Bundesgerichtshof Urteil, 03. Sept. 2013 - X ZR 16/11

bei uns veröffentlicht am03.09.2013
vorgehend
Bundespatentgericht, 3 Ni 12/09, 21.09.2010

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
X ZR 16/11 Verkündet am:
3. September 2013
Wermes
Justizamtsinspektor
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in der Patentnichtigkeitssache
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 3. September 2013 durch den Vorsitzenden Richter Prof. Dr. MeierBeck
, die Richter Dr. Grabinski, Dr. Bacher, Hoffmann und die Richterin
Schuster

für Recht erkannt:
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 21. September 2010 verkündete Urteil des 3. Senats (Nichtigkeitssenats) des Bundespatentgerichts abgeändert und wie folgt neu gefasst: Das europäische Patent 1 151 004 wird mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland im Umfang der Patentansprüche 1 bis 11 insoweit für nichtig erklärt, als es über folgenden Patentanspruch 1 hinausgeht, auf den sich die Patentansprüche 2 bis 10 rückbeziehen: "Verfahren zur Herstellung von IL-1Ra in einer Spritze zur Verwendung als Arzneimittel, wobei die Spritze mit Blut eines Organismus gefüllt, inkubiert und dadurch IL-1Ra im Blut gebildet wird mit der Maßgabe, dass nicht in einem gesonderten Verfahrensschritt innere Strukturen der Spritze mit einem Induktor beschichtet werden." Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Von den Kosten der I. Instanz werden der Klägerin 3/4 und der Beklagten 1/4 auferlegt. Die Kosten der Berufungsinstanz trägt die Klägerin.
Von Rechts wegen

Tatbestand:


1
Die Beklagte ist Inhaberin des europäischen Patents 1 151 004 (Streitpatents ), das am 31. Januar 2000 unter Inanspruchnahme einer deutschen Priorität vom 1. Februar 1999 angemeldet wurde. Patentanspruch 1, auf den die Patentansprüche 2 bis 15 unmittelbar oder mittelbar rückbezogen sind, hat in der erteilten Fassung folgenden Wortlaut: Verfahren zur Herstellung von IL-1Ra in einer Spritze, wobei die Spritze mit einer Körperflüssigkeit eines Organismus gefüllt, inkubiert und das IL-1Ra in der Körperflüssigkeit gebildet wird.
2
Die Klägerin hat das Streitpatent im Umfang der Patentansprüche 1 bis 11 angegriffen. Die Beklagte hat Patentanspruch 1 im Haupt- und in fünf Hilfsanträgen in gegenüber der erteilten Fassung abgeänderten Fassungen verteidigt. Die Klägerin hat den Gegenstand des Streitpatents auch in den von der Beklagten verteidigten Fassungen als nicht patentfähig und Patentanspruch 1 in der Fassung des Hauptantrags darüber hinaus als nicht zulässig angesehen.
3
Das Patentgericht hat das Streitpatent im angegriffenen Umfang für nichtig erklärt. Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten, mit der sie das Streitpatent mit neuen Haupt- und Hilfsanträgen verteidigt.
4
Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.
5
Im Auftrag des Senats hat Univ.-Prof. Dr. med. M. , Facharzt für Innere Medizin, Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie, Klinik und Poliklinik für Innere Medizin A, Hämatologie, Onkologie und Pneumologie, Universitätsklinikum M. , ein schriftliches Gutachten erstattet, das er in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzt hat.

Entscheidungsgründe:


