Bundesgerichtshof Urteil, 20. März 2008 - 4 StR 5/08

published on 20/03/2008 00:00
Bundesgerichtshof Urteil, 20. März 2008 - 4 StR 5/08
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Gericht


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
4 StR 5/08
vom
20. März 2008
in der Strafsache
gegen
wegen Verdachts des sexuellen Missbrauchs einer Schutzbefohlenen u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 20. März
2008, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Tepperwien,
Richter am Bundesgerichtshof
Maatz,
Prof. Dr. Kuckein,
Richterinnen am Bundesgerichtshof
Solin-Stojanović,
Sost-Scheible
als beisitzende Richter,
Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwältin
als Vertreterin der Nebenklägerin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
1. Auf die Revision der Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Detmold vom 7. September 2007 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten von dem Anklagevorwurf, "in der Zeit von Anfang April 2005 bis zum 1. Dezember 2005 in elf Fällen sexuelle Handlungen an der am 7. Mai 1991 geborenen Selina F., die ihm zur Erziehung und zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut war, vorgenommen zu haben" , wobei es "auch zum vaginalen Geschlechtsverkehr gekommen" sei, aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Hiergegen wendet sich die Nebenklägerin mit ihrer Revision, mit der sie die Verletzung sachlichen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
2
1. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen war der Angeklagte seit dem erfolgreichen Abschluss des Sozialpädagogik-Studiums im April 1999 Erzieher im -Kinderheim in P. . Ab Sommer 2005 wurde er mit der Funktion eines sog. Bezugserziehers für die seinerzeit 14jährige Nebenklägerin Selina F. betraut, die sich bereits seit ihrem 7. Lebensjahr in Kinderheimen befand und wegen ihrer Unbeherrschtheit ein "nicht einfa- ches" Kind war. Selina F. reagierte auf die Übernahme der Funktion ihres Bezugserziehers durch den sehr beliebten Angeklagten mit Freude. Der Angeklagte seinerseits empfand diese Aufgabe als echte Herausforderung und investierte in die Betreuung von Selina F. derart auffällig viel Zeit, dass sich seine Kollegen veranlasst sahen, ihm gegenüber mehr professionelle Distanz zu seinem Schützling anzumahnen. Des Weiteren teilt das Urteil in tatsächlicher Hinsicht im Wesentlichen lediglich die Entstehung der von der Nebenklägerin gegenüber dem Angeklagten erhobenen Anschuldigung, sie "vergewaltigt" zu haben, mit. Zum Tatvorwurf selbst beschränkt sich das Landgericht vielmehr auf die pauschale Mitteilung, der Angeklagte habe von Anfang an abgestritten, die ihm zur Last gelegten Taten begangen zu haben. Objektive Beweise lägen nicht vor. Er werde allein durch die Aussage Selinas belastet, die angegeben habe, der Angeklagte habe ca. 15-mal den vaginalen Geschlechtsverkehr mit ihr ausgeführt, immer in ihrem Hochbett, immer während seines Nachtdienstes - meist am Wochenende ; in drei bis vier Fällen habe sie ihn manuell befriedigt. Sodann erörtert das Urteil einige Widersprüche in den Aussagen der Nebenklägerin, die die Jugendschutzkammer als derart gravierend erachtet, dass demgegenüber das Gutachten der Sachverständigen Dr. U. nicht zu überzeugen vermöge, die zu dem Ergebnis gelangt sei, dass die Aussage Selinas mit hoher Wahrscheinlichkeit nur durch die Annahme eines realen Erlebnishintergrundes zu erklären sei.
3
2. Das angefochtene Urteil wird bereits den formellen Anforderungen, die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs an ein freisprechendes Urteil zu stellen sind, nicht gerecht und unterliegt schon deshalb der Aufhebung.
4
Bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen muss der Tatrichter zunächst in einer geschlossenen Darstellung diejenigen Tatsachen feststellen, die er für erwiesen hält, bevor er in der Beweiswürdigung darlegt, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen - zusätzlichen Feststellungen nicht getroffen werden können (st. Rspr.; vgl. BGH NJW 1980, 2423; NStZ 1985, 184; BGHR StPO § 267 Abs. 5 Freispruch 4, 10; BGH, Urteil vom 26. November 2003 - 2 StR 293/03).
5
Diese gebotene Darstellung der festgestellten Tatsachen enthält das angefochtene Urteil nicht. Schon der Tatvorwurf lässt sich dem Urteil nicht hinreichend deutlich entnehmen, zumal es keinerlei zusammenfassende Darstellung der Bekundungen der Nebenklägerin und der Einlassung des Angeklagten enthält. Diese war hier umso mehr erforderlich, als Selina bei ihrer ersten Offenbarung behauptet hatte, von dem Angeklagten "vergewaltigt" worden zu sein, während in ihrer jetzigen Aussage ersichtlich von einer Vergewaltigung nicht mehr die Rede ist. Auch bleibt unklar, worauf die - zudem in der Anklage und der jetzigen Aussage der Nebenklägerin unterschiedliche - Anzahl der dem Angeklagten angelasteten sexuellen Übergriffe beruht. Schließlich fällt auch auf, dass die Anklage von einem Tatzeitraum von April 2005 ausgeht, während nach den Feststellungen der Angeklagte erst seit dem Sommer 2005 Bezugserzieher der Nebenklägerin wurde.
6
Der Pflicht zur gebotenen geschlossenen Darstellung sowohl der Opferaussage als auch der Einlassung des Angeklagten zu den Tatvorwürfen konnte sich der Tatrichter auch nicht dadurch entziehen, dass er einige Argumente gegen die Glaubhaftigkeit der Aussage der Nebenklägerin angeführt hat. Denn die Widersprüche stellen nur einen Ausschnitt aus der gebotenen, aber fehlenden Gesamtwürdigung dar. In diesem Zusammenhang hätte es insbesondere auch einer eingehenderen Auseinandersetzung mit dem Sachverständigengutachten bedurft. Die knappen Ausführungen im angefochtenen Urteil dazu genügen nicht. Vielmehr muss der Tatrichter, der in einer schwierigen Frage den Rat ei- nes Sachverständigen in Anspruch genommen hat und der diese Frage in Widerspruch zu dem Gutachten lösen will, die Darlegungen des Sachverständigen im Einzelnen wiedergeben, insbesondere dessen Stellungnahme zu den Gesichtspunkten , auf welche das Gericht seine abweichende Auffassung stützt (st. Rspr.; BGHR StPO § 261 Sachverständiger 5 und 9 m.w.N.).
7
Die Sache bedarf deshalb insgesamt neuer tatrichterlicher Verhandlung und Entscheidung.
Tepperwien Maatz Kuckein
Solin-Stojanović Sost-Scheible
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Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

