Bundesgerichtshof Beschluss, 08. Juni 2011 - XII ZB 43/11

published on 08/06/2011 00:00
Bundesgerichtshof Beschluss, 08. Juni 2011 - XII ZB 43/11
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Amtsgericht Prenzlau, XVII H 106/09, 10/11/2010
Landgericht Neuruppin, 5 T 260/10, 06/01/2011

Gericht


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
XII ZB 43/11
vom
8. Juni 2011
in der Betreuungssache
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja

a) Sieht das Betreuungsgericht von der vollständigen schriftlichen Bekanntgabe eines
Gutachtens an den Betroffenen ab, weil zu besorgen ist, dass die Bekanntgabe
die Gesundheit des Betroffenen schädigen oder zumindest ernsthaft gefährden
werde, muss ein Verfahrenspfleger bestellt, diesem das Gutachten übergeben
werden und die Erwartung gerechtfertigt sein, dass der Verfahrenspfleger mit dem
Betroffenen über das Gutachten spricht (im Anschluss an Senatsbeschluss vom
11. August 2010 - XII ZB 138/10 - BtPrax 2010, 278).

b) Die Entlassung des bisherigen Betreuers gemäß § 1908 b Abs. 1 BGB wird nicht
von den §§ 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, 271 Nr. 1 FamFG erfasst (im Anschluss an Senatsbeschluss
vom 18. Mai 2011 - XII ZB 671/10).
BGH, Beschluss vom 8. Juni 2011 - XII ZB 43/11 - LG Neuruppin
AG Prenzlau
Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 8. Juni 2011 durch die Vorsitzende
Richterin Dr. Hahne, die Richterin Weber-Monecke und die Richter
Dr. Klinkhammer, Dr. Günter und Dr. Nedden-Boeger

beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Neuruppin vom 6. Januar 2011 aufgehoben. Das Verfahren wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an das Landgericht zurückverwiesen. Wert: 3.000 €

Gründe:


I.

1
Für den Betroffenen besteht seit Januar 2010 eine Betreuung. Er leidet an einem hirnorganischen Psychosyndrom als Folge einer Langzeitbeatmung.
2
Das Amtsgericht bestellte die weitere Beteiligte als Betreuerin in den Aufgabenkreisen Regelung von Wohnungs-, Heim- und Behördenangelegenheiten und Vermögenssorge. Mit Schreiben vom 25. August 2010 regte die Betreuerin die Erweiterung der Betreuung auf den Aufgabenkreis Gesundheitsfür- sorge und die Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts für Vermögenssorge an.
3
Das Amtsgericht hat nach Einholung eines schriftlichen Sachverständigengutachtens , welches dem Betroffenen nur im Ergebnis und nur mündlich mitgeteilt wurde, die Betreuung um den Aufgabenkreis Gesundheitsfürsorge erweitert und einen Einwilligungsvorbehalt für die Vermögenssorge angeordnet. Die dagegen vom Betroffenen persönlich eingelegte Beschwerde, mit der er außerdem die Entlassung der Vereinsbetreuerin und die Bestellung des Rechtsanwalts H. B. aus T. an deren Stelle verlangt, hat das Landgericht ohne erneute Anhörung zurückgewiesen. Einen Verfahrenspfleger hat weder das Amtsgericht noch das Landgericht bestellt. Das Amtsgericht hat dies damit begründet, dass der Betroffene an der Bestellung eines Verfahrenspflegers kein Interesse habe, denn durch die Anordnung der Betreuung werde sich die konkrete Lebenssituation des Betroffenen nicht ändern. Das Landgericht hat das Absehen von der Bestellung eines Verfahrenspflegers nicht begründet.
4
Mit seiner Rechtsbeschwerde verfolgt der Betroffene die Zurückweisung der Anträge der Betreuerin sowie deren Entlassung aus dem Amt weiter.

II.

