Bundesgerichtshof Urteil, 25. Okt. 2006 - 5 StR 316/06
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
für Recht erkannt:
a) soweit von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen worden ist,
b) im Strafausspruch, insoweit zugunsten des Angeklagten.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
– Von Rechts wegen – G r ü n d e
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- Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in sieben Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen (§§ 174 Abs. 1 Nr. 1, 176 Abs. 1, 176a Abs. 1 StGB jeweils a.F.) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und drei Monaten verurteilt, wobei unter Auflösung einer früheren Gesamtstrafe die früher verhängten Einzelstrafen (vier Jahre und sechs Monate sowie zweimal drei Monate) einbezo- gen worden sind. Die Revision der Staatsanwaltschaft richtet sich allein dagegen , dass das Landgericht die Anordnung der Sicherungsverwahrung abgelehnt hat. Das mit der Verletzung sachlichen Rechts begründete Rechtsmittel , das von der Bundesanwaltschaft vertreten wird, hat Erfolg; die Revision führt zugleich zugunsten des Angeklagten (§ 301 StPO) zur Aufhebung des Strafausspruchs, der mit der Frage der Anordnung von Sicherungsverwahrung inhaltlich verknüpft ist.
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- 1. Die Urteilsgründe weisen aus, dass die formellen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung nach § 66 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 StGB erfüllt sind (neu verhängte Einzelstrafen neun Monate, ein Jahr und neun Monate, fünfmal drei Jahre sowie drei Jahre und sechs Monate). Zum Hang im Sinne des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB hat das Landgericht den Sachverständigen P. gehört, der dem Angeklagten eine „gesteigerte sexuelle Triebhaftigkeit“ sowie „Anwendung von körperlicher Gewalt als Ausdruck von Impulsivität und mangelnder Bereitschaft zu rationaler Verhaltenskontrolle“ attestiert und einen Hang mit der Erwägung bejaht hat, dass „zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch unter Beachtung zunehmend krimineller Entwicklung , Ähnlichkeit der Straftaten, impulsiver Charakterstruktur und bisher missglückter Sozialisierung die Gefahr erheblicher rechtswidriger strafbarer Handlungen in bedeutsamem Maße wahrscheinlich“ sei. Gleichwohl hat die Strafkammer die Voraussetzungen eines Hanges verneint, weil unter anderem „die Missbrauchshandlungen im häuslichen Bereich typische Gelegenheitstaten“ seien, und darüber hinaus eine künftige Gefährlichkeit „im Hinblick auf das geringe Alter des Angeklagten und der Wirkungen des langjährigen Haftvollzuges mit der Möglichkeit sozialtherapeutischer Behandlung“ nicht bejaht.
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- Die Begründung, mit der das Landgericht den materiellen Anordnungsgrund nach § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB verneint und von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen hat, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Zwar ist der Tatrichter nicht gehindert, von dem Gutachten eines vernommenen Sachverständigen abzuweichen; denn dieses kann stets nur eine Grundlage der eigenen Überzeugungsbildung sein. Will der Tatrichter jedoch eine Frage, zu der er einen Sachverständigen gehört hat, im Widerspruch zu dessen Gutachten lösen, muss er sich in einer Weise mit den Darlegungen des Sachverständigen auseinandersetzen, die erkennen lässt, dass er mit Recht eigene Sachkunde in Anspruch genommen hat (vgl. BGH NStZ 2000, 550, 551; Schoreit in KK 5. Aufl. § 261 Rdn. 33 m.w.N.). Daran fehlt es hier.
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- a) Die Revision beanstandet mit Recht die nicht ausreichenden Ausführungen des Landgerichts zu der Wertung, dass es sich lediglich um „Gelegenheitstaten“ gehandelt habe und Symptomtaten nicht vorgelegen hätten. Die Strafkammer stellt entscheidend darauf ab, dass die Taten „innerhalb eines kurzen Zeitraums von ca. vier Monaten“ begangen wurden. Die „Missbrauchshandlungen im häuslichen Bereich (seien) typische Gelegenheitstaten , die durch die Autorität des Angeklagten im Familienverbund und die mangelnde Widerstandskraft des Opfers gekennzeichnet“ seien.
