2010, 531). Fehlt es daran, so ist die Beurteilung durch das FG auch dann revisionsrechtlich bindend (§ 118 Abs. 2 FGO), wenn eine abweichende Einschätzung ebenfalls vertretbar wäre.
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bb) Im Streitfall weist die vom FG vorgenommene Würdigung keinen derartigen Rechtsfehler auf. Das FG hat insbesondere beachtet, dass sich ein Steuerpflichtiger im Zusammenhang mit § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO das Verschulden eines von ihm hinzugezogenen steuerlichen Beraters wie eigenes Verschulden zurechnen lassen muss (BFH-Urteil vom 17. November 2005 III R 44/04, BFHE 211, 401, BStBl II 2006, 412, m.w.N.) und dass von einem steuerlichen Berater die Kenntnis und sachgemäße Anwendung steuerrechtlicher Bestimmungen erwartet werden kann (BFH-Urteil vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324). Wenn die Vorinstanz auf dieser Basis zu der Einschätzung gelangt ist, dass zumindest S ein grobes Verschulden traf, so liegt darin kein vom Revisionsgericht zu beanstandender Fehler. Diese Würdigung wird nicht nur durch den Umstand gestützt, dass ein steuerlicher Berater die Angaben seines Mandanten nicht ungeprüft übernehmen darf, sondern eigenverantwortlich aus dem steuerrechtlichen Blickwinkel überprüfen und bei Unklarheiten ggf. Nachfrage halten muss. Vielmehr bestand gerade im Streitfall eine besondere Sorgfaltspflicht deshalb, weil S wusste, dass der Kläger in seiner Einkommensteuererklärung für 2004 die Rentenzahlungen fälschlich den im Inland zu versteuernden Einkünften zugeordnet hatte. Angesichts dessen ist die Annahme des FG, dass S die ihr vom Kläger vorgelegten Unterlagen unter diesem Gesichtspunkt hätte überprüfen müssen und dass ihr bei einer solchen Überprüfung der Fehler aufgefallen wäre, nicht zu beanstanden. Die von der Revisionserwiderung aufgeworfene Frage, ob insoweit auch den Kläger selbst ein grobes Verschulden trifft, muss deshalb im Streitfall nicht erörtert werden.
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2. Jedoch bietet § 174 Abs. 1 Satz 1 AO eine Grundlage für eine Änderung der Steuerbescheide zugunsten des Klägers. Diese Vorschrift setzt voraus, dass ein bestimmter Sachverhalt in mehreren Steuerbescheiden zuungunsten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger berücksichtigt worden ist, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen; in diesem Fall ist der fehlerhafte Steuerbescheid auf Antrag aufzuheben oder zu ändern (§ 174 Abs. 1 Satz 1 AO). Die Voraussetzungen dieser Korrekturvorschrift würden hier vorliegen, wenn die dem Kläger in den Streitjahren zugeflossene Berufsunfähigkeitsrente nicht nur in den vom FA erlassenen Steuerbescheiden erfasst, sondern auch im Rahmen der in den Niederlanden vorgenommenen Besteuerung zuungunsten des Klägers berücksichtigt worden wäre.
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a) Die Frage, ob der in § 174 AO verwendete Begriff "Steuerbescheid" nur nach inländischem Recht erlassene Verwaltungsakte (so z.B. von Wedelstädt in Beermann/Gosch, AO, § 174 AO Rz 26, m.w.N.; Frotscher in Schwarz, AO, § 174 Rz 56, Koenig in Pahlke/Koenig, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 174 Rz 12; Haug-Adrion, Der Betrieb --DB-- 1985, 1969) oder auch damit vergleichbare Maßnahmen ausländischer Behörden umfasst (so Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 174 AO Rz 8; Klein/Rüsken, AO, 11. Aufl., § 174 Rz 15; Birkenfeld, Betriebs-Berater 1993, 1185, 1187; App, DB 1985, 939, 941), ist im Schrifttum streitig. Der Senat folgt der letztgenannten Auffassung jedenfalls insoweit, als --wie im Streitfall-- Maßnahmen von Steuerbehörden von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) in Rede stehen.