6
Die Berufung ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Sie führt zur Abweisung der Klage, soweit die Beklagte das Streitpatent in der Fassung ihres in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat gestellten Hauptantrags verteidigt.
7
I. Das Streitpatent betrifft im angegriffenen Umfang ein Verfahren zur Herstellung des Interleukin-1-Rezeptor-Antagonisten (IL-1Ra) in einer mit einer Körperflüssigkeit gefüllten Spritze.
8
In der Streitpatentschrift wird ausgeführt, dass ein Bedarf an einfachen und kostengünstigen Alternativen zur Bereitstellung von bekannten therapeutisch wirksamen Proteinen bestehe, zumal nicht alle therapeutisch wirksamen Proteine als Arzneimittel zugelassen seien. Um Patienten auch solche Proteine applizieren zu können, seien aufgrund ihrer guten Körperverträglichkeit autologe (körpereigene) Proteine von besonderer Bedeutung. Zu diesen Proteinen gehöre insbesondere auch der Antagonist des inflammatorischen (entzündungsfördernden ) Zytokins Interleukin 1 (IL-1β). Derartige autologe Proteine hätten zudem den Vorteil, dass die natürlichen posttranslationellen Modifizierungen , wie Glycosylierungen, bereits vorhanden seien, was bei den üblicherweise in prokaryotischen Wirten erzeugten rekombinanten Proteinen nicht der Fall sei.
9
In der Fachliteratur sei die Stimulation von Monocyten (mononukleären Blutzellen) durch adhärentes Immunglobulin G (IgG) zur Bildung von IL-1Ra beschrieben. Andersen et al. (Autoimmunity 1995 [139], 71 ff. [N 9]) erläuterten, dass der in vivo zu beobachtende therapeutische Effekt von IgG nicht auf eine verstärkte IL-1Ra-Bildung zurückgeführt werden könne und dass die In-vitroBildung des IL-1Ra durch Monocyten in Abhängigkeit von an Polypropylen adsorbierten Serums- und Plasma-Bestandteilen stattfinde. Der therapeutische Einsatz von adsorbierten Serums- und Plasma-Bestandteilen zur Stimulation der Bildung therapeutisch interessanter Proteine in Therapien sei nicht nur sehr kostspielig, sondern auch mit der Gefahr einer Kontamination verbunden.
10
Die Patentschrift bezeichnet es als das der Erfindung zugrunde liegende Problem, ein Verfahren zur Herstellung von IL-1Ra bereitzustellen, das als sichere , kostengünstige und schnell durchzuführende Alternative zum Einsatz und zur Herstellung konventioneller Arzneimittelpräparate dient.
11
Dies soll nach Patentanspruch 1 in der von der Beklagten mit dem in der mündlichen Verhandlung gestellten neuen Hauptantrag verteidigten Fassung durch folgendes Verfahren erreicht werden: 1. Verfahren zur Herstellung von IL-1Ra in einer Spritze zur Verwendung als Arzneimittel, wobei 2. eine Spritze mit Blut eines Organismus gefüllt, inkubiert und dadurch IL-1Ra im Blut gebildet wird, 3. mit der Maßgabe, dass nicht in einem gesonderten Verfahrensschritt innere Strukturen der Spritze mit einem Induktor beschichtet werden.
12
Dabei ist unter einem Verfahren zur Herstellung von IL-1Ra in einer Spritze zur Verwendung als Arzneimittel ein Verfahren zu verstehen, das ge- eignet ist, IL-1Ra bereitzustellen, mit dem eine klinisch-therapeutische Wirkung herbeigeführt werden kann. Nach der Beschreibung des Klagepatents, in der insoweit auf eine Vorveröffentlichung von W.P. Arend et al. (Annu. Rev. Immu. 16, 27-55) verwiesen wird, ist eine solche Eignung bei einem Verhältnis von IL-1Ra zu IL-1β von etwa 100:1 anzunehmen (Klagepatentschrift Rn. 78).
13
II. Das Patentgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:
14
Das autologe IL-1Ra-Präparat zur therapeutischen Verwendung erweise sich als nicht patentfähig, weil seine Bereitstellung jedenfalls nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe.
15
Wie aus der N 9 ersichtlich, sei bekannt gewesen, dass IgG-haltige Flüssigkeiten des Menschen in der Lage seien, mononukleäre Zellen des menschlichen Blutes (MNC) ohne Zusatz weiterer Stimulantien zur Produktion von IL-1Ra anzuregen. Die dort in Figur 1 dargestellten Ergebnisse belegten, dass eine unter dem Handelsnamen Nordimmun® bekannte, für Infusionszwecke geeignete IgG-Lösung heterogenen Ursprungs (IVIg-Lösung) in mononukleären Zellen eine vergleichbare maximale IL-1Ra-Produktion induziere wie eine humane serumhaltige Flüssigkeit. Aus N 9 sei überdies bekannt gewesen, dass sich die stimulatorische Wirkung solcher IgG-haltiger Flüssigkeiten nur dann entfalten könne, wenn die Plastikoberflächen in den für die MNC-Kulturen verwendeten Kulturgefäßen nicht zuvor mit fetalem Kälberserum (FCS) beschichtet worden seien. Denn wie die Figuren 2 und 3 belegten, induzierten die getesteten IgG-haltigen Flüssigkeiten in mononukleären Zellen ohne vorherige Beschichtung des jeweiligen Kulturgefäßes eine IL-1Ra-Freisetzung von etwa 80%, während sie in FCS-beschichteten Kulturgefäßen nur noch eine IL-1RaFreisetzung von weniger als 20% stimulierten. In der N 9 werde daraus der Schluss gezogen, dass das IL-1Ra-stimulatorische Potential humaner IgG- haltiger Flüssigkeiten von der Adhärenz des Immunglobulins G an Plastikoberflächen abhängig sei. Es werde ferner festgestellt, dass das in humanen Seren oder Plasmen enthaltene IgG vermutlich nur einer von mehreren Faktoren sei, der in vitro eine IL-1Ra-Produktion stimulieren könne.
16
Danach werde der Fachmann - ein auf dem Gebiet der inneren Medizin tätiger Facharzt, der über wissenschaftliche fundierte Forschungsarbeiten auf seinem Fachgebiet informiert sei, zugleich aber die Entwicklung im Bereich der alternativen Medizin verfolge - wissenschaftliche Studien zu Rate ziehen, die sich gezielt mit den Möglichkeiten einer In-vitro-Herstellung des IL-1Ra befassen , da In-vitro-Techniken in der Fachwelt als vielversprechend gälten. Den in der N 9 vermittelten Informationen werde er besondere Beachtung schenken, weil das darin für die IL-1Ra-Produktion nachgewiesene Erfordernis einer Adhärenz der stimulierenden Faktoren an Plastikoberflächen eine Erklärung für viele widersprüchliche Ergebnisse früherer Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet liefere. Dass die In-vitro-Freisetzung von IL-1Ra in N 9 als ein "Epiphänomen" bezeichnet werde, könne die Aussagekraft der Entgegenhaltung nicht schmälern. Denn zum einen ließen die dort getroffenen Aussagen nicht erkennen, dass es sich bei der Freisetzung des IL-1Ra nach Stimulation mononukleärer Zellen mit adhärentem IgG lediglich um ein in vitro auftretendes Artefakt handele , welches der Fachmann für In-vivo-Modelle als nicht relevant ansehen werde. Zum anderen seien In-vitro-Versuche die Grundlage für die Entwicklung jeder therapeutisch wirksamen Substanz, so dass der Fachmann diese nicht von vornherein ablehnen werde.
