Bundesgerichtshof Urteil, 10. Mai 2007 - III ZR 115/06

published on 10/05/2007 00:00
Bundesgerichtshof Urteil, 10. Mai 2007 - III ZR 115/06
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Previous court decisions
Landgericht Oldenburg (Oldenburg), 5 O 2624/03, 22/01/2004
Oberlandesgericht Oldenburg, 6 U 36/04, 21/04/2006

Gericht


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
III ZR 115/06
Verkündet am:
10. Mai 2007
K i e f e r
Justizangestellter
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 10. Mai 2007 durch die Richter Dr. Wurm, Dr. Kapsa, Dörr, Dr. Herrmann
und Wöstmann

für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 21. April 2006 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der beiden Revisionsverfahren, an einen anderen Zivilsenat des Berufungsgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Tatbestand


1
Der Kläger stürzte am Morgen des 14. Januar 2003 gegen 7.30 Uhr auf dem Gehweg der verkehrsberuhigten B. straße in G. . Nach seinem Vorbringen ist er im Bereich eines im Boden verlegten Absperrhahns gefallen, weil an dieser Stelle Mosaiksteine aus dem Pflaster herausgerissen worden seien. Der Kläger nimmt deswegen die beklagte Gemeinde wegen einer Verletzung ihrer Verkehrssicherungspflicht auf Zahlung eines Schmerzensgeldes von mindestens 5.500 € sowie auf Feststellung ihrer Ersatzpflicht für seine weiteren materiellen und immateriellen Schäden in Anspruch.
2
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Auf die Revision des Klägers hat der erkennende Senat durch Urteil vom 2. Juni 2005 - III ZR 358/04 (NJW 2005, 2454 = VersR 2005, 1086) das erste Berufungsurteil aufgehoben und den Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Nach neuer mündlicher Verhandlung hat das Oberlandesgericht die Berufung des Klägers wiederum zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich dessen vom Senat zugelassene Revision.

Entscheidungsgründe


3
Die Revision führt zur Aufhebung auch des zweiten Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an einen anderen Senat des Berufungsgerichts.

I.


4
Das Berufungsgericht lässt es dahinstehen, ob der beklagten Gemeinde eine Amtspflichtverletzung zur Last fällt. Auch eine Beweisaufnahme zum streitigen Unfallhergang sei nicht veranlasst. Denn jedenfalls überwiege das Verschulden des Klägers derart, dass demgegenüber ein etwaiges Verschulden von Bediensteten der Gemeinde zurücktrete. Zur angegebenen Tageszeit gegen 7.30 Uhr am 14. Januar seien nach der Beobachtung der Senatsmitglieder die Sichtverhältnisse in diesen Breiten trotz der herrschenden Dämmerung außerordentlich gut gewesen. Auch in erheblicher Entfernung hätten einzelne Pflastersteine ohne jede Mühe genau wahrgenommen werden können. Selbst wenn das Wetter am 14. Januar 2003 trüber gewesen sein sollte, müsse der unmittelbare Nahbereich ohne weiteres gut sichtbar gewesen sein. Dass es dämmerig und keinesfalls dunkel gewesen sei, stehe nunmehr fest. Der Kläger habe seinen Vortrag in der Klageschrift, er sei bei Dunkelheit gestürzt, nicht mehr aufrecht erhalten. Er habe zudem in unmittelbarer Nähe der Unfallstelle gewohnt und sei mit der Örtlichkeit bestens vertraut gewesen. Wenn wiederholt Mosaiksteine herausgerissen gewesen sein sollten, könne dies auch dem Kläger nicht verborgen geblieben sein. Es komme hinzu, dass der Kläger mit seinem Fuß in kompletter Länge in ein Loch getreten und dort gewissermaßen festgeklemmt gewesen sein wolle. Dann müsse ein so großes "Loch" aber für jeden auch nur einigermaßen aufmerksamen Fußgänger ohne weiteres erkennbar gewesen sein. Ein Fußgänger, der trotz ihm bekannter Gefährlichkeit eines Fußwegs auch große Löcher, die sich noch dazu farblich deutlich von der Umgebung abhöben, überhaupt nicht wahrnehme, habe nach Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge (§ 254 BGB) keinen Anspruch auf Schadensersatz.

II.