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aa) Für eine Begrenzung auf inländische Verwaltungsakte kann allerdings ins Feld geführt werden, dass der Begriff "Steuerbescheid" nach der allgemeinen Terminologie der Abgabenordnung (in § 155 Abs. 1 Satz 2 AO) einen Verwaltungsakt bezeichnet, durch den eine von einer Bundesfinanzbehörde oder einer Landesfinanzbehörde (vgl. § 6 Abs. 2 AO) verwaltete Steuer (§ 1 Abs. 1 Satz 1 AO) festgesetzt wird (§ 155 Abs. 1 Satz 1 AO). Dem Zweck des § 174 AO, der darin besteht, Vorteile und Nachteile auszugleichen, die sich durch einander inhaltlich widersprechende Steuerbescheide ergeben (vgl. von Wedelstädt in Beermann/Gosch, a.a.O., § 174 AO Rz 3), kann indes eine zwingende Begrenzung dahin, dass ein (unrichtiger) inländischer Bescheid nur geändert werden darf, wenn der inhaltliche Widerspruch zu einem anderem inländischen Bescheid besteht, nicht entnommen werden. Die in § 174 AO angelegte Durchbrechung der Bestandskraft des Steuerbescheids zugunsten der materiellen Richtigkeit der Besteuerung ist der Sache nach vielmehr nicht minder gerechtfertigt, wenn der in Rede stehende Widerspruch zwischen dem (unrichtigen) inländischen Steuerbescheid und einem von einer ausländischen Behörde erlassenen Steuerbescheid besteht.
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bb) Die von Wortlaut (vgl. § 155 Abs. 1 Satz 1 AO: "soweit nichts anderes vorgeschrieben ist") und Zweck der Norm her mögliche Einbeziehung ausländischer Verwaltungsakte in den Anwendungsbereich des § 174 Abs. 1 AO ist unter dem Aspekt der unionsrechtskonformen Auslegung der nationalen Rechtsnormen jedenfalls insoweit geboten, als es um die Berücksichtigung von Steuerbescheiden geht, die von Steuerbehörden aus EU-Mitgliedstaaten erlassen worden sind.
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aaa) Aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaftsorgane (Art. 4 Abs. 3 des Vertrages über die Europäische Union --EUV-- i.d.F. des Vertrags von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft [Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2007, Nr. C 306, S. 1] bzw. --bezogen auf die Streitjahre-- Art. 10 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft --EG-- i.d.F. des Vertrages von Nizza zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte [Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 2002, Nr. C 325, 1]; vgl. dazu von Bogdandy/Schill in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 4 EUV Rz 47 ff.) folgt der auch die nationalen Gerichte bindende Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung des innerstaatlichen Rechts (Zuleeg, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1994, 154, 165 ff.; von Bogdandy/ Schill in Grabitz/Hilf/Nettesheim, a.a.O., Art. 4 EUV Rz 94, m.w.N.). Danach haben die nationalen Gerichte unter Berücksichtigung des gesamten nationalen Rechts und unter Anwendung der Auslegungsmethoden alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von dem Gemeinschaftsrecht verfolgten Ziel übereinstimmt (Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften [seit 2009 Gerichtshof der Europäischen Union] --EuGH-- vom 4. Juli 2006 C-212/04 "Adeneler", Slg. 2006, I-6057; vom 19. Januar 2010 C-555/07 "Kücükdeveci", Slg. 2010, I-365, DB 2010, 228). Der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung findet seinen primären Anwendungsbereich zwar in den durch EU-Richtlinien harmonisierten Rechtsbereichen. Dazu gehören nach ständiger Spruchpraxis des EuGH mangels einer einschlägigen Unionsregelung nicht die Verfahrensmodalitäten, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen; vielmehr sind diese nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats. Nach ebenfalls ständiger Spruchpraxis des EuGH dürfen diese Verfahrensmodalitäten aber nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art regeln --Äquivalenzgrundsatz--, und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren --Effektivitätsgrundsatz-- (vgl. z.B. EuGH-Urteile vom 7. Januar 2004 C-201/02 "Wells", Slg. 2004, I-723, Rz 67; vom 19. September 2006 C-392/04 und C-422/04 "i-21 Germany und Arcor", Slg. 2006, I-8559, Rz 57; vom 30. Juni 2011 C-262/09 "Meilicke u.a.", Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2011, 1262). Der besagte Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung gilt insbesondere mit Blick auf die unionsrechtlichen Grundfreiheiten deshalb auch darüber hinaus (vgl. Schön in Veröffentlichungen der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft e.V., Bd. 19 (1996), S. 167, 180; Gosch, DStR 2007, 1553, 1555; Schaumburg, Internationales Steuerrecht, 3. Aufl., Rz 3.54, 3.57; Kahl in Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 4 EUV Rz 92 f.; Drüen in Tipke/ Kruse, a.a.O., § 4 AO Rz 240).