17
Die in N 9 beschriebene In-vitro-Herstellung von IL-1Ra werde der Fachmann allerdings insoweit als nachteilig ansehen, als hierfür nach wie vorzeitund kostenintensive MNC-Kulturen sowie teure IgG-haltige Flüssigkeiten erforderlich seien. Er werde daher nach weiteren Möglichkeiten zur einfachen, schnellen und kostengünstigen Bereitstellung von IL-1Ra suchen.
18
Dabei vermittele ihm die Veröffentlichung von Nerad et al. (Journal of Leukocyte Biology 1992 [52], 687 ff. [N 8]) die Lehre, für die IL-1Ra-Produktion an Stelle der in der N 9 verwendeten kultivierten mononukleären Zellen des Blutes autologes Vollblut zu verwenden. Die N 8 betreffe ein Verfahren, bei dem das Vollblut eines Patienten zuerst mit verschiedenen Stimulantien zur Produktion von Zytokinen angeregt und anschließend die von den Leukozyten gebildete Menge an pro- und antiinflammatorischen Zytokinen bestimmt werde, um anhand dieser Ergebnisse Aussagen über den Verlauf oder den Schweregrad von Krankheiten treffen zu können, an deren Entstehung proinflammatorische Zytokine wie IL-1β oder TNFα beteiligt seien. Die üblicherweise für eine solche Bestimmung menschlicher Zytokine verwendete In-vitro-Methode werde in N 8 wegen der hierfür erforderlichen Kultivierung mononukleärer Zellen des peripheren Blutes als arbeits-, zeit- und kostenintensiv erachtet, weshalb vorgeschlagen werde, diese Bestimmung nur noch mit 3 ml Vollblut und ohne den Einsatz von Zellkultur einfach und zuverlässig durchzuführen. Mit diesem Verfahren lasse sich auch die Produktion von IL-1Ra im Vollblut stimulieren und zwar in Mengen, die sonst nur mit den bekannten Zellkulturverfahren erhalten würden. Die Vollblutmethode werde daher in der N 8 für besser als die etablierte Zellkulturmethode erachtet, weil Vollblut stets die physiologisch korrekte Konzentration an Serumfaktoren und IgG enthalte, die als wesentliche Stimulantien für eine IL-1Ra-Produktion in mononukleären Zellen des Blutes gälten. Zudem werde in der N 8 vertreten, dass eine Stimulation der IL-1Ra-Produktion in Vollblut die In-vivo-Produktion dieses Zytokins besser widerspiegele als eine in Zellkulturen durchgeführte IL-1Ra-Produktion. Der Fachmann werde dieser Anregung folgend an Stelle von Zellkulturen Vollblut verwenden.
19
IL-1Ra in autologem Vollblut anzureichern und dieses therapeutisch zu verwenden werde der Fachmann auch insofern als vorteilhaft ansehen, als sich derart angereichertes Vollblut für eine Eigenbluttherapie eigne, die ihm als eine einfache, sichere, kostengünstige und im Vergleich zu konventionellen Ansätzen manchmal auch effektivere Therapieform bekannt sei, wie sich etwa aus der Veröffentlichung von Bocci (Mediators of Inflammation 1994 [3], 315 ff. [N 18]) ergebe.
20
Der therapeutische Einsatz von IL-1Ra habe ebenfalls keiner Überlegungen erfinderischer Art bedurft. In dem mit IL-1Ra befassten Übersichtsartikel von Arend (Journal of Clinical Investigation 1991 [88], 1445 ff. [N 10]) werde bereits auf die therapeutische Relevanz dieser Substanz hingewiesen.
21
Schließlich sei aus der N 9 auch bekannt gewesen, dass das im menschlichen Serum bzw. Plasma und damit auch im Vollblut enthaltene IgG für eine Stimulation der mononukleären Zellen des Blutes zur IL-1Ra-Produktion geeignet sei, sofern sich das IgG an Plastikoberflächen anheften könne. In Kenntnis dessen liege nicht nur der Verzicht auf eine Beschichtung der Gefäße, die mit dem Vollblut in Kontakt kämen, für den Fachmann auf der Hand, sondern auch der Verzicht auf weitere Stimulantien.
22
III. Das Urteil des Patentgerichts hält den Angriffen der Berufungnicht stand.
23
1. Zutreffend hat das Patentgericht allerdings, wie die Erörterung mit dem gerichtlichen Sachverständigen ergeben hat, als Fachmann primär einen wissenschaftlich tätigen Facharzt für Innere Medizin zugrunde gelegt. Dieser Fachmann verfügt über vertiefte immunologische Kenntnisse und über Erfahrungen mit der Entwicklung von Therapien bei inflammatorischen Prozessen, wie sie etwa bei rheumatischen oder malignen hämatologischen Erkrankungen auftreten. Dabei sucht der Fachmann, der gegebenenfalls einen auf den genannten Gebieten tätigen Molekularbiologen oder Pharmazeuten konsultiert, grundsätzlich nach einem wissenschaftlichen Ansatz für die Lösung des techni- schen Problems, ohne sich alternativmedizinischen Überlegungen von vornherein zu verschließen.
24
2. Entgegen den Ausführungen des Patentgerichts hatte ein solcher Fachmann, dem aus veröffentlichten Studien bekannt war, dass IL-1Ra als spezifischer Rezeptor-Antagonist gegenüber dem Zytokin Interleukin-1 wirkt und damit dessen inflammatorische Wirkung zu hemmen vermag (vgl. N 10, 1445, r. Sp.) und der sich deshalb für die Herstellung dieses Antagonisten zu therapeutischen Zwecken interessierte, keinen Anlass, bei seinen Überlegungen zur Lösung dieses Problems von der N 9 auszugehen. Denn dieser Entgegenhaltung entnahm der Fachmann, dass - wie entsprechende Untersuchungen ergeben hätten - die entzündungshemmende Wirkung von Immunglobulin G zur intravenösen Anwendung (IVIg) entgegen der bis dahin vorherrschenden Annahme gerade nicht auf eine signifikante Stimulierung der Bildung von IL-1Ra in vivo zurückzuführen sei (vgl. N 9, 127, Zusammenfassung, letzter Abs.). Dabei war zwar Ausgangspunkt für diese Untersuchungen die Erkenntnis, dass die Freisetzung von IL-1Ra aus mononukleären Zellen des menschlichen Blutes bei IVIg von 0,01 bis 0,5 mg/ml 10 bis 15 mal höher ist als bei unbehandelten Kontrollproben. Zudem ist es zutreffend, dass in diesem Zusammenhang in der N 9 beschrieben wird, dass die Freisetzung von IL-1Ra bei Verwendung von Röhrchen , die mit fetalem Kälberserum (FCS) vorbeschichtet waren, auf weniger als die doppelte Hintergrundfreisetzung reduziert oder sogar fast verhindert worden sei (vgl. N 9, 127, 2. Abs.; 132, li. Sp., 3. Abs. 2. Satz; vgl. auch 129, spaltenübergreifender Abs. und Figur 2 sowie 130, spaltenübergreifender Abs. und Figur 3). Damit ist aber weder offenbart noch liegt es für den Fachmann nahe, IL-1Ra durch die Inkubation mononukleärer Zellen im Röhrchen für therapeutische Zwecke herzustellen. Die N 9 geht gerade nicht diesen Weg, indem sie sich allein mit der Frage befasst, ob die therapeutische Wirkung von IVIg auf eine signifikante Stimulierung von IL-1Ra-Bildung in vivo