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- Alle abgeurteilten Missbrauchstaten betreffen Sexualdelikte, die sich in ähnlicher Weise angebahnt und zugetragen haben. Schon diese näheren Umstände der Taten lassen die Annahme von Gelegenheitstaten als fernliegend erscheinen. Darüber hinaus berücksichtigt das Landgericht nicht ausreichend, dass auch eine Gelegenheitstat eine Hang- bzw. Symptomtat sein kann. Die Anwendung des § 66 StGB ist unter dem Gesichtspunkt des Gelegenheitscharakters der Tat lediglich dann ausgeschlossen, wenn eine äußere Tatsituation oder Augenblickserregung die Tat allein verursacht hat (vgl. BGH MDR 1980, 326, 327; BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 7). Das angefochtene Urteil lässt zudem nicht erkennen, ob die Strafkammer bei der Gesamtwürdigung den Brief des Angeklagten an seine damalige Lebensgefährtin angemessen berücksichtigt hat. Darin heißt es hinsichtlich des seinerzeit 10-jährigen Tatopfers: „Wie Du ja weißt, möchte ich das nicht aufgeben, auch wenn ich mal gesagt hatte, dass damit Schluß wäre…“. In Bezug auf die seinerzeit 5-jährige Schwester des Tatopfers schreibt der Angeklagte: „ … wo es dabei um Biene geht. Das Du darüber nicht so begeistert warst, weiß ich ja. Denn wir hatten ja ausgemacht, dass es bei ihr nicht wird … Das Bienchen zu allem ja sagen würde, auch zu dem, wenn ich Sie das eine Fragen würde, glaub ich Dir. Denn Biene hängt ja total an mir.“ Weiterhin enthält der Brief folgende Passage: „Und deswegen hatte ich ja eigentlich gedacht, dass Sie deine Pille nehmen könnte. Aber Du hast mir ja heute gesagt, dass es nicht geht, weil die Pille zu stark wäre.“ Nach Bewertung des Sachverständigen lässt der Angeklagte in dem Brief Entschlossenheit zur Durchführung weiterer gleichartiger Missbrauchstaten gegenüber dem Opfer und zusätzlich noch gegenüber dessen jüngerer Schwester erkennen. Angaben dazu, ob überhaupt und wie sich der Angeklagte hiervon in der Hauptverhandlung überzeugend distanziert hat, fehlen.
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- b) Auch die Hilfserwägungen des Landgerichts zur Ermessensausübung sind unter diesen Umständen unzureichend. Insbesondere die Annahme des Landgerichts, die zu erwartenden Wirkungen des Strafvollzugs würden eine gefahrenreduzierende Verhaltensänderung zu Gunsten des Angeklagten bewirken, ist nicht ausreichend begründet. Ohne zu wissen, wie sich der Angeklagte zu seinen in dem genannten Brief geäußerten Wünschen und Vorstellungen nunmehr verhält, kann eine derartige Prognose nicht sachgerecht gestellt werden. Auch die vom Angeklagten gegenüber der Anstaltspsychologin erklärte Therapiebereitschaft ist wenig aussagekräftig, da die Bewertungen des psychiatrischen Sachverständigen und der Anstaltspsychologin hierzu im Urteil nicht mitgeteilt werden.
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- c) Bei dieser Sachlage kann die Begründung für die beanstandete Ablehnung der Maßregelanordnung gegen den jetzt 26-jährigen Angeklagten – auch angesichts ähnlich motivierter Taten zum Nachteil derselben Ge- schädigten (vgl. zu diesem Gesichtspunkt auch BGHR StGB § 66 Abs. 1 Hang 10) – nicht genügen.
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- 2. Die daher gebotene Aufhebung des Urteils, soweit von der Anordnung der Sicherungsverwahrung abgesehen worden ist, führt – allein zugunsten (§ 301 StPO) des Angeklagten – zur Aufhebung der hier verhängten Einzelstrafen und des Gesamtstrafausspruchs. Die Strafzumessung ist zwar für sich nicht zu beanstanden; der Angeklagte ist für seine Taten zu Recht schwer bestraft worden. Im Hinblick auf die Erwägungen des Urteils zu den möglichen Auswirkungen des Vollzugs der Strafe vermag der Senat aber nicht auszuschließen, dass die Strafen niedriger bemessen worden wären, wenn das Landgericht zugleich auf Sicherungsverwahrung erkannt hätte (vgl. BGHR § 66 Abs. 1 Gefährlichkeit 1, 2).