5
1. Die Rechtsbeschwerde ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FamFG statthaft , soweit mit ihr die Erweiterung der Aufgabenkreise und die Anordnung des Einwilligungsvorbehalts angegriffen wird, und auch sonst zulässig. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
6
Die angefochtene Entscheidung verletzt - wie von der Rechtsbeschwerde zutreffend gerügt - das Recht des Betroffenen auf rechtliches Gehör.
7
Das Amtsgericht hat seinen Beschluss tragend auf ein Gutachten gestützt , das der Facharzt Dr. D. am 19. Oktober 2010 erstattet hat. Entsprechend der Empfehlung des Gutachters ist das Gutachten dem Betroffenen nicht ausgehändigt worden, um das paranoide Erleben des Betroffenen nicht zu verstärken.
8
Zwar kann von der vollständigen schriftlichen Bekanntgabe eines Gutachtens abgesehen werden, wenn zu besorgen ist, die Bekanntgabe werde die Gesundheit des Betroffenen schädigen oder zumindest ernsthaft gefährden. In einem solchen Fall muss jedoch ein Verfahrenspfleger bestellt werden, diesem das Gutachten übergeben werden und die Erwartung gerechtfertigt sein, dass der Verfahrenspfleger mit dem Betroffenen über das Gutachten spricht (Senatsbeschluss vom 11. August 2010 - XII ZB 138/10 - BtPrax 2010, 278 mwN). Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Betroffene nicht anwaltlich vertreten ist. Im vorliegenden Verfahren war für den anwaltlich nicht vertretenen Betroffenen kein Verfahrenspfleger bestellt.
9
Dem angefochtenen Beschluss sind mithin Tatsachen zugrunde gelegt worden, zu denen der Betroffene sich - mangels Kenntnis - weder selbst noch durch einen Verfahrenspfleger oder Verfahrensbevollmächtigten äußern konnte.
10
2. Nicht statthaft ist die Rechtsbeschwerde, soweit der Betroffene mit ihr die Entlassung der Vereinsbetreuerin und die Bestellung eines von ihm benannten Rechtsanwalts an deren Stelle weiterverfolgt. Denn insoweit liegen die Voraussetzungen für eine zulassungsfreie Rechtsbeschwerde nicht vor (Senatsbeschlüsse vom 9. Februar 2011 - XII ZB 364/10 - FamRZ 2011, 632 Rn. 9; vom 18. Mai 2011 - XII ZB 671/10 - und vom 25. Mai 2011 - XII ZB 283/10).
11
Abgesehen davon ist die Entlassung der Vereinsbetreuerin bereits nicht Verfahrensgegenstand der Rechtsbeschwerde geworden. Denn Gegenstand des Beschwerdeverfahrens kann grundsätzlich nur der Verfahrensgegenstand sein, über den im ersten Rechtszug entschieden worden ist. Das ergibt sich aus dem Wesen des Rechtsmittelverfahrens, das notwendigerweise keine andere Angelegenheit betreffen darf als diejenige, die Gegenstand der angefochtenen Entscheidung gewesen ist (Senatsbeschluss vom 5. Januar 2011 - XII ZB 240/10 - FamRZ 2011, 367 Rn. 7 mwN).
12
Verfahrensgegenstand im ersten Rechtszug waren hier allein die Erweiterung der Betreuung um den Aufgabenkreis der Gesundheitsfürsorge und die Anordnung des Einwilligungsvorbehalts (§§ 1896 Abs. 1, 1903 Abs. 1 BGB). Nur darüber hat das Betreuungsgericht im ersten Rechtszug entschieden und nur dieser Gegenstand ist in der Beschwerdeinstanz angefallen. Daran ändert auch nichts, dass der angefochtene Beschluss abseits des Beschwerdegegenstandes Ausführungen zur Veranlassung eines Betreuerwechsels enthält.
13
Der Antrag des Betroffenen auf Betreuerwechsel ist in erster Instanz noch nicht behandelt und beschieden. Der Nichtabhilfebeschluss des Amtsgerichts vom 14. Dezember 2010 stellt keine Entscheidung über den selbständigen Antrag auf Betreuerwechsel dar. Diese steht vielmehr noch aus, und zwar auf der Grundlage nicht nur des § 1908 b Abs. 1 BGB, sondern insbesondere des § 1908 b Abs. 3 BGB. Zweifel an der Eignung des vom Betroffenen selbst vorgeschlagenen Rechtsanwalts als Betreuer sind bisher nicht aktenkundig.
Hahne Weber-Monecke Klinkhammer Günter Nedden-Boeger
Vorinstanzen:
AG Prenzlau, Entscheidung vom 10.11.2010 - 9 XVII H 106/09 -
LG Neuruppin, Entscheidung vom 06.01.2011 - 5 T 260/10 -
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(1) Die Rechtsbeschwerde eines Beteiligten ist statthaft, wenn sie das Beschwerdegericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug in dem Beschluss zugelassen hat. (2) Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen, wenn 1. die Rechtssache grundsätzlic

Betreuungssachen sind1.Verfahren zur Bestellung eines Betreuers und zur Aufhebung der Betreuung,2.Verfahren zur Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts sowie3.sonstige Verfahren, die die rechtliche Betreuung eines Volljährigen (§§ 1814 bis 1881 des B
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(1) Die Rechtsbeschwerde eines Beteiligten ist statthaft, wenn sie das Beschwerdegericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug in dem Beschluss zugelassen hat. (2) Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen, wenn 1. die Rechtssache grundsätzlic