5
Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision im Ergebnis nicht stand.
6
1. Da das Berufungsgericht offen gelassen hat, ob auf Seiten der beklagten Gemeinde eine Amtspflichtverletzung gegeben ist, ist dies zugunsten des Klägers auch in der Revisionsinstanz zu unterstellen.
7
2. Die Feststellung eines Mitverschuldens nach § 254 Abs. 1 BGB und die Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge ist zwar grundsätzlich Aufgabe des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind (vgl. nur BGH, Urteil vom 21. November 2006 - VI ZR 115/05 - NJW 2007, 506 m.w.N.). Eine vollständige Überbürdung des Schadens auf einen Beteiligten im Rahmen des § 254 BGB kommt allerdings nur ausnahmsweise in Betracht (BGH, Urteil vom 21. Februar 1995 - VI ZR 19/94 - VersR 1995, 583, 584). Daran gemessen ist die Entscheidung des Berufungsgerichts nicht frei von Rechtsfehlern.
8
a) Entgegen der Revision ist zwar letztlich nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht sich ohne Beteiligung der Parteien durch private Beobachtung Kenntnis von den "in diesen Breiten" am 14. Januar allgemein herrschenden Lichtverhältnissen verschafft hat. Dabei handelt es sich um offenkundige (allgemeinkundige) Tatsachen im Sinne des § 291 ZPO. In dieser Beziehung darf der Richter auch privates Wissen verwerten oder die notwendigen Tatsachengrundlagen gegebenenfalls selbst ermitteln (vgl. Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 21. Aufl., § 291 Rn. 2 f., 7). Er muss dies allerdings, um den Parteien insoweit rechtliches Gehör zu gewähren, vor oder in der mündlichen Verhandlung bekannt geben (vgl. Stein/Jonas/Leipold, aaO, Rn. 12). Dies gilt im Streitfall um so mehr, als das Berufungsgericht durch den Hinweis im Beschluss vom 2. Dezember 2005 den Anschein erweckt hatte, es komme auf diesen Punkt nicht an, weil sich die Lichtverhältnisse am Unfalltag nicht genauer rekonstruieren ließen. Die Revision erhebt indes keine Rügen, dass eine solche Information hier unterblieben sei.
9
b) Auf der anderen Seite ist der Revision zuzugeben, dass das Berufungsgericht den Mitverantwortungsanteil des Klägers an dem Unfall jedenfalls zu hoch ansetzt. Nach der Rechtsprechung des Senats braucht ein Fußgänger auf dem Gehweg einer Stadt die Augen nicht ständig nach unten zu richten. Wenn er Unebenheiten in der Pflasterung übersieht, ist ihm allein daraus der Vorwurf einer besonderen Unaufmerksamkeit nicht zu machen (Urteil vom 6. Februar 1969 - III ZR 193/66 - VersR 1969, 515, 516 f.).
10
Die Umstände des hier zu entscheidenden Falles rechtfertigen keine andere Beurteilung. Insbesondere trifft es nicht zu, dass der Fußweg der B. straße als besondere - und vom Kläger daher erhöhte Aufmerksamkeit verlangende - Gefahrenstelle zu werten war, da dort wiederholt in nicht festgestellten Abständen und an möglicherweise unterschiedlichen Stellen Mosaiksteine herausgerissen worden sein sollen. Darüber hinaus rügt die Revision mit Recht, dass es ohne hinreichende Kenntnis der am Unfalltag herrschenden Wetterbedingungen für die - lediglich auf nachträglichen Beobachtungen an anderen Orten beruhende - Schlussfolgerung des Berufungsgerichts, der unmittelbare Nahbereich müsse bei Dämmerung jedenfalls ohne weiteres gut sichtbar gewesen sein, an einer tragfähigen Grundlage fehlt.

III.


11
Aus diesen Gründen kann das Berufungsurteil nicht bestehen bleiben. Es ist aufzuheben und der Rechtsstreit ein weiteres Mal an das Berufungsge- richt zurückzuverweisen, damit es die noch erforderlichen Feststellungen treffen kann. Dabei macht der Senat von der Möglichkeit des § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch.
Wurm Kapsa Dörr
Herrmann Wöstmann
Vorinstanzen:
LG Oldenburg, Entscheidung vom 22.01.2004 - 5 O 2624/03-334- -
OLG Oldenburg, Entscheidung vom 21.04.2006 - 6 U 36/04 -
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(1) Im Falle der Aufhebung des Urteils ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Die Zurückverweisung kann an einen anderen Spruchkörper des Berufungsgerichts erfolgen. (2) Das Berufungsgerich

(1) Hat bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Beschädigten mitgewirkt, so hängt die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem

Tatsachen, die bei dem Gericht offenkundig sind, bedürfen keines Beweises.
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(1) Im Falle der Aufhebung des Urteils ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Die Zurückverweisung kann an einen anderen Spruchkörper des Berufungsgerichts erfolgen. (2) Das Berufungsgerich

(1) Hat bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Beschädigten mitgewirkt, so hängt die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem

Tatsachen, die bei dem Gericht offenkundig sind, bedürfen keines Beweises.
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published on 21/11/2006 00:00

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL VI ZR 115/05 Verkündet am: 21. November 2006 Holmes, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle in dem Rechtsstreit Nachschlagewerk: ja BGHZ: nein BGHR:
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published on 20/06/2013 00:00

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL III ZR 326/12 Verkündet am: 20. Juni 2013 K i e f e r Justizangestellter als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle in dem Rechtsstreit Nachschlagewerk: ja BGHZ: nein BGHR: ja BGB § 839 (Fe)
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(1) Hat bei der Entstehung des Schadens ein Verschulden des Beschädigten mitgewirkt, so hängt die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist.

(2) Dies gilt auch dann, wenn sich das Verschulden des Beschädigten darauf beschränkt, dass er unterlassen hat, den Schuldner auf die Gefahr eines ungewöhnlich hohen Schadens aufmerksam zu machen, die der Schuldner weder kannte noch kennen musste, oder dass er unterlassen hat, den Schaden abzuwenden oder zu mindern. Die Vorschrift des § 278 findet entsprechende Anwendung.

Tatsachen, die bei dem Gericht offenkundig sind, bedürfen keines Beweises.

(1) Im Falle der Aufhebung des Urteils ist die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Die Zurückverweisung kann an einen anderen Spruchkörper des Berufungsgerichts erfolgen.

(2) Das Berufungsgericht hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.

(3) Das Revisionsgericht hat jedoch in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Aufhebung des Urteils nur wegen Rechtsverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf das festgestellte Sachverhältnis erfolgt und nach letzterem die Sache zur Endentscheidung reif ist.

(4) Kommt im Fall des Absatzes 3 für die in der Sache selbst zu erlassende Entscheidung die Anwendbarkeit von Gesetzen, auf deren Verletzung die Revision nach § 545 nicht gestützt werden kann, in Frage, so kann die Sache zur Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.