Bundesgerichtshof Urteil, 27. Jan. 2011 - 5 StR 482/10
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
für Recht erkannt:
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
– Von Rechts wegen – G r ü n d e
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- Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes, betreffend die Nebenklägerin V. T. (Einsatzstrafe von drei Jahren Freiheitsstrafe), und zweier Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, betreffend die Nebenklägerinnen Je. und Ja. D. (Einzelfreiheitsstrafen von jeweils einem Jahr), zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Vom Anklagevorwurf zweier weiterer Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes, betreffend die Nebenklägerin J. D. , hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen. Die jeweils auf die Freisprüche beschränkten , vom Generalbundesanwalt vertretenen Revisionen der Staatsanwaltschaft und der letztgenannten Nebenklägerin haben ebenso mit der Sachrü- ge umfassend Erfolg wie die Revision des Angeklagten hinsichtlich seiner Verurteilung.
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- 1. Die Freisprüche des Angeklagten halten sachlichrechtlicher Prüfung nicht stand.
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- a) Der weder eingestellte noch abgetrennte Vorwurf des schweren sexuellen Missbrauchs zum Nachteil seiner 9-jährigen Tochter J. durch Oralverkehr und Beischlaf an einem Tag zwischen dem 10. April und dem 25. Mai 2009 (Fall 1 der Anklage) wird in den Urteilsgründen überhaupt nicht abgehandelt, so dass der Freispruch mangels nachprüfbarer Begründung durch das Revisionsgericht keinen Bestand haben kann.
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- b) Nichts anderes gilt im Ergebnis, soweit das Landgericht den entsprechenden Vorwurf des Einführens eines Fingers in die Scheide seiner Tochter J. am späten Abend des 2. Mai 2009 (Fall 3 der Anklage) aus tatsächlichen Gründen nach der Zeugnisverweigerung dieser Nebenklägerin in der Hauptverhandlung für nicht erwiesen erachtet hat. Hier fehlt jede Erörterung der von der Nebenklägerin V. T. geschilderten Beobachtung sexueller Handlungen an J. (UA S. 9). Die damals 11-jährige V. übernachtete nach den Urteilsfeststellungen in der Tatnacht neben ihrer Freundin J. auf derselben Couch, der Angeklagte legte sich zwischen die Mädchen, wandte sich zunächst J. zu und missbrauchte unmittelbar anschließend V. durch Lecken an ihrer Scheide, Einführen eines Fingers und anschließenden Beischlaf (Fall 4 der Anklage). Nachdem deswegen aufgrund der als glaubhaft erachteten Zeugenaussage der Nebenklägerin V. T. gegen den in der Hauptverhandlung pauschal bestreitenden Angeklagten der Schuldspruch nach § 176a StGB ergangen ist, bleibt ohne Auswertung der von derselben Zeugin bekundeten unmittelbar zuvor erfolgten Beobachtung der Tat zum Nachteil J. s der Freispruch wegen dieses Geschehens ebenfalls unzulänglich begründet.
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- 2. Auch die Schuldsprüche haben aus sachlichrechtlichen Gründen keinen Bestand.
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- a) Dies muss für den Schuldspruch nach § 176a StGB wegen der Tat zum Nachteil von V. T. schon deshalb gelten, weil die Annahme des Landgerichts von der Zuverlässigkeit ihrer Zeugenaussage unvollständig begründet bleibt, wenn es der von derselben Zeugin nach den Urteilsgründen klar und eindeutig geschilderten Beobachtung eines unmittelbar zuvor begangenen Missbrauchs zum Nachteil J. s nicht folgt. Hierin liegt ein mangels jeglicher Begründung unauflösbarer Widerspruch.
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- b) Abgesehen von dem engen zeitlichen und situativen Zusammenhang zwischen sämtlichen angeklagten Taten, der schon für sich eine Aufhebung auch der Schuldsprüche nach § 176 StGB – jeweils wegen Leckens an der Scheide der 7-jährigen Tochter Ja. am 1. Mai 2009 (Fall 2 der Anklage) und der 8-jährigen Tochter Je. am 3. Mai 2009 (Fall 5 der Anklage ) – nahelegt, erweist sich insoweit zudem die Beweisdecke nach der Zeugnisverweigerung auch dieser Nebenklägerinnen und dem pauschalen Bestreiten des Angeklagten vor dem Hintergrund der sonstigen Urteilslücken als nicht ganz ausreichend (vgl. im Einzelnen UA S. 23 f.).