Betreuungssachen sind1.Verfahren zur Bestellung eines Betreuers und zur Aufhebung der Betreuung,2.Verfahren zur Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts sowie3.sonstige Verfahren, die die rechtliche Betreuung eines Volljährigen (§§ 1814 bis 1881 des B
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published on 25/05/2011 00:00

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS XII ZB 283/10 vom 25. Mai 2011 in der Betreuungssache Nachschlagewerk: ja BGHZ: nein BGHR: ja FamFG §§ 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, 271 Nr. 1; BGB §§ 1899 Abs. 4, 1908 i; 1795 Abs. 1, 1796 Die Bestellung ein
published on 09/02/2011 00:00

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS XII ZB 364/10 vom 9. Februar 2011 in der Betreuungssache Nachschlagewerk: ja BGHZ: nein BGHR: ja FamFG §§ 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, 271 Nr. 1 und 2; BGB §§ 1908 b, 1908 c Die Entlassung des bisherigen Betre
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Annotations

(1) Die Rechtsbeschwerde eines Beteiligten ist statthaft, wenn sie das Beschwerdegericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug in dem Beschluss zugelassen hat.

(2) Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.
Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die Zulassung gebunden.

(3) Die Rechtsbeschwerde gegen einen Beschluss des Beschwerdegerichts ist ohne Zulassung statthaft in

1.
Betreuungssachen zur Bestellung eines Betreuers, zur Aufhebung einer Betreuung, zur Anordnung oder Aufhebung eines Einwilligungsvorbehalts,
2.
Unterbringungssachen und Verfahren nach § 151 Nr. 6 und 7 sowie
3.
Freiheitsentziehungssachen.
In den Fällen des Satzes 1 Nr. 2 und 3 gilt dies nur, wenn sich die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss richtet, der die Unterbringungsmaßnahme oder die Freiheitsentziehung anordnet. In den Fällen des Satzes 1 Nummer 3 ist die Rechtsbeschwerde abweichend von Satz 2 auch dann ohne Zulassung statthaft, wenn sie sich gegen den eine freiheitsentziehende Maßnahme ablehnenden oder zurückweisenden Beschluss in den in § 417 Absatz 2 Satz 2 Nummer 5 genannten Verfahren richtet.

(4) Gegen einen Beschluss im Verfahren über die Anordnung, Abänderung oder Aufhebung einer einstweiligen Anordnung oder eines Arrests findet die Rechtsbeschwerde nicht statt.

Betreuungssachen sind

1.
Verfahren zur Bestellung eines Betreuers und zur Aufhebung der Betreuung,
2.
Verfahren zur Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts sowie
3.
sonstige Verfahren, die die rechtliche Betreuung eines Volljährigen (§§ 1814 bis 1881 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) betreffen, soweit es sich nicht um eine Unterbringungssache handelt.

(1) Die Rechtsbeschwerde eines Beteiligten ist statthaft, wenn sie das Beschwerdegericht oder das Oberlandesgericht im ersten Rechtszug in dem Beschluss zugelassen hat.

(2) Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.
Das Rechtsbeschwerdegericht ist an die Zulassung gebunden.

(3) Die Rechtsbeschwerde gegen einen Beschluss des Beschwerdegerichts ist ohne Zulassung statthaft in

1.
Betreuungssachen zur Bestellung eines Betreuers, zur Aufhebung einer Betreuung, zur Anordnung oder Aufhebung eines Einwilligungsvorbehalts,
2.
Unterbringungssachen und Verfahren nach § 151 Nr. 6 und 7 sowie
3.
Freiheitsentziehungssachen.
In den Fällen des Satzes 1 Nr. 2 und 3 gilt dies nur, wenn sich die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss richtet, der die Unterbringungsmaßnahme oder die Freiheitsentziehung anordnet. In den Fällen des Satzes 1 Nummer 3 ist die Rechtsbeschwerde abweichend von Satz 2 auch dann ohne Zulassung statthaft, wenn sie sich gegen den eine freiheitsentziehende Maßnahme ablehnenden oder zurückweisenden Beschluss in den in § 417 Absatz 2 Satz 2 Nummer 5 genannten Verfahren richtet.

(4) Gegen einen Beschluss im Verfahren über die Anordnung, Abänderung oder Aufhebung einer einstweiligen Anordnung oder eines Arrests findet die Rechtsbeschwerde nicht statt.