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(1) Wer sexuelle Handlungen
- 1.
an einer Person unter achtzehn Jahren, die ihm zur Erziehung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist, - 2.
an einer Person unter achtzehn Jahren, die ihm im Rahmen eines Ausbildungs-, Dienst- oder Arbeitsverhältnisses untergeordnet ist, unter Missbrauch einer mit dem Ausbildungs-, Dienst- oder Arbeitsverhältnis verbundenen Abhängigkeit oder - 3.
an einer Person unter achtzehn Jahren, die sein leiblicher oder rechtlicher Abkömmling ist oder der seines Ehegatten, seines Lebenspartners oder einer Person, mit der er in eheähnlicher oder lebenspartnerschaftsähnlicher Gemeinschaft lebt,
(2) Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren wird eine Person bestraft, der in einer dazu bestimmten Einrichtung die Erziehung, Ausbildung oder Betreuung in der Lebensführung von Personen unter achtzehn Jahren anvertraut ist, und die sexuelle Handlungen
- 1.
an einer Person unter sechzehn Jahren, die zu dieser Einrichtung in einem Rechtsverhältnis steht, das ihrer Erziehung, Ausbildung oder Betreuung in der Lebensführung dient, vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt oder - 2.
unter Ausnutzung ihrer Stellung an einer Person unter achtzehn Jahren, die zu dieser Einrichtung in einem Rechtsverhältnis steht, das ihrer Erziehung, Ausbildung oder Betreuung in der Lebensführung dient, vornimmt oder an sich von ihr vornehmen lässt.
(3) Wer unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 oder 2
- 1.
sexuelle Handlungen vor dem Schutzbefohlenen vornimmt, um sich oder den Schutzbefohlenen hierdurch sexuell zu erregen, oder - 2.
den Schutzbefohlenen dazu bestimmt, daß er sexuelle Handlungen vor ihm vornimmt,
(4) Der Versuch ist strafbar.
(5) In den Fällen des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 1, des Absatzes 2 Satz 1 Nummer 1 oder des Absatzes 3 in Verbindung mit Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 oder mit Absatz 2 Satz 1 Nummer 1 kann das Gericht von einer Bestrafung nach dieser Vorschrift absehen, wenn das Unrecht der Tat gering ist.
Jedes von der Staatsanwaltschaft eingelegte Rechtsmittel hat die Wirkung, daß die angefochtene Entscheidung auch zugunsten des Beschuldigten abgeändert oder aufgehoben werden kann.
(1) Das Gericht ordnet neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn
- 1.
jemand zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilt wird, die - a)
sich gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung richtet, - b)
unter den Ersten, Siebenten, Zwanzigsten oder Achtundzwanzigsten Abschnitt des Besonderen Teils oder unter das Völkerstrafgesetzbuch oder das Betäubungsmittelgesetz fällt und im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht ist oder - c)
den Tatbestand des § 145a erfüllt, soweit die Führungsaufsicht auf Grund einer Straftat der in den Buchstaben a oder b genannten Art eingetreten ist, oder den Tatbestand des § 323a, soweit die im Rausch begangene rechtswidrige Tat eine solche der in den Buchstaben a oder b genannten Art ist,
- 2.
der Täter wegen Straftaten der in Nummer 1 genannten Art, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, - 3.
er wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und - 4.
die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich ist.
(2) Hat jemand drei Straftaten der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 genannten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzung neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen.
(3) Wird jemand wegen eines die Voraussetzungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Buchstabe a oder b erfüllenden Verbrechens oder wegen einer Straftat nach § 89a Absatz 1 bis 3, § 89c Absatz 1 bis 3, § 129a Absatz 5 Satz 1 erste Alternative, auch in Verbindung mit § 129b Absatz 1, den §§ 174 bis 174c, 176a, 176b, 177 Absatz 2 Nummer 1, Absatz 3 und 6, §§ 180, 182, 224, 225 Abs. 1 oder 2 oder wegen einer vorsätzlichen Straftat nach § 323a, soweit die im Rausch begangene Tat eine der vorgenannten rechtswidrigen Taten ist, zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so kann das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen, wenn der Täter wegen einer oder mehrerer solcher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon einmal zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist und die in Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 und 4 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Hat jemand zwei Straftaten der in Satz 1 bezeichneten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter den in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzungen neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen. Die Absätze 1 und 2 bleiben unberührt.
(4) Im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 2 gilt eine Verurteilung zu Gesamtstrafe als eine einzige Verurteilung. Ist Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung auf Freiheitsstrafe angerechnet, so gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 3. Eine frühere Tat bleibt außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind; bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung beträgt die Frist fünfzehn Jahre. In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. Eine Tat, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes abgeurteilt worden ist, steht einer innerhalb dieses Bereichs abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem Strafrecht eine Straftat der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, in den Fällen des Absatzes 3 der in Absatz 3 Satz 1 bezeichneten Art wäre.
Jedes von der Staatsanwaltschaft eingelegte Rechtsmittel hat die Wirkung, daß die angefochtene Entscheidung auch zugunsten des Beschuldigten abgeändert oder aufgehoben werden kann.