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bbb) Im Lichte der unionsrechtlichen Grundfreiheiten erscheint dem Senat eine Auslegung des § 174 Abs. 1 AO dahingehend, dass ein fehlerhafter inländischer Steuerbescheid auch dann geändert werden kann, wenn der widerstreitende Steuerbescheid von der Behörde eines Mitgliedstaats der EU erlassen wurde, vorzugswürdig. Selbst wenn --wie im Streitfall-- keine der speziellen Grundfreiheiten (z.B. Niederlassungsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit oder Kapitalverkehrsfreiheit) einschlägig ist, ist zumindest der Anwendungsbereich des Art. 18 EG (jetzt: Art. 21 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, ABlEU 2008, Nr. C 115, S. 47) berührt, der jedem Unionsbürger das Recht gewährt, sich --vorbehaltlich bestimmter Beschränkungen und Bedingungen-- im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Diese Vorschrift vermittelt eine allgemeine Grundfreiheit, die auch bei der Wahrnehmung von Besteuerungsbefugnissen zu beachten ist (EuGH-Urteil vom 11. September 2007 C-76/05 "Schwarz und Gootjes-Schwarz", Slg. 2007, I-6849, BFH/NV 2008, Beilage 1, 5).
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Eine Beschränkung des § 174 Abs. 1 AO auf ausschließlich inländische Steuerbescheide würde zwar nicht zu einer Diskriminierung ausländischer oder im Ausland wohnhafter Steuerpflichtiger im Vergleich zu deutschen oder im Inland wohnhaften Steuerpflichtigen führen. Denn der daraus resultierende Ausschluss der Korrekturmöglichkeit nach § 174 Abs. 1 AO würde in gleicher Weise auch deutsche Staatsangehörige oder im Inland wohnhafte Steuerpflichtige treffen, zu deren Ungunsten ein widerstreitender Steuerbescheid einer ausländischen Finanzbehörde ergangen ist.
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Jedoch folgt aus den unionsrechtlich verbürgten Grundfreiheiten über die Diskriminierungsverbote hinaus ein Beschränkungsverbot, von dem auch Inländer profitieren, wenn sie grenzüberschreitend oder im EU-Ausland tätig sind (vgl. zur Arbeitnehmerfreizügigkeit EuGH-Urteil vom 12. Dezember 2002 C-385/00 "de Groot", Slg. 2002, I-11819, BFH/NV 2003, Beilage 2, 75; zur Niederlassungsfreiheit EuGH-Urteil vom 13. April 2000 C-251/98 "Baars", Slg. 2000, I-2787; zur Kapitalverkehrsfreiheit EuGH-Urteile vom 6. Juni 2000 C-35/98 "Verkooijen", Slg. 2000, I-4071, und vom 21. November 2002 C-436/00 "X und Y", Slg. 2002, I-10829, BFH/NV 2003, Beilage 2, 92; Schön, Steuerberater-Jahrbuch 2003/2004, 27, 31; Schaumburg, a.a.O., Rz 4.16).
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Ein Ausschluss der Korrekturmöglichkeit nach § 174 Abs. 1 AO bei Widerstreit eines inländischen Steuerbescheids mit einem solchen aus einem EU-Mitgliedstaat würde eine Beschränkung der jeweils einschlägigen Grundfreiheit darstellen. Denn die Steuerpflichtigen --unabhängig von ihrer Nationalität und Ansässigkeit--, die international aktiv und dadurch in mehr als einem Mitgliedstaat steuerpflichtig sind, würden gegenüber solchen Steuerpflichtigen benachteiligt, deren Aktivitäten sich auf das Inland beschränken und die deshalb mit ihren Steuerangelegenheiten nur einem Fiskus unterworfen sind.