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- 3. Bei dieser Sachlage bedarf die Frage keiner abschließenden Klärung , ob die Verfahrensrüge nach § 338 Nr. 5 StPO i.V.m. § 247 StPO wegen fortdauernder Abwesenheit des Angeklagten während der Entlassung der in seiner Abwesenheit zeugenschaftlich vernommenen Nebenklägerin V. T. im Anschluss an den Beschluss des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 21. April 2010 – GSSt 1/09 (NJW 2010, 2450, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt) Erfolg haben müsste. Nach der von der Revision mitgeteilten – aus dem Protokoll nicht hinreichend deutlich ersichtlichen – Videoübertragung der Vernehmung an den aus dem Sitzungssaal entfernten Angeklagten (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2006 – 1 StR 268/06, BGHSt 51, 180; Beschluss vom 5. Febru- ar 2002 – 5 StR 437/01, BGHR StPO § 247 Abwesenheit 25; Urteil vom 19. Juli 2001 – 4 StR 46/01, StV 2002, 10; aber auch Beschluss vom 26. August 2005 – 3 StR 269/05, BGHR StPO § 247 Abwesenheit 29; ferner Graf/Berg, StPO, § 247 Rn. 16; Becker in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 247 Rn. 48; jeweils mwN) könnte dessen Verzicht auf eine Befragung der Zeugin eine Heilung des Verstoßes (BGH, Beschluss vom 21. April 2010 – GSSt 1/09, NJW 2010, 2450 Rn. 25) begründen, wenngleich er vor der Unterrichtung nach § 247 Satz 4 StPO erklärt wurde.
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- Das neue Tatgericht wird zu beachten haben, dass die Urteilswendung zu fehlenden Anhaltspunkten für eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten (UA S. 7) bei den Hinweisen auf dessen Trunkenheit in der Zeugenaussage der Nebenklägerin V. T. (UA S. 9) und im Entschuldigungsschreiben des Angeklagten (UA S. 23) durchgreifend bedenklich ist.
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- Die Sachbehandlung durch das Landgericht gibt dem Senat Anlass für den nachdrücklichen Hinweis, dass gerade in Jugendschutzsachen Nachlässigkeiten bei der Verfahrensgestaltung nach § 247 StPO und bei deren Protokollierung wie bei der Urteilsfassung unbedingt zu vermeiden sind. Sie können allein zur Ursache von Neuverhandlungen werden, die regelmäßig mit einer besonderen Belastung kindlicher Zeugen einhergehen.
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- Möglicherweise wird sich eine solche hier verringern lassen, wenn der Angeklagte eingedenk der – im angefochtenen Urteil naheliegend nur unzulänglich ausgewerteten – Beweislage sein bisheriges Einlassungsverhalten überdenkt und dies zur Vermeidung die Nebenklägerinnen belastender Zeugenvernehmungen rechtzeitig vor der erneuten Hauptverhandlung signalisiert. Andernfalls wird das Prozessverhalten der Töchter des Angeklagten im Rahmen der Nebenklage zu überdenken sein; es erscheint wenig konsequent , wenn sie einerseits – wie auch die erfolgreiche Nebenklagerevision erweist – eine Verurteilung des Angeklagten anstreben, andererseits das Zeugnis verweigern und sich lediglich mit der beweismäßig von vornherein deutlich schwächeren Verwertung früherer Angaben einverstanden erklären, die zwar den Grundsätzen von BGH, Urteil vom 23. September 1999 – 4 StR 189/99, BGHSt 45, 203, entspricht, indes nicht einmal unumstritten ist (vgl. Sander/Cirener in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 252 Rn. 22 f. mwN; Basdorf in NJW-Festheft Tepperwien, 2010, S. 5).
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Annotations
(1) Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer
- 1.
sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt oder vor einem Kind von einer dritten Person an sich vornehmen lässt, - 2.
ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen vornimmt, soweit die Tat nicht nach § 176 Absatz 1 Nummer 1 oder Nummer 2 mit Strafe bedroht ist, oder - 3.
auf ein Kind durch einen pornographischen Inhalt (§ 11 Absatz 3) oder durch entsprechende Reden einwirkt.