zurückzuführen ist, und die beobachtete IL-1Ra-Bildung in vitro als ein "Epiphänomen" bezeichnet, das strikt von der Adhärenz humaner Serums- und Plasmabestandteile an den Untersuchungsgefäßen abhänge (N 9, Zusammenfassung, letzter Abs.), und gibt auch sonst keine Anregung dafür, IL-1Ra zu therapeutischen Zwecken aus MNC-Kulturen durch Inkubation im Röhrchen herzustellen. Wenn das Patentgericht demgegenüber meint, die in N 9 getroffenen Aussagen ließen nicht erkennen , dass es sich um ein in vitro auftretendes Artefakt handele, das der Fachmann als für In-vivo-Modelle nicht relevant ansehen werde, und der Fachmann werde die Übertragbarkeit der Ergebnisse von In-vitro-Versuchen, die die Grundlage jeder therapeutisch wirksamen Substanz darstellten, auf In-vivoModelle nicht automatisch verneinen, geht dies daran vorbei, dass sich eine in vitro auftretende Adhärenz an Kunststoffoberflächen naturgemäß nicht auf ein In-vivo-Modell übertragen lässt. Erst in Kenntnis der Lehre des Streitpatents ist die N 9 geeignet, als möglicher Ausgangspunkt der Überlegungen eines Fachmanns zu dienen, der an der Bereitstellung einer Alternative zu rekombinant hergestelltem IL-1Ra und mithin an einem Stoff interessiert ist, der in vivo eine therapeutisch relevante antiinflammatorische Wirkung zu entfalten vermag.
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Kann dem Patentgericht demnach nicht in seinem Ausgangspunkt zugestimmt werden, dass in der N 9 die In-vitro-Herstellung von IL-1Ra aus MNCKulturen zu therapeutischen Zwecken beschrieben oder zumindest nahegelegt wird, fehlt es auch für die auf dieser Annahme aufbauenden weiteren Ausführungen des Patentgerichts zu den Entgegenhaltungen N 8, N 18 und N 10 an einer tragfähigen Grundlage.
26
3. Das Urteil des Patentgerichts stellt sich auch nicht aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig dar.
27
a) Entgegen der von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vertretenen Ansicht wird der Gegenstand des Patentanspruchs 1 in der von der Berufung im Hauptantrag verteidigten Fassung nicht durch die deutsche Offenlegungsschrift 199 03 876 vorweggenommen (Art. 54 Abs. 3 EPÜ). Denn der Anmeldetag der Offenlegungsschrift hat zugleich als Anmeldetag des Streitpatents zu gelten (Art. 89 EPÜ), weil das Streitpatent die Priorität der der Offenlegungsschrift zugrundeliegenden Anmeldung zu Recht in Anspruch nimmt.
28
Den von der Klägerin insoweit vorgetragenen Bedenken, der Gegenstand des Patentanspruchs 1 in der von der Berufung im Hauptantrag verteidigten Fassung sei durch die deutsche Offenlegungsschrift nicht offenbart, wenn die Zweckangabe "zur Verwendung als Arzneimittel" - wie oben ausgeführt - dahin zu verstehen sei, dass damit eine Eignung zur Verwendung als Arzneimittel gefordert sei, die ein Verhältnis von IL-1Ra zu IL-1β von mindestens etwa 100:1 voraussetze, kann nicht gefolgt werden. Zutreffend ist zwar, dass sich die Stelle in der Beschreibung des Streitpatents, in der erläutert wird, dass das Verhältnis von IL-1Ra zu IL-1β erwartungsgemäß für eine klinischtherapeutische Wirkung des produzierten IL-1Ra mehr als 100:1 sein soll, in der Offenlegungsschrift nicht findet. In dieser wird jedoch ein Verfahren zur Herstellung eines therapeutisch wirksamen Proteins durch Inkubation von Blut in der Spritze offenbart, das IL-1Ra sein kann (vgl. Offenlegungsschrift, Patentansprüche 1, 10 und 11). Aus Sicht des Fachmanns bedeutet eine solche therapeutische Wirksamkeit nichts anderes als ein Verhältnis von IL-1Ra zu IL-1β, das mindestens bei etwa 100:1 liegt (vgl. zu den Anforderungen an die Offenbarung in der Prioritätsanmeldung als zur Erfindung gehörend allgemein: BGH, Urteil vom 11. September 2001 - X ZR 168/98, BGHZ 148, 383, 388 - Luftverteiler; Urteil vom 14. August 2012 - X ZR 3/10 Rn. 30 ff., GRUR 2012, 1133 - UVunempfindliche Druckplatte).
29
b) Der Gegenstand des Streitpatents war dem Fachmann durch den von der Klägerin angeführten Stand der Technik auch nicht nahegelegt.
30
Aus Sicht des Fachmanns, der sich mit der Herstellung von IL-1Ra zu therapeutischen Zwecken beschäftigte, bot es sich an, den aus dem Jahr 1991 stammenden Überblicksaufsatz von Arend mit dem Titel "Interleukin 1-Rezeptor -Antagonist - Ein neues Mitglied der Interleukin 1-Familie" (N 10) heranzuziehen und sich zunächst mit dem Abschnitt zu befassen, der unter der Überschrift "In-vivo-Wirkung von IL-1Ra" steht. Dieser Veröffentlichung konnte er entnehmen , dass IL-1 potentiell an der Zerstörung von Gewebe beteiligt sei und dass die Verfügbarkeit von rekombinantem IL-1Ra die Untersuchung dieser wichtigen Fragen zunächst in Tiermodellen von Krankheiten und schließlich bei Humankrankheiten erlaube (N 10, 1448, l. Sp., letzter Abs. und r. Sp., erster Abs.). Damit war einerseits die Verwendung von IL-1Ra als Arzneimittel angesprochen , andererseits wurde zur Gewinnung des insoweit benötigten IL-1Ra auf die rekombinante Herstellung hingewiesen, was nach den Erläuterungen des gerichtlichen Sachverständigen dem allgemeinen Interesse bei der Entwicklung von Arzneimitteln entspricht, in ausreichenden Mengen einen möglichst reinen Wirkstoff zu erhalten.
31
Allerdings konnte der Fachmann dem Überblicksaufsatz an anderer Stelle unter der Überschrift "Bildung von IL-1Ra" ("IL-1Ra production") entnehmen, dass 1% AB Serum in Gegenwart von löslichem IgG die IL-1Ra-Produktion von Monozyten stimuliere, während die Stimulation der IL-1β-Produktion unterbleibe (vgl. N 10, 1447, r. Sp., Abs. 1: "… The presence of 1% AB serum, soluble IgG, or GM-CSF all enhanced IL-1Ra production but not that of IL-1β. …"). Zog der Fachmann vor diesem Hintergrund als Alternative zu der ihm ausdrücklich in der N 10 beschriebenen rekombinanten Herstellung von IL-1Ra für die therapeutische Verwendung auch eine Herstellung durch Isolierung und Aufreinigung des IL-1Ra aus einer mononukleären Zellkultur in Erwägung, so wurde für ihn die N 9 interessant, weil darin gleichermaßen von einer durch IVIg erhöhten Freisetzung von IL-1Ra aus MNC berichtet wird. Dabei wurde ihm - über den Offenbarungsgehalt der N 10 hinaus - durch die N 9 die Erkenntnis vermittelt, dass der Ertrag an IL-1Ra bei Verwendung von Kunststoffröhrchen, die mit FCS vorbeschichtet waren, im Vergleich mit solchen, die nicht vorbeschichtet waren, signifikant geringer war.
32