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Ein triftiger Grund dafür, widerstreitende Steuerbescheide ausländischer Behörden nicht zum Anlass für Korrekturen nach § 174 Abs. 1 AO zu nehmen, ist nicht ersichtlich. Der Gesichtspunkt der Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten (vgl. z.B. EuGH-Urteil vom 25. Februar 2010 C-337/08 "X-Holding", Slg. 2010, I-1215, BFH/NV 2010, 1064) ist nicht berührt; denn über § 174 Abs. 1 AO kann ein Bescheid nur insoweit geändert werden, als er fehlerhaft ist (BFH-Beschluss vom 17. Februar 2005 II B 115/03, BFH/NV 2005, 1004), eine Besteuerungsbefugnis des deutschen Fiskus also materiell-rechtlich nicht besteht. Es bleibt der Umstand, dass sich die deutschen Finanzbehörden bei Berücksichtigung auch ausländischer Rechtsakte ggf. mit ausländischem Steuerrecht befassen müssen, wenn es z.B. zum Zwecke der Berechnung der Antragsfrist gemäß § 174 Abs. 1 Satz 2 AO um den Zeitpunkt der Unanfechtbarkeit des letzten der widerstreitenden Bescheide geht. Diese Erschwernis erscheint aber hinnehmbar und nicht derart gravierend, dass sie einer Auslegung der Vorschrift im vom Senat vertretenen Sinne ernstlich entgegensteht.
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b) Die weiteren Voraussetzungen einer Änderung nach § 174 Abs. 1 AO wären im Streitfall erfüllt.
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aa) Wäre die Berufsunfähigkeitsrente auch vom niederländischen Fiskus besteuert worden, wäre "ein bestimmter Sachverhalt" in mehreren Steuerbescheiden berücksichtigt worden.
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aaa) Der Begriff des "bestimmten Sachverhalts" in § 174 AO knüpft an einen einheitlichen Lebensvorgang an, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft (z.B. BFH-Urteil vom 18. Februar 1997 VIII R 54/95, BFHE 183, 6, BStBl II 1997, 647). Eine widerstreitende Steuerfestsetzung liegt nur vor, wenn derselbe Lebensvorgang in verschiedenen Steuerbescheiden unterschiedlich berücksichtigt worden ist (vgl. von Wedelstädt in Beermann/Gosch, a.a.O., § 174 AO Rz 18 f.; Klein/Rüsken, a.a.O., § 174 Rz 18).
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Die "Berücksichtigung" eines bestimmten Sachverhalts i.S. von § 174 Abs. 1 AO setzt voraus, dass er dem FA bei der Entscheidungsfindung bekannt war und als Entscheidungsgrundlage herangezogen und verwertet worden ist. Dabei ist es nicht erforderlich, dass das FA den erfassten Sachverhalt in allen Einzelheiten kennt; vielmehr kann der Vorgang z.B. in ein komprimiertes Zahlenwerk eingegangen sein, das dem FA bei der Entscheidungsfindung vorlag. Legt das FA der Veranlagung oder der Gewinnfeststellung einen vom Steuerpflichtigen erklärten Gewinn zugrunde, so sind damit alle Geschäftsvorfälle berücksichtigt, die der Steuerpflichtige bei seiner Gewinnermittlung erfasst hat (BFH-Urteil vom 6. März 1990 VIII R 28/84, BFHE 160, 140, BStBl II 1990, 558; von Wedelstädt in Beermann/ Gosch, a.a.O., § 174 AO Rz 27; Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 174 AO Rz 10).
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bbb) Der Lebensvorgang, um den es im Streitfall geht, sind die quartalsweisen Zahlungen der Berufsunfähigkeitsrente durch die niederländische Rentenkasse an den Kläger. Zwar war dem FA bei Steuerfestsetzung nicht bekannt und bewusst, dass es sich bei den den Gewinnermittlungspositionen "Umsatzerlöse Seminare" und "Einnahmen, Versicherungen" zugrunde liegenden Vorgängen um jene Rentenzahlungen handelte. Geht man aber davon aus, dass die auf den Gewinnermittlungen des Klägers basierenden Steuerfestsetzungen alle Geschäftsvorfälle berücksichtigen, die der Kläger bei seinen Gewinnermittlungen erfasst hat, dann muss das auch für die Rentenzahlungen gelten, selbst wenn sie in den Gewinnermittlungen des Klägers sowohl unter falscher Beschreibung als auch unter falscher rechtlicher Einordnung erfasst worden sind.
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bb) Wäre die in den Streitjahren vom Kläger bezogene Berufsunfähigkeitsrente auch in den Niederlanden besteuert worden, lägen widerstreitende Steuerbescheide vor.