(2) Ebenso wird bestraft, wer ein Kind für eine Tat nach Absatz 1 anbietet oder nachzuweisen verspricht oder wer sich mit einem anderen zu einer solchen Tat verabredet.
(3) Der Versuch ist in den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 und 2 strafbar. Bei Taten nach Absatz 1 Nummer 3 ist der Versuch in den Fällen strafbar, in denen eine Vollendung der Tat allein daran scheitert, dass der Täter irrig annimmt, sein Einwirken beziehe sich auf ein Kind.
(1) Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer
- 1.
sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt, - 2.
ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen an einer dritten Person vornimmt oder von einer dritten Person an sich vornehmen lässt, - 3.
ein Kind für eine Tat nach Nummer 1 oder Nummer 2 anbietet oder nachzuweisen verspricht.
(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 kann das Gericht von Strafe nach dieser Vorschrift absehen, wenn zwischen Täter und Kind die sexuelle Handlung einvernehmlich erfolgt und der Unterschied sowohl im Alter als auch im Entwicklungsstand oder Reifegrad gering ist, es sei denn, der Täter nutzt die fehlende Fähigkeit des Kindes zur sexuellen Selbstbestimmung aus.
Ein Urteil ist stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen,
- 1.
wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war; war nach § 222a die Mitteilung der Besetzung vorgeschrieben, so kann die Revision auf die vorschriftswidrige Besetzung nur gestützt werden, wenn - a)
das Gericht in einer Besetzung entschieden hat, deren Vorschriftswidrigkeit nach § 222b Absatz 2 Satz 2 oder Absatz 3 Satz 4 festgestellt worden ist, oder - b)
das Rechtsmittelgericht nicht nach § 222b Absatz 3 entschieden hat und - aa)
die Vorschriften über die Mitteilung verletzt worden sind, - bb)
der rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form geltend gemachte Einwand der vorschriftswidrigen Besetzung übergangen oder zurückgewiesen worden ist oder - cc)
die Besetzung nach § 222b Absatz 1 Satz 1 nicht mindestens eine Woche geprüft werden konnte, obwohl ein Antrag nach § 222a Absatz 2 gestellt wurde;
- 2.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen war; - 3.
wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, nachdem er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt war und das Ablehnungsgesuch entweder für begründet erklärt war oder mit Unrecht verworfen worden ist; - 4.
wenn das Gericht seine Zuständigkeit mit Unrecht angenommen hat; - 5.
wenn die Hauptverhandlung in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft oder einer Person, deren Anwesenheit das Gesetz vorschreibt, stattgefunden hat; - 6.
wenn das Urteil auf Grund einer mündlichen Verhandlung ergangen ist, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt sind; - 7.
wenn das Urteil keine Entscheidungsgründe enthält oder diese nicht innerhalb des sich aus § 275 Abs. 1 Satz 2 und 4 ergebenden Zeitraums zu den Akten gebracht worden sind; - 8.
wenn die Verteidigung in einem für die Entscheidung wesentlichen Punkt durch einen Beschluß des Gerichts unzulässig beschränkt worden ist.
Das Gericht kann anordnen, daß sich der Angeklagte während einer Vernehmung aus dem Sitzungszimmer entfernt, wenn zu befürchten ist, ein Mitangeklagter oder ein Zeuge werde bei seiner Vernehmung in Gegenwart des Angeklagten die Wahrheit nicht sagen. Das gleiche gilt, wenn bei der Vernehmung einer Person unter 18 Jahren als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten ein erheblicher Nachteil für das Wohl des Zeugen zu befürchten ist oder wenn bei einer Vernehmung einer anderen Person als Zeuge in Gegenwart des Angeklagten die dringende Gefahr eines schwerwiegenden Nachteils für ihre Gesundheit besteht. Die Entfernung des Angeklagten kann für die Dauer von Erörterungen über den Zustand des Angeklagten und die Behandlungsaussichten angeordnet werden, wenn ein erheblicher Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist. Der Vorsitzende hat den Angeklagten, sobald dieser wieder anwesend ist, von dem wesentlichen Inhalt dessen zu unterrichten, was während seiner Abwesenheit ausgesagt oder sonst verhandelt worden ist.