Gleichwohl fand der Fachmann in der N 9 keine Bestätigung für den Ansatz , alternativ zur rekombinanten Herstellung von IL-1Ra für die therapeutische Verwendung auch die Herstellung des Antagonisten durch Isolierung und Aufreinigung aus der Zellkultur in Betracht zu ziehen. Denn, wie der gerichtliche Sachverständige erläutert hat, liegt die um das 10 bis 15fache erhöhte Freisetzung von IL-1Ra in Gegenwart von IgG, von der in der N 9 berichtet wird, weit unterhalb der Werte, die unter praktischen Gesichtspunkten eine solche Art der Herstellung eines Wirkstoffs für therapeutische Zwecke als geeignet erscheinen ließen. Erst recht ergab sich daraus bereits im Hinblick auf die in der N 9 beschriebenen Mengenverhältnisse kein Anhalt dafür, neben der rekombinanten und der Herstellung von IL-1Ra aus einer MNC-Kultur als dritten Herstellungsweg für ein therapeutisch einsetzbares IL-1Ra über die Inkubation von Blut in einem unbeschichteten Kunststoffbehältnis zur Bildung von IL-1Ra nachzudenken. Dagegen spricht im Übrigen, dass die In-vivo-Infusion von hochdosiertem IgG nach den Erkenntnissen gerade keine signifikante Wirkung auf den Serumspiegel von IL-1Ra hatte.
33
An diesem Ergebnis ändert sich auch dann nichts, wenn mit dem Patentgericht angenommen wird, dass sich der Fachmann auf seiner Suche nach einem günstigen Verfahren zur Herstellung von IL-1Ra zusätzlich mit dem Bericht von Nerad et al. mit dem Titel "Interleukin-1β (IL-1β), IL-1-Rezeptor-Antagonist und TNFα-Bildung im Vollblut" (N 8) befasst hat. Nach den Angaben der Entgegenhaltung hat der Zweck der durchgeführten Untersuchungen in der Entwicklung und Standardisierung eines praktischen Verfahrens zur Messung der Zytokinbildung durch Leukozyten von menschlichen Probanden in Situationen gele- gen, in denen die standardmäßigen In-vitro-Verfahren undurchführbar sind (N 8, 687, l. Sp., Einführung). In der Diskussion wird ausgeführt, nach der Entdeckung und Beschreibung von IL-1Ra sei klar, dass eine vollständige Bewertung des Interleukin-1-Status (auch) die Messung dieses Antagonisten erfordere. Dafür sei die Bildung von IL-1β und TNFα in Vollblutproben mit Endotoxin und/oder Phytohämagglutinin in EDTA enthaltenden Standard-Vakuumsammelröhrchen stimuliert worden (N 8, 687, l. Sp. "Zusammenfassung"; 687, r. Sp. "Zytokinstimulierung mit Vollblut"). Das Vollblutverfahren habe signifikante und den für Zellkulturen berichteten ähnliche Mengen an IL-1Ra erbracht. Unter Hinweis auf vermutete unterschiedliche Regulierungen des Agonisten und des Antagonisten und eine von anderen Autoren beobachtete erhebliche Steigerung der IL-1Ra-Bildung ohne Auswirkung auf die IL-1β-Bildung bei der Zugabe von 1% Serum zu isolierten mononukleären Zellkulturen (verwiesen wird hier auf denselben Aufsatz von Poutsiaka et al., Blood 78, 1275, auf den auch in N 10 Bezug genommen wird) schlussfolgern die Verfasser, dass das Vollblutverfahren , das die physiologisch korrekte Konzentration von Serumfaktoren und IgG enthalte, ein geeigneteres Vorgehen zum Untersuchen von IL-1Ra sei; die Vollblutstimulierung von IL-1Ra spiegele die In-vivo-Bildung dieses Zytokins genauer wider als die Verwendung kultivierter mononukleärer Zellen (N 8, 690, r. Sp. 2. vollständiger Abs.).
34
Diese Ausführungen enthalten keine Anregung für den Fachmann, die Invitro -Inkubierung autologen Blutes zur Bildung von IL-1Ra für therapeutische Zwecke in Erwägung zu ziehen. Es ist bereits zweifelhaft, ob die in der N 8 offenbarten Erkenntnisse zur Messung des IL-1Ra-Anteils in Vollblutproben dem Fachmann überhaupt Anlass zu Überlegungen im Hinblick auf die Herstellung dieses Antagonisten zu therapeutischen Zwecken gaben, nachdem ihm insoweit in der N 10 allein die rekombinante Herstellung offenbart worden war und er zudem wusste, dass IL-1Ra auch allgemein durch die Isolierung und Aufrei- nigung aus Monozyten hergestellt werden kann. Selbst wenn er jedoch entsprechende Überlegungen angestellt haben sollte, vermittelte ihm die N 8 jedenfalls keinen Grund, diesen Überlegungen weiter nachzugehen. Denn die in der N 8, insbesondere auch in der Figur 3 wiedergegebenen Mengen der IL-1Ra-Bildung sind sowohl absolut als auch in Relation zur Bildung von IL-1β ("dem Gegenspieler von IL-1Ra") bei weitem nicht derart signifikant, dass daraus eine therapeutische Wirksamkeit hätte abgeleitet werden können, wie der gerichtliche Sachverständige in der Verhandlung unwidersprochen und (im Hinblick auch auf die im Streitpatent insoweit angegebenen Werte, vgl. dort Rn. 78) überzeugend ausgeführt hat. Hinzu kommt, dass aus der N 8 nicht hervorgeht, welchen Einfluss die Zugabe von Stimulantien auf die dort dokumentierte Bildung von IL-1Ra gehabt hat. Aus fachlicher Sicht ist dies aber bei einer therapeutischen Anwendung, bei der das autologe Blut nach der Inkubation wieder in den Körper zurückgegeben wird und sich daher jedenfalls der Einsatz der in der N 8 verwendeten toxischen Stimulantien verbietet, von erheblicher Bedeutung.
35
c) Das Urteil des Patentgerichts stellt sich schließlich auch dann nicht als im Ergebnis zutreffend dar, wenn, wie von der Klägerin im Verhandlungstermin erwogen, als Fachmann von einem nicht im wissenschaftlichen Bereich, sondern im Bereich der ärztlichen Versorgung tätigen praktischen Arzt oder Internisten oder auch von einem fortgeschrittenen Studenten der Medizin ausgegangen wird, der offen für alternativmedizinische Anwendungen ist. Ein derart definierter Fachmann mag - anders als der im wissenschaftlichen Bereich tätige Fachmann nach der oben unter III. 1. gegebenen Definition - den auch vom Patentgericht herangezogen Aufsatz von Bocci mit dem Titel "Ein vernünftiger Ansatz für die Behandlung der HIV-Infektion in der Anfangsphase mit Ozontherapie (Eigenblutbehandlung) - Wie 'entzündliche' Zytokine bei der Therapie eine Rolle spielen können" (N 18) zu Rate gezogen haben. Verwertbare Erkenntnisse für die Frage, ob eine Vollblutinkubation in einer Spritze als ein alternatives Verfahren zur Herstellung von IL-1Ra zu therapeutischen Zwecken nahelag, folgen daraus dennoch nicht. Denn diese Entgegenhaltung befasst sich lediglich allgemein mit der physiologischen Freisetzung von Zytokinen nach einer Eigenblutbehandlung, ohne IL-1Ra und die Inkubation von Vollblut in der Spritze zur Bildung von IL-1Ra zu therapeutischen Zwecken anzusprechen (vgl. N 18, 317 f.).
36
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Abs. 2 PatG in Verbindung mit § 97 Abs. 1 ZPO.
Meier-Beck Grabinski Bacher
Hoffmann Schuster
Vorinstanz:
Bundespatentgericht, Entscheidung vom 21.09.2010 - 3 Ni 12/09 (EU) -