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aaa) Die Anwendung des § 174 Abs. 1 AO erfordert nach einhelliger Auffassung das Vorliegen von (positiv) widerstreitenden Steuerfestsetzungen zu Lasten eines oder mehrerer Steuerpflichtiger. Ein "Widerstreiten" in diesem Sinne setzt voraus, dass die in den (kollidierenden) Bescheiden getroffenen Regelungen (Steuerfestsetzungen oder Feststellungen) aufgrund der materiellen Rechtslage nicht miteinander vereinbar und daher widersprüchlich sind, weil nur eine der festgesetzten oder angeordneten Rechtsfolgen zutreffen kann. Die in der mehrfachen Erfassung eines bestimmten Sachverhalts liegenden Unrichtigkeiten müssen einander nach materiellem Recht zwingend (denknotwendig) ausschließen (BFH-Urteile vom 11. Juli 1991 IV R 52/90, BFHE 165, 449, BStBl II 1992, 126; vom 26. Januar 1994 X R 57/89, BFHE 174, 1, BStBl II 1994, 597; vom 7. Juli 2004 X R 26/01, BFHE 207, 35, BStBl II 2005, 145).
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bbb) Nach der materiellen Rechtslage war in den Streitjahren eine Berücksichtigung der dem Kläger zugeflossenen Berufsunfähigkeitsrente sowohl in der Bemessungsgrundlage der deutschen als auch in der Bemessungsgrundlage der niederländischen Einkommensteuer zwingend ausgeschlossen. Denn entweder war die Rente ohnehin nur nach dem Welteinkommensprinzip im Wohnsitzstaat des Klägers --den Niederlanden-- steuerbar. Oder aber sie hätte --wenn ein Tatbestand des § 49 des Einkommensteuergesetzes 2002 in der in den Streitjahren geltenden Fassungen (EStG 2002) erfüllt wäre --zusätzlich in Deutschland der beschränkten Steuerpflicht unterlegen. Auch in diesem Falle wäre indes der Besteuerungszugriff durch den deutschen Fiskus ausgeschlossen. Denn die Berufsunfähigkeitsrente zählt zu den "sonstigen Einkünften", für die Art. 16 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie verschiedener sonstiger Steuern und zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem Gebiete vom 16. Juni 1959 (BGBl II 1960, 1781, BStBl I 1960, 381) --DBA-Niederlande-- das Besteuerungsrecht dem Wohnsitzstaat zuweist. Somit ist auf der Grundlage des materiellen Rechts ein Besteuerungszugriff sowohl der Niederlande als auch Deutschlands auf die Berufsunfähigkeitsrente zwingend ausgeschlossen.
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Das FG hält demgegenüber (unter Bezugnahme auf Frotscher in Schwarz, a.a.O., § 174 Rz 56) einen "Widerstreit" im Verhältnis der beiderseitigen Steuerfestsetzungen nicht für gegeben, weil das Kollisionsverhältnis zwischen dem Steuerzugriff des Wohnsitzstaats und dem Staat, der im Rahmen der beschränkten Steuerpflicht besteuert, durch die Regelungen in den Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung oder durch Anrechnung gemäß § 34c EStG 2002 aufgelöst werde (insoweit zustimmend Loose in Tipke/Kruse, a.a.O., § 174 AO Rz 8). Dem vermag der Senat jedenfalls in Bezug auf Staaten, mit denen DBA geschlossen worden sind, nicht beizupflichten (ebenso Klein/Rüsken, a.a.O., § 174 AO Rz 15). Denn die DBA-Vorschriften, die einen parallelen Zugriff beider Vertragsstaaten auf das gleiche Steuersubstrat verhindern, sind Bestandteil der materiellen Rechtslage, aufgrund derer der "Widerstreit" zu beurteilen ist. Die abkommensrechtliche Verteilung der Besteuerungskompetenzen darf deshalb bei der Prüfung des Widerstreits nicht außer Acht gelassen werden.