(1) Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese
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Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.

(1) Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese
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Annotations

(1) Wird der Angeklagte verurteilt, so müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen angeben, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Soweit der Beweis aus anderen Tatsachen gefolgert wird, sollen auch diese Tatsachen angegeben werden. Auf Abbildungen, die sich bei den Akten befinden, kann hierbei wegen der Einzelheiten verwiesen werden.

(2) Waren in der Verhandlung vom Strafgesetz besonders vorgesehene Umstände behauptet worden, welche die Strafbarkeit ausschließen, vermindern oder erhöhen, so müssen die Urteilsgründe sich darüber aussprechen, ob diese Umstände für festgestellt oder für nicht festgestellt erachtet werden.

(3) Die Gründe des Strafurteils müssen ferner das zur Anwendung gebrachte Strafgesetz bezeichnen und die Umstände anführen, die für die Zumessung der Strafe bestimmend gewesen sind. Macht das Strafgesetz Milderungen von dem Vorliegen minder schwerer Fälle abhängig, so müssen die Urteilsgründe ergeben, weshalb diese Umstände angenommen oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen verneint werden; dies gilt entsprechend für die Verhängung einer Freiheitsstrafe in den Fällen des § 47 des Strafgesetzbuches. Die Urteilsgründe müssen auch ergeben, weshalb ein besonders schwerer Fall nicht angenommen wird, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen nach dem Strafgesetz in der Regel ein solcher Fall vorliegt; liegen diese Voraussetzungen nicht vor, wird aber gleichwohl ein besonders schwerer Fall angenommen, so gilt Satz 2 entsprechend. Die Urteilsgründe müssen ferner ergeben, weshalb die Strafe zur Bewährung ausgesetzt oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen nicht ausgesetzt worden ist; dies gilt entsprechend für die Verwarnung mit Strafvorbehalt und das Absehen von Strafe. Ist dem Urteil eine Verständigung (§ 257c) vorausgegangen, ist auch dies in den Urteilsgründen anzugeben.

(4) Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel oder wird innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt, so müssen die erwiesenen Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden, und das angewendete Strafgesetz angegeben werden; bei Urteilen, die nur auf Geldstrafe lauten oder neben einer Geldstrafe ein Fahrverbot oder die Entziehung der Fahrerlaubnis und damit zusammen die Einziehung des Führerscheins anordnen, oder bei Verwarnungen mit Strafvorbehalt kann hierbei auf den zugelassenen Anklagesatz, auf die Anklage gemäß § 418 Abs. 3 Satz 2 oder den Strafbefehl sowie den Strafbefehlsantrag verwiesen werden. Absatz 3 Satz 5 gilt entsprechend. Den weiteren Inhalt der Urteilsgründe bestimmt das Gericht unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nach seinem Ermessen. Die Urteilsgründe können innerhalb der in § 275 Abs. 1 Satz 2 vorgesehenen Frist ergänzt werden, wenn gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt wird.

(5) Wird der Angeklagte freigesprochen, so müssen die Urteilsgründe ergeben, ob der Angeklagte für nicht überführt oder ob und aus welchen Gründen die für erwiesen angenommene Tat für nicht strafbar erachtet worden ist. Verzichten alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel oder wird innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt, so braucht nur angegeben zu werden, ob die dem Angeklagten zur Last gelegte Straftat aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht festgestellt worden ist. Absatz 4 Satz 4 ist anzuwenden.

(6) Die Urteilsgründe müssen auch ergeben, weshalb eine Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet, eine Entscheidung über die Sicherungsverwahrung vorbehalten oder einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen nicht angeordnet oder nicht vorbehalten worden ist. Ist die Fahrerlaubnis nicht entzogen oder eine Sperre nach § 69a Abs. 1 Satz 3 des Strafgesetzbuches nicht angeordnet worden, obwohl dies nach der Art der Straftat in Betracht kam, so müssen die Urteilsgründe stets ergeben, weshalb die Maßregel nicht angeordnet worden ist.

Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.