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Urteil, 03. Sept. 2013 - X ZR 16/11

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Zivilprozessordnung - ZPO | § 97 Rechtsmittelkosten


(1) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen der Partei zur Last, die es eingelegt hat. (2) Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind der obsiegenden Partei ganz oder teilweise aufzuerlegen, wenn sie auf Grund eines neuen Vo

Patentgesetz - PatG | § 121


(1) In dem Verfahren vor dem Bundesgerichtshof gelten die Bestimmungen des § 144 über die Streitwertfestsetzung entsprechend. (2) In dem Urteil ist auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden. Die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über d
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(1) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen der Partei zur Last, die es eingelegt hat. (2) Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind der obsiegenden Partei ganz oder teilweise aufzuerlegen, wenn sie auf Grund eines neuen Vo

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Luftverteiler
EPÜ Art. 87, 88; PVÜ Art. 4
Ein Gegenstand einer europäischen Patentanmeldung betrifft nur dann im Sinne
des Art. 87 Abs. 1 EPÜ dieselbe Erfindung wie eine Voranmeldung, wenn
die mit der europäischen Patentanmeldung beanspruchte Merkmalskombinati-
on dem Fachmann in der Voranmeldung in ihrer Gesamtheit als zu der angemeldeten
Erfindung gehörig offenbart ist. Einzelmerkmale können nicht in ein
und demselben Patentanspruch mit unterschiedlicher Priorität miteinander
kombiniert werden (im Anschluß an die Stellungnahme G 2/98 der Großen Beschwerdekammer
des Europäischen Patentamts).
BGH, Urteil vom 11. September 2001 - X ZR 168/98 - Bundespatentgericht
Der X. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat auf die mündliche Verhandlung
vom 11. September 2001 durch den Vorsitzenden Richter Rogge und
die Richter Prof. Dr. Jestaedt, Dr. Melullis, Scharen und Dr. Meier-Beck

für Recht erkannt:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des 1. Senats (Nichtigkeitssenats ) des Bundespatentgerichts vom 10. März 1998 abgeändert : Das europäische Patent 359 698 wird mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland im Umfang der Patentansprüche 1 bis 7 und 10 und weiterhin insoweit für nichtig erklärt, als die Patentansprüche 16 bis 19, 21 bis 26 und 30 unmittelbar und/oder mittelbar auf die Patentansprüche 1 bis 7 und 10 rückbezogen sind.
Die Kosten des Rechtsstreits werden dem Beklagten auferlegt.
Von Rechts wegen

Tatbestand:


Der Beklagte ist eingetragener Inhaber des deutschen Teils des am 27. April 1989 unter Inanspruchnahme der Priorität der deutschen Gebrauchsmusteranmeldung 88 07 929 vom 20. Juni 1988 angemeldeten europäischen Patents 359 698 (Streitpatents). Anspruch 1 des Streitpatents, das am 22. Dezember 1993 veröffentlicht worden ist, lautet:
"Gasverteiler, insbesondere Luftverteiler zum feinblasigen Belüften von Wasser, mit
- einem festen, platten Grundelement (1);
- einer über dem Grundelement (1) angeordneten Membrane (2) (= gummielastische, gelochte Gas- oder Luftverteiler-Folie oder -Platte);
- einer Verbindungsvorrichtung (4) zum lösbaren, gasdichten Verbinden von Randbereichen der Membrane (2) mit entsprechenden Randbereichen der Grundelemente (1), derart, daû die Membrane (2) bei fehlender oder geringer Gas-, insbesondere Luft- und/oder O -Zufuhr auf wenigstens einer Oberfläche des

2

Grundelements (1) satt aufliegt;
- über der Membrane (2), insbesondere auf deren Oberfläche, angeordneten , niederhaltenden im wesentlichen stegförmigen
Elementen, die ein Aufwölben der Membrane (2) bei Gas-, insbesondere Luft- und/oder O -Zufuhr verhindern;

2


- wobei die Verbindungsvorrichtung (4) wenigstens einen mindestens U-förmigen Umschlingungsbereich der Membrane (2) umfaût , in welchem die Membrane (2) entweder einen Randbereich des plattenartigen Grundelements (1) umgreift oder etwa U-förmig in einer nutartigen Ausnehmung (3; 13) des plattenartigen Grundelements (1) einliegt sowie ein KlemmsitzProfildichtungselement (9, 10; 14, 15; 19, 20; 19', 20') vorgesehen ist, welches spätestens im Betriebszustand mindestens zwei linienförmige Klemmungen der Membrane (2) in sich im wesentlichen gegenüberliegenden Klemmungsbereichen des Umschlingungsbereichs bewirkt."
Wegen des Wortlauts der weiteren, unmittelbar oder mittelbar auf diesen Anspruch rückbezogenen Patentansprüche wird auf die Streitpatentschrift verwiesen. Ein Ausführungsbeispiel der Erfindung zeigen die nachstehend wiedergegebenen Figuren 12 und 13 der Streitpatentschrift.
Fig. 12
Fig. 13
Mit der Nichtigkeitsklage hat die Klägerin geltend gemacht, das Streitpatent beruhe gegenüber dem Stand der Technik vor dem Prioritätstag sowie gegenüber dem Gebrauchsmuster 88 07 929, dessen Priorität es nicht in Anspruch nehmen könne, nicht auf erfinderischer Tätigkeit und sei durch eine offenkundige Vorbenutzung im Prioritätsintervall vorweggenommen. Sie hat beantragt ,
das Streitpatent dadurch teilweise für nichtig zu erklären, daû Patentanspruch 1 in seiner erteilten Fassung und in den Patentansprüchen 2, 6, 7, 25 und 30 die Rückbeziehung auf Patentanspruch 1 in seiner erteilten Fassung entfalle.
Das Bundespatentgericht hat die Klage abgewiesen; sein Urteil ist in Mitt. 1998, 430 veröffentlicht.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie sinngemäû beantragt,
das Streitpatent mit Wirkung für die Bundesrepublik Deutschland im Umfang der Patentansprüche 1 bis 7 und 10 und weiterhin insoweit für nichtig zu erklären, als die Patentansprüche 16 bis 19, 21 bis 26 und 30 unmittelbar und/oder mittelbar auf die Patentansprüche 1 bis 7 und 10 rückbezogen sind.
Der Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen.
Als gerichtlicher Sachverständiger hat Dipl.-Ing. B. B., K., ein schriftliches Gutachten erstattet, das er in der mündlichen Verhandlung erläutert und ergänzt hat.

Entscheidungsgründe:


Die zulässige Berufung ist begründet. Das Streitpatent erweist sich in dem mit der Nichtigkeitsklage angegriffenen Umfang als nicht patentfähig und ist daher insoweit für nichtig zu erklären (Art. 138 Abs. 1 lit. a EPÜ, Art. II § 6 Abs. 1 Nr. 1 IntPatÜG).
I. Das Streitpatent betrifft einen Gasverteiler, insbesondere einen Luftverteiler zum feinblasigen Belüften von Wasser. Wie sich aus dem Zusammenhang der Beschreibung ergibt, geht die Erfindung, die auf einen Gasverteiler "mit den Merkmalen des" (tatsächlich einteilig aufgebauten) "Oberbegriffs des Patentanspruchs 1" Bezug nimmt, von einem Gasverteiler aus, der ein festes , plattenartiges Grundelement aufweist, über dem eine gummielastische, gelochte Gas- oder Luftverteilerfolie oder –platte als Membrane angeordnet ist. Zur lösbaren, gasdichten Verbindung von Randbereichen der Membrane mit entsprechenden Randbereichen des Grundelements dient eine vom Streitpatent näher ausgestaltete Verbindungsvorrichtung. Die Membrane liegt bei fehlender Gaszufuhr auf wenigstens einer Oberfläche des Grundelements satt auf. Bei Gaszufuhr verhindern über der Membrane, insbesondere auf deren Oberfläche , angeordnete, im wesentlichen stegförmige niederhaltende Elemente ein Aufwölben der Membrane.
Einen solchen Gasverteiler beschreibt die in der Streitpatentschrift genannte europäische Patentanmeldung 171 452, wobei die Membrane an ihren Rändern mittels Randleisten derart mit dem Grundelement verbunden wird, daû die Randleisten mit der unter ihnen liegenden Membrane und dem Grun-
delement verschraubt oder vernietet werden. Alternativ erwähnt die Vorveröffentlichung eine Verbindung durch Klammern, die in Abständen den Rand des Grundelements mit der darüber angeordneten Randleiste und dem dazwischen liegenden Randbereich der Membrane umgreifen und gegebenenfalls zusätzlich mit dem Grundelement verschraubt oder vernietet sein können.
Als nachteilig sieht die Streitpatentschrift an, daû die Verbindung zwischen Grundelement, Membrane und als Dichtung dienender Randleiste verhältnismäûig material-, herstellungs- und montageaufwendig sei.
Daraus ergibt sich das technische Problem, einen Gasverteiler mit einer zuverlässig gasdichten Verbindungsvorrichtung zu schaffen, die kostengünstig herzustellen ist und eine einfache Montage sowie Demontage beim Austausch der Membran gestattet.
Die Lösung des Streitpatents besteht aus einem Gasverteiler mit folgenden Merkmalen:
1. Der Gasverteiler weist auf
1.1 ein festes, plattenartiges Grundelement (1),
1.2 eine über dem Grundelement (1) als Membrane angeordnete gummielastische, gelochte Gas- oder Luftverteilerfolie oder –platte.
2. Eine Verbindungsvorrichtung (4) dient zum lösbaren, gasdichten Verbinden von Randbereichen der Membrane (2) mit entsprechenden Randbereichen des Grundelementes (1), derart, daû die Membrane (2) bei fehlender oder geringer Gaszufuhr auf wenigstens einer Oberfläche des Grundelements (1) satt aufliegt.
3. Die Verbindungsvorrichtung (4)
3.1 umfaût wenigstens einen mindestens U-förmigen Umschlingungsbereich der Membrane (2), in welchem diese
3.1.1 entweder einen Randbereich des Grundelements (1) umgreift oder
3.1.2 etwa U-förmig in einer nutartigen Ausnehmung (3; 13) des Grundelements (1) einliegt,
3.2 weist ein Klemmsitz-Profildichtungselement (9, 10; 14, 15; 19, 20; 19©, 20©) auf, welches spätestens im Betriebszustand mindestens zwei linienförmige Klemmungen der Membrane (2) in sich im wesentlichen gegenüberliegenden Klemmungsbereichen des Umschlingungsbereichs bewirkt.
4. Über der Membrane (2), insbesondere auf deren Oberfläche, sind niederhaltende, im wesentlichen stegförmige Elemente
angeordnet, die ein Aufwölben der Membrane (2) bei Gaszufuhr verhindern.
II. Der Gegenstand des Anspruchs 1 ist nicht patentfähig, da er dem Fachmann durch den Stand der Technik nahegelegt worden ist (Art. 52 Abs. 1, 56 EPÜ). Es kann daher dahinstehen, ob ihm gegenüber einem nach der Behauptung der Klägerin offenkundig vorbenutzten Gasverteiler bereits die Neuheit fehlt.
Für den angesprochenen Fachmann, als der ein auf dem Gebiet der Belüftungseinrichtungen tätiger Ingenieur der Fachrichtung Maschinenbau, aber auch, wie der Sachverständige ausgeführt hat, ein erfahrener Techniker in Betracht kommt, der sich aufgrund seiner Kenntnis vorhandener Bauformen mit herstellungs- und montagetechnischen Problemen dieser Vorrichtungen beschäftigt , ergab sich die Erfindung in naheliegender Weise aus einer Kombination der in dem Gebrauchsmuster 88 07 929 und in der europäischen Patentanmeldung 171 452 beschriebenen Gasverteiler.
1. Das Gebrauchsmuster, das am 18. August 1988 eingetragen worden ist, ist als Stand der Technik zu berücksichtigen, da die Priorität der betreffenden Anmeldung vom Streitpatent nicht wirksam in Anspruch genommen worden ist.

a) Der in Anspruch 1 des Streitpatents mit den Merkmalsgruppen 1 bis 4 umschriebene Gegenstand ist, wie bereits das Bundespatentgericht zutreffend angenommen hat, in der Gebrauchsmusteranmeldung nicht als zur angemeldeten Erfindung gehörig offenbart. In diesem Sinne offenbart ist dort
vielmehr nur ein Gasverteiler mit den Merkmalen 1 bis 3, nicht hingegen ein solcher, bei dem auûerdem über der Membrane niederhaltende, im wesentlichen stegförmige Elemente angeordnet sind, die ein Aufwölben der Membrane bei Gaszufuhr verhindern.
Die Beschreibung des Gebrauchsmusters erläutert, ein Luftverteiler zum feinblasigen Belüften von Wasser sei bereits aus der europäischen Patentanmeldung 171 452 bekannt, wobei dieser Luftverteiler eine über einer festen Platte angeordnete, gelochte Luftverteilerfolie aufweise, die an ihren Rändern mittels Randleisten dicht mit der festen Platte verbunden sei, und wobei ferner über der Luftverteilerfolie Stegleisten angeordnet seien, welche direkt mit der festen Platte verbunden seien. Zum gasdichten Verbinden der Luftverteilerfolie an ihren Rändern mit der festen Platte seien die als Dichtungselemente fungierenden Randleisten erforderlich, wobei die Verbindung zwischen diesen Randleisten, der Luftverteilerfolie und gegebenenfalls auch der Stegleisten mit der festen Platte durch selbstschneidende Schrauben oder durch Nieten erfolge , unter Umständen aber auch dadurch, daû Klammern vorgesehen seien, welche in Abständen den Rand der festen Platte mit der zugehörigen Randleiste und dem dazwischenliegenden Randbereich der Luftverteilerfolie umgriffen (S. 2 Z. 7 - 19). Die in der europäischen Patentanmeldung vorgesehene Verbindung zwischen fester Platte, Luftverteilerfolie und Randleisten wird als verhältnismäûig material-, herstellungs- und montageaufwendig bezeichnet (S. 2 Z. 27 - S. 3 Z. 4) und hieraus die Aufgabe abgeleitet, eine Verbindungsvorrichtung mit den Merkmalen des Oberbegriffs des Schutzanspruchs 1 zu schaffen und diese so auszubilden, daû sie bei sehr guter gasabdichtender Funktion verhältnismäûig geringen Konstruktions- und Fertigungsaufwand erfordert und Montage
bzw. Demontage sowie Wartung rasch und einfach erfolgen können (S. 3 Z. 9 - 19). Das soll dadurch erreicht werden, daû die Verbindungsvorrichtung aus wenigstens einem Klemmsitz-Profildichtungselement pro Randbereich besteht, dessen Profilform in der Weise ausgebildet ist, daû sich eine sowohl festklemmende als auch abdichtende Verbindung zwischen dem jeweiligen Randbereich der Luftverteilerfolie und dem zugeordneten Randbereich der festen Platte ergibt.
Stegleisten, die wie bei dem Gasverteiler nach der europäischen Patentanmeldung über der Luftverteilerfolie angeordnet wären oder angeordnet werden könnten, werden in der weiteren Beschreibung der Erfindung nicht erwähnt und sind auch in den Zeichnungen nicht dargestellt. Eine ausdrückliche Offenbarung, daû der erfindungsgemäûe Luftverteiler mit solchen Leisten versehen werden könne, fehlt daher. Daran ändert auch ihre Erwähnung in der Einleitung der Beschreibung nichts, da sie sich allein auf den vorbekannten Luftverteiler bezieht. In den im übrigen nach der europäischen Patentanmeldung gebildeten Gattungsbegriff des Schutzanspruchs sind die Stegleisten gerade nicht aufgenommen worden; die Erörterung ihrer Verbindung mit der festen Platte erfolgt vielmehr im Zusammenhang mit der Erörterung der als nachteilig angesehenen und vom Gebrauchsmuster zu verbessernden Randverbindungsvorrichtung des Standes der Technik (S. 2 Z. 7 - 19).
Der Fachmann entnimmt den Gebrauchsmusterunterlagen auch nicht als selbstverständlich die Möglichkeit, den zum Gebrauchsmusterschutz angemeldeten Luftverteiler mit Stegleisten zu versehen. Nach der Rechtsprechung des Senats ist allerdings über das Beschriebene hinaus durch eine zum Stand der Technik gehörende Schrift i.S.d. § 3 Abs. 1 Satz 2 PatG und des Art. 54 Abs. 2
EPÜ alles als offenbart und damit als vorweggenommen anzusehen, was für den Fachmann als selbstverständlich oder nahezu unerläûlich zu ergänzen ist oder was er bei aufmerksamer Lektüre der Schrift ohne weiteres erkennt und in Gedanken gleich mitliest (BGHZ 128, 270, 276 f. - elektrische Steckverbindung ; Sen.Urt. v. 30.9.1999 - X ZR 168/96, GRUR 2000, 296, 297 - Schmierfettzusammensetzung ). Das gilt auch für die Ermittlung des Inhalts einer für die wirksame Inanspruchnahme eines Prioritätsrechts oder die Prüfung einer unzulässigen Erweiterung maûgeblichen ursprünglichen Anmeldung mit der Maûgabe, daû es darauf ankommt, ob der mit durchschnittlichen Kenntnissen und Fähigkeiten ausgestattete Fachmann des betreffenden Gebiets der Technik eine solche selbstverständliche Ergänzung der Anmeldung als zur angemeldeten Erfindung gehörend entnehmen kann. Denn eine Lehre zum technischen Handeln geht über den Inhalt der ursprünglichen Anmeldung hinaus, wenn die Gesamtheit der Anmeldungsunterlagen nicht erkennen läût, daû sie als Gegenstand von dem mit der Anmeldung verfolgten Schutzbegehren umfaût sein soll (Sen.Urt. v. 21.9.1993 - X ZR 50/91, Mitt. 1996, 204, 206 - Spielfahrbahn ; Sen.Beschl. v. 20.6.2000 - X ZB 5/99, GRUR 2000, 1015, 1016 - Verglasungsdichtung; v. 5.10.2000 - X ZR 184/98, GRUR 2001, 140, 141 - Zeittelegramm). Daû indessen Gasverteiler mit Stegleisten nach dem Vorbild der europäischen Patentanmeldung 171 452 von dem mit der Gebrauchsmusteranmeldung verfolgten Schutzbegehren umfaût sein sollten, ist den Unterlagen dieser Anmeldung nicht zu entnehmen.
Die Anmeldung befaût sich nämlich nur mit der Randverbindung zwischen Folie und fester Platte, auf die auch sämtliche Schutzansprüche gerichtet sind, und nimmt die Oberseite der Folie und dort etwa anzubringende Stegleisten nicht in den Blick. Erwähnt ist lediglich, daû sich im Falle zuneh-
mender Zugbeanspruchung der erfindungsgemäûen Klemmverbindung beispielsweise aufgrund der sich aufwölbenden elastischen Folie bei zunehmendem Gasdruck die Klemmwirkung sogar noch in vorteilhafter Weise verstärke (S. 4 Z. 19 - 25). Das ist jedenfalls kein die Anbringung von Stegleisten erfordernder Effekt. Denn wie der Sachverständige überzeugend dargelegt hat, ging der Fachmann im Prioritätszeitpunkt nicht etwa als selbstverständlich davon aus, bei Gasverteilern der gattungsgemäûen Art eine übermäûige Aufwölbung durch Stegleisten verhindern zu müssen. Vielmehr stand ihm die Möglichkeit zu Gebote, je nach Gröûe der in Richtung der Aufwölbung wirkenden Kraft die Klemmverbindung entsprechend stärker auszubilden. Die angemeldete Erfindung umfaûte somit die Ausstattung des Gasverteilers mit Stegleisten nicht.