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cc) Die streitbefangenen Festsetzungsbescheide des FA sind im Hinblick auf die (unbeabsichtigte) Erfassung der Berufsunfähigkeitsrente fehlerhaft. Der Kläger hat in den Streitjahren nicht im Inland gewohnt und war deshalb hier nicht unbeschränkt steuerpflichtig. Ein Tatbestand der beschränkten Steuerpflicht ist nicht einschlägig. Nach § 49 Abs. 1 Nr. 7 EStG 2002 unterfallen Einkünfte i.S. von § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a EStG 2002 in der in den Streitjahren geltenden Fassung (bestimmte wiederkehrende Bezüge) nur dann der beschränkten Steuerpflicht, wenn sie von inländischen Unternehmen oder Einrichtungen gewährt werden. Im Streitfall stammen die Rentenzahlungen jedoch von einem niederländischen Versicherungsunternehmen. Aber selbst wenn ein Tatbestand der beschränkten Steuerpflicht erfüllt wäre, wäre die Besteuerung durch den deutschen Fiskus --wie oben ausgeführt-- gemäß Art. 16 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 DBA-Niederlande ausgeschlossen.
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3. Das FG ist teilweise von einer anderen rechtlichen Beurteilung ausgegangen. Sein Urteil ist deshalb aufzuheben. Die Sache ist noch nicht entscheidungsreif. Denn den tatrichterlichen Feststellungen lässt sich zwar entnehmen, dass die vom Kläger empfangenen Rentenzahlungen in den Niederlanden steuerpflichtig waren. Keine Feststellungen hat das FG indes --aus seiner rechtlichen Sicht konsequent-- dazu getroffen, ob die Zahlungen in den Niederlanden tatsächlich besteuert worden sind. Da dies aber Voraussetzung für eine Änderung der streitbefangenen Steuerbescheide nach § 174 Abs. 1 AO ist, wird das FG die erforderlichen Feststellungen im zweiten Rechtsgang zu treffen haben. Auf die erhöhten Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen im Rahmen der Ermittlung von Auslandssachverhalten (§ 76 Abs. 1 Satz 4 FGO i.V.m. § 90 Abs. 2 AO) wird hingewiesen.
(1) Steuerbescheide sind aufzuheben oder zu ändern,
- 1.
soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen, - 2.
soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Das Verschulden ist unbeachtlich, wenn die Tatsachen oder Beweismittel in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit Tatsachen oder Beweismitteln im Sinne der Nummer 1 stehen.
(2) Abweichend von Absatz 1 können Steuerbescheide, soweit sie auf Grund einer Außenprüfung ergangen sind, nur aufgehoben oder geändert werden, wenn eine Steuerhinterziehung oder eine leichtfertige Steuerverkürzung vorliegt. Dies gilt auch in den Fällen, in denen eine Mitteilung nach § 202 Abs. 1 Satz 3 ergangen ist.
(1) Soweit ein angefochtener Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und die etwaige Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf auf; die Finanzbehörde ist an die rechtliche Beurteilung gebunden, die der Aufhebung zugrunde liegt, an die tatsächliche so weit, als nicht neu bekannt werdende Tatsachen und Beweismittel eine andere Beurteilung rechtfertigen. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, dass und wie die Finanzbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, dass die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekannt zu geben.
(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Satz 1 gilt nicht, soweit der Steuerpflichtige seiner Erklärungspflicht nicht nachgekommen ist und deshalb die Besteuerungsgrundlagen geschätzt worden sind. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlass des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, dass Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluss kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.
(1) Der unterliegende Beteiligte trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, soweit er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Besteht der kostenpflichtige Teil aus mehreren Personen, so haften diese nach Kopfteilen. Bei erheblicher Verschiedenheit ihrer Beteiligung kann nach Ermessen des Gerichts die Beteiligung zum Maßstab genommen werden.
(1) Soll gegen den Bund, ein Land, einen Gemeindeverband, eine Gemeinde, eine Körperschaft, eine Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts vollstreckt werden, so gilt für die Zwangsvollstreckung das Achte Buch der Zivilprozessordnung sinngemäß; § 150 bleibt unberührt. Vollstreckungsgericht ist das Finanzgericht.
(2) Vollstreckt wird
- 1.
aus rechtskräftigen und aus vorläufig vollstreckbaren gerichtlichen Entscheidungen, - 2.
aus einstweiligen Anordnungen, - 3.
aus Kostenfestsetzungsbeschlüssen.
(3) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.
(4) Für die Vollstreckung können den Beteiligten auf ihren Antrag Ausfertigungen des Urteils ohne Tatbestand und ohne Entscheidungsgründe erteilt werden, deren Zustellung in den Wirkungen der Zustellung eines vollständigen Urteils gleichsteht.
Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:
- 1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen; - 2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a; - 3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird; - 4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden; - 5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären; - 6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden; - 7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen; - 8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht; - 9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung; - 10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist; - 11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.