b) Danach ist die wirksame Inanspruchnahme der Priorität des Gebrauchsmusters für das Streitpatent nach Art. 87 Abs. 1 EPÜ nicht möglich, da das Streitpatent nicht dieselbe Erfindung betrifft wie die Gebrauchsmusteranmeldung.
Der Senat schlieût sich der Stellungnahme vom 31. Mai 2001 (G 2/98) an, in der die Groûe Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts das Erfordernis derselben Erfindung i.S.d. Art. 87 Abs. 1 EPÜ dahin ausgelegt hat, daû die Priorität einer früheren Anmeldung für einen Anspruch in einer europäischen Patentanmeldung gemäû Art. 88 EPÜ nur dann anzuerkennen ist, wenn der Fachmann den Gegenstand des Anspruchs unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens unmittelbar und eindeutig der früheren Anmeldung als Ganzes entnehmen kann. Maûgeblich dafür sind folgende Erwägungen:
Nach Art. 4 F PVÜ, gegenüber deren Prioritätsgrundsätzen das EPÜ den Anmelder nicht schlechter stellen darf (Sen., BGHZ 82, 88, 97 - Roll- und Wippbrett), kann zwar die Anerkennung einer Priorität nicht deswegen verweigert werden, weil eine Patentanmeldung ein oder mehrere Merkmale (französische Fassung: éléments; englische Fassung: elements) enthält, die in der Anmeldung , deren Priorität beansprucht wird, nicht enthalten waren, sofern Erfindungseinheit im Sinne des Landesgesetzes vorliegt. Ein élément im Sinne des Art. 4 F PVÜ ist jedoch nicht im Sinne eines Anspruchsmerkmals zu verstehen, sondern meint einen Erfindungsgegenstand, der explizit oder implizit in den Ursprungsunterlagen offenbart ist, aber nach Art. 4 H PVÜ nicht notwendigerweise in einem Anspruch definiert sein muû. Das stimmt mit der Schranke der Einheitlichkeit überein, die Art. 4 F PVÜ der Zusammenfassung mehrerer éléments in einer Nachanmeldung setzt, und entspricht dem verfahrensrechtlichen Zweck der Vorschrift, dem Anmelder eine Mehrzahl von Nachanmeldungen im Ausland zu ersparen (vgl. Lins, Das Prioritätsrecht für inhaltlich geänderte Nachmeldungen, S. 27). Eine Auslegung des Begriffs derselben Erfindung in Art. 87 Abs. 1 EPÜ, die diesen mit dem Begriff desselben Gegenstandes in Art. 87 Abs. 4 EPÜ gleichsetzt, steht danach nicht in Widerspruch zur PVÜ.
Allerdings bestimmt Art. 88 Abs. 2 Satz 2 EPÜ, daû für einen Anspruch mehrere Prioritäten in Anspruch genommen werden können. Nach der Entstehungsgeschichte der Vorschrift war jedoch, wie in der Stellungnahme der Groûen Beschwerdekammer dargelegt, nicht beabsichtigt, für Teile ein und desselben Patentanspruchs unterschiedliche Prioritäten zuzulassen. Vielmehr sollte lediglich der Fall geregelt werden, daû alternative Ausführungsformen
einer Erfindung ("Oder-Ansprüche") jeweils in unterschiedlichen Voranmeldungen offenbart sind.
Der - auch für die Stellungnahme der Groûen Beschwerdekammer - entscheidende Gesichtspunkt liegt schlieûlich in der Wirkung des Prioritätsrechts nach Art. 89 EPÜ, die darin besteht, daû der Prioritätstag für die Anwendung des Art. 54 Abs. 2, 3 sowie des Art. 60 Abs. 2 als Tag der europäischen Patentanmeldung gilt. Es wäre eine sachlich nicht gerechtfertigte Begünstigung des Nachanmelders, wenn diese Wirkung auch bei einer Weiterentwicklung der Erfindung (durch Hinzufügung eines weiteren Merkmals bei der Nachanmeldung ) dem Gegenstand der Nachanmeldung in seiner Gesamtheit zugebilligt würde. Das widerspräche dem Grundsatz der Gleichbehandlung von Anmeldern und Dritten durch einen einheitlichen Offenbarungsbegriff ebenso wie dem Zweck des Art. 54 Abs. 3 EPÜ, im Falle zweier europäischer Anmeldungen , die auf denselben Gegenstand gerichtet sind, das Recht auf das Patent (nur) demjenigen Anmelder zu geben, der den beanspruchten Gegenstand in seiner Gesamtheit zuerst offenbart hat.
Eine solche sachlich ungerechtfertigte Begünstigung des Nachanmelders lieûe sich jedoch allenfalls dann vermeiden, wenn es möglich wäre, hinsichtlich bei der Nachanmeldung hinzugefügten Merkmalen danach zu unterscheiden , ob sie Funktion und Wirkung der Erfindung (im Sinne des technischen Sinngehalts der ursprünglich offenbarten Merkmalskombination) beeinflussen oder nicht. Dafür stehen jedoch praktisch brauchbare Kriterien nicht zur Verfügung. Die von den Technischen Beschwerdekammern zum Teil praktizierte Unterscheidung zwischen wesentlichen und nicht wesentlichen Zusatzmerkmalen hat die Groûe Beschwerdekammer zu Recht für aus Gründen der
Rechtssicherheit nicht angängig gehalten. Die vom Bundespatentgericht in der angefochtenen Entscheidung vertretene Konzeption, in der der Nachanmeldung - nur im Umfang der in der Erstanmeldung offenbarten Merkmalskombination - deren Priorität zugebilligt wird, wenn die Nachanmeldung den ursprünglichen Erfindungsgedanken im Sinne einer weiteren Ausgestaltung ergänze, wie dies in der Regel die Merkmale eines echten Unteranspruchs täten, zwänge dazu, dem ursprünglichen Erfindungsgedanken eine Ausgestaltung zuzurechnen, die als solche in der Erstanmeldung gerade nicht offenbart ist, und damit zur Aufgabe des einheitlichen Begriffs der zum Patentschutz angemeldeten Erfindung, der diese allein aus der Anmeldung selbst danach bestimmt, was in ihr als zu der angemeldeten Erfindung gehörig offenbart ist. Ferner könnte die Abgrenzung zwischen einer Merkmalskombination 1 bis 4, bei der das Merkmal 4 die Merkmale 1 bis 3 lediglich ergänzt, und einer Merkmalskombination 1 bis 4, bei der auch die Merkmale 1 bis 3 im Rahmen der Gesamtkombination eine andere technische Bedeutung gewinnen, im Einzelfall Probleme bereiten, deren Inkaufnahme der Rechtssicherheit bei der Beurteilung der wirksamen Prioritätsinanspruchnahme abträglich wäre. Schlieûlich ergäbe sich die für den Anmelder gefährliche Konsequenz, daû ihm bei der Nachanmeldung der Gesamtkombination 1 bis 4 die Zubilligung des Prioritätsrechts für die Merkmalskombination 1 bis 3 nicht hülfe, wenn im Prioritätsintervall die Gesamtkombination 1 bis 4 von einem Dritten angemeldet oder - wie im Streitfall von der Klägerin behauptet - offenkundig würde, weil die Gesamtkombination lediglich die Priorität des Anmeldetages genösse (vgl. Sen., BGHZ 63, 150, 154 - Allopurinol; Lins/Gramm, GRUR Int. 1983, 634/635; v. Hellfeld, Mitt. 1997, 294, 296/297; Tönnies, GRUR Int. 1998, 451, 453). Insbesondere auf sich schnell entwikkelnden Gebieten der Technik wäre ein so verstandenes Prioritätsrecht daher
letztlich unzureichend (Joos, GRUR Int. 1998, 456, 459 f.) und geeignet, dem Anmelder die trügerische Sicherheit zu vermitteln, die Nachanmeldung der Erfindung in weiterentwickelter Form sei prioritätsunschädlich.
Ein Gegenstand einer europäischen Patentanmeldung betrifft hiernach nur dann im Sinne des Art. 87 Abs. 1 EPÜ dieselbe Erfindung wie eine Voranmeldung , wenn die mit der europäischen Patentanmeldung beanspruchte Merkmalskombination dem Fachmann in der Voranmeldung in ihrer Gesamtheit als zu der angemeldeten Erfindung gehörig offenbart ist. Einzelmerkmale können nicht in ein und demselben Patentanspruch mit unterschiedlicher Priorität miteinander kombiniert werden.
Für den Streitfall folgt hieraus, daû für das Streitpatent, zu dessen Gegenstand nach sämtlichen Patentansprüchen zwingend das Merkmal 4 gehört, die Priorität des Gebrauchsmusters 88 07 929 nicht in Anspruch genommen werden kann, das dieses Merkmal nicht als zur Erfindung gehörig offenbart.
2. Für den Fachmann, der sich Gedanken über die zweckmäûige Ausbildung eines Luftverteilers machte, wie er im Gebrauchsmuster 88 07 929 beschrieben ist, lag es ohne weiteres nahe, diesen mit Stegleisten zu versehen , wie sie die europäische Patentanmeldung 171 452 zeigt.
Sie dienen bei dem Luftverteiler nach der europäischen Patentanmeldung , wie dort auf S. 4 Z. 31 - 34 beschrieben, dazu, ein Aufwölben der gelochten Luftverteilerfolie bei Luftzufuhr zu verhindern. In dem Gebrauchsmuster ist zwar, wie erwähnt, die Aufwölbung als vorteilhaft beschrieben, weil sie die erwünschte Klemmwirkung der Randverbindungsvorrichtung in vorteilhafter
Weise verstärke (S. 4 Z. 19 - 25). Ein Aufwölben der Folie findet jedoch stets statt, sei es hinsichtlich der Folie insgesamt, sei es hinsichtlich ihrer von den Stegleisten eingefaûten Teile, so daû der Hinweis im Gebrauchsmuster auf den hierin zu sehenden Vorteil den Fachmann, wie der Sachverständige bestätigt hat, nicht von dem Einsatz von Stegleisten abhielt. Vielmehr erschien es dem Fachmann, wie der Sachverständige zur Überzeugung des Senats ausgeführt hat, am Anmeldetag gleichermaûen möglich, je nach Zweckmäûigkeit und Auslegung der Klemmkraft des Profildichtungselements den Luftverteiler so zu bauen, daû sich eine gröûere (ohne Stegleisten) oder kleinere Aufwölbung (mit Stegleisten) ergab. Mit der Wahl der zweiten Alternative gelangte er zum Gegenstand des Streitpatents.
III. Die weiterhin angegriffenen Unteransprüche des Streitpatents enthalten handwerkliche Ausgestaltungen der Lehre des Anspruchs 1 und können die Patentfähigkeit des Streitpatents gleichfalls nicht begründen. Der Beklagte hat hierfür auch nichts geltend gemacht.
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 110 Abs. 3 Satz 2 PatG in der nach Art. 29 2. PatGÄndG weiter anwendbaren Fassung der Bekanntmachung vom 16. Dezember 1980 i.V.m. § 91 Abs. 1 ZPO. Rogge Jestaedt Melullis Scharen Meier-Beck
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Indessen kommen die D1.1 und D1.2 nicht selbst als ältere Anmeldungen in Betracht, sondern sind nur für die Frage relevant, ob die D1 ihre Priorität wirksam in Anspruch nehmen kann. Dafür muss das Merkmal, nach dem die Löslichkeit der Beschichtungszusammensetzung in einem wässrigen alkalischen Entwickler durch einfallende UV-Strahlung nicht erhöht wird, nicht nur im Sinn des Art. 88 Abs. 4 EPÜ (entsprechend Art. 4 H PVÜ) in der Gesamtheit der Anmeldeunterlagen deutlich offenbart, sondern auch der D1.1 oder der D1.2 als zur Erfindung gehörend zu entnehmen sein (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Januar 1990 – X ZB 9/89, BGHZ 110, 123, 126 – Spleißkammer; Urteil vom 11. September 2001 – X ZR 168/98, BGHZ 148, 383, 388 – Luftverteiler). Dies ist jedoch nicht der Fall.

(1) In dem Verfahren vor dem Bundesgerichtshof gelten die Bestimmungen des § 144 über die Streitwertfestsetzung entsprechend.

(2) In dem Urteil ist auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden. Die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über die Prozeßkosten (§§ 91 bis 101) sind entsprechend anzuwenden, soweit nicht die Billigkeit eine andere Entscheidung erfordert; die Vorschriften der Zivilprozeßordnung über das Kostenfestsetzungsverfahren (§§ 103 bis 107) und die Zwangsvollstreckung aus Kostenfestsetzungsbeschlüssen (§§ 724 bis 802) sind entsprechend anzuwenden.

(1) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen der Partei zur Last, die es eingelegt hat.

(2) Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind der obsiegenden Partei ganz oder teilweise aufzuerlegen, wenn sie auf Grund eines neuen Vorbringens obsiegt, das sie in einem früheren Rechtszug geltend zu machen imstande war.

(3) (weggefallen)