Bundesgerichtshof Beschluss, 09. Nov. 2010 - VI ZR 249/09

published on 09/11/2010 00:00
Bundesgerichtshof Beschluss, 09. Nov. 2010 - VI ZR 249/09
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Landgericht Wuppertal, 5 O 5/05, 07/08/2007
Oberlandesgericht Düsseldorf, 8 U 132/07, 09/07/2009

Gericht


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
VI ZR 249/09
vom
9. November 2010
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja

a) Die mögliche mangelnde Prozessfähigkeit des Klägers führt nicht zur Unzulässigkeit
der Nichtzulassungsbeschwerde. Für den Streit über die Prozessfähigkeit ist
die davon betroffene Partei als prozessfähig anzusehen.

b) Das Gericht muss dafür Sorge tragen, dass einem prozessunfähigen Kläger ermöglicht
wird, für eine ordnungsgemäße Vertretung zu sorgen (im Anschluss an
BAG, Beschluss vom 28. Mai 2009 - 6 AZN 17/09, NJW 2009, 3051).
BGH, Beschluss vom 9. November 2010 - VI ZR 249/09 - OLG Düsseldorf
LG Wuppertal
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 9. November 2010 durch
den Vorsitzenden Richter Galke, die Richter Zoll, Wellner, die Richterin
Diederichsen und den Richter Stöhr

beschlossen:
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 9. Juli 2009 aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Gegenstandswert: 25.000 €

Gründe:

1
1. Der Kläger nimmt den Beklagten, einen niedergelassenen Arzt für Radiologie , wegen vermeintlicher Behandlungs- und Aufklärungsfehler im Zusammenhang mit einer Angiographie in Anspruch. Der Beklagte ist den Vorwürfen entgegengetreten und hat unter anderem die Prozessfähigkeit des Klägers bestritten. Durch Zwischenurteil hat das Landgericht die Prozessfähigkeit des Klägers festgestellt. Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberlandesgericht das Zwischenurteil des Landgerichts aufgehoben und die Klage als unzulässig abgewiesen. Da es gegen sein Urteil die Revision nicht zugelassen hat, beantragt der Kläger mit der vorliegenden Nichtzulassungsbeschwerde die Zulas- sung der Revision durch das Revisionsgericht, um sein Klagebegehren weiterzuverfolgen.
2
2. Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt, indem es die Klage wegen mangelnder Prozessfähigkeit des Klägers als unzulässig abgewiesen hat, ohne ihm Gelegenheit zu geben, die Bestellung eines Betreuers durch das Vormundschaftsgericht nach § 1896 BGB zu erwirken und dadurch seine prozessualen Rechte wahrzunehmen.
3
a) Die mögliche mangelnde Prozessfähigkeit des Klägers führt nicht zur Unzulässigkeit der Nichtzulassungsbeschwerde. Für den Streit über die Prozessfähigkeit ist die davon betroffene Partei als prozessfähig anzusehen (vgl. BGH, Urteil vom 23. Februar 1990 - V ZR 188/88, BGHZ 110, 294, 295; BAG, Urteil vom 20. Januar 2000 - 2 AZR 733/98, BAGE 93, 248, 251).
4
b) Die Prozessfähigkeit ist zwingende Prozessvoraussetzung. Bestehen konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Partei prozessunfähig sein könnte, hat deshalb das jeweils mit der Sache befasste Gericht von Amts wegen zu ermitteln , ob Prozessunfähigkeit vorliegt. Dabei ist es nicht an die förmlichen Beweismittel des Zivilprozesses gebunden, vielmehr gilt der Grundsatz des Freibeweises. Verbleiben nach Erschöpfung aller erschließbaren Erkenntnisse hinreichende Anhaltspunkte für eine Prozessunfähigkeit, so gehen nach ständiger Rechtsprechung etwa noch vorhandene Zweifel zu Lasten der betroffenen Partei (vgl. Senatsurteil vom 9. Januar 1996 - VI ZR 94/95, NJW 1996, 1059, 1060; BGH, Urteil vom 4. November 1999 - III ZR 306/98, BGHZ 143, 122, 124; BAG, Urteil vom 20. Januar 2000 - 2 AZR 733/98, BAGE 93, 248, 251 und BAG, Beschluss vom 28. Mai 2009 - 6 AZN 17/09, NJW 2009, 3051 Rn. 4).
5
c) Das Berufungsgericht ist im Streitfall zwar zutreffend von den Grundsätzen des Senatsurteils vom 9. Januar 1996 - VI ZR 94/95, aaO ausgegangen. Es hatte aufgrund der realitätsfernen Angaben des Klägers zu seiner Lebensgeschichte und dessen Verhalten in der mündlichen Verhandlung begründeten Anlass, an der Prozessfähigkeit des Klägers zu zweifeln und hat daraufhin versucht , von Amts wegen die Prozessfähigkeit des Klägers durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zu klären. Das in Auftrag gegebene Gutachten konnte jedoch nicht erstellt werden, weil der Kläger auf mehrfache Einladungen des Gutachters zu einem Explorationsgespräch nicht erschienen ist. Deshalb hat das Berufungsgericht schließlich "die zur Beurteilung der Prozessfähigkeit des Klägers erschließbaren Erkenntnisquellen als erschöpft angesehen" und die Klage als unzulässig abgewiesen.
6
Entgegen der Auffassung der Nichtzulassungsbeschwerde war das Berufungsgericht im Rahmen des Freibeweises nicht verpflichtet, statt der Aufklärung der Prozessfähigkeit des Klägers mittels eines Sachverständigengutachtens jedes noch so unglaubhafte Detail aus dessen angeblicher Lebensgeschichte auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Darüber hinaus gründeten sich die Zweifel des Berufungsgerichts an der Prozessfähigkeit des Klägers nicht lediglich auf dessen unglaubhaften Angaben zu seiner Lebensgeschichte, sondern auch auf seinem auffälligen Verhalten in der mündlichen Verhandlung vom 4. Juni 2009.
7
d) Die weitere Verfahrensgestaltung des Berufungsgerichts verletzt jedoch den Kläger in seinem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG. Ist eine Partei prozessunfähig , kann sie sich nicht eigenverantwortlich äußern. Ihr kann rechtliches Gehör wirksam deshalb nur durch die Anhörung eines gesetzlichen Ver- treters gewährt werden. Die Beteiligung allein des Prozessunfähigen reicht zur Wahrung des rechtlichen Gehörs nicht aus. Art. 103 Abs. 1 GG verlangt von den Gerichten, die unterlassene Gewährung rechtlichen Gehörs nachzuholen, sofern die Auslegung des Verfahrensrechts dies ermöglicht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Oktober 1997 - 2 BvR 1390/95, NJW 1998, 745; BGH, Urteil vom 5. Mai 1982 - IVb ZR 707/80, BGHZ 84, 24, 29 f. und BAG, Beschluss vom 28. Mai 2009 - 6 AZN 17/09, aaO Rn. 5). Nachdem das Berufungsgericht aufgrund der objektiven Beweislage von einer Prozessunfähigkeit des Klägers ausging , hätte es durch die weitere Verfahrensgestaltung dafür Sorge tragen müssen , dass ihm das bisher fehlende rechtliche Gehör gewährt wird.
8
Die Nichtzulassungsbeschwerde macht mit Recht geltend, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 25. September 2008 hilfsweise beantragt hat, diesem einen Prozesspfleger zur Seite zu stellen. Dies ließ erkennen, dass der Kläger jedenfalls insoweit an seiner ordnungsgemäßen Vertretung im Rechtsstreit mitwirken wollte, sich aber im Rechtsirrtum darüber befand , wie und durch wen ein Vertreter zu bestellen war.
9
Das Berufungsgericht hätte dem Kläger daraufhin einen Hinweis geben müssen, dass er für eine ordnungsgemäße Vertretung zu sorgen habe und sich deshalb selbst um die Bestellung eines Betreuers nach § 1896 BGB bemühen müsse, der nur vom Vormundschaftsgericht, nicht aber vom Prozessgericht bestellt werden könne. Es hätte ihm dafür vor Erlass des Prozessurteils die nötige Zeit einräumen müssen (vgl. BGH, Urteil vom 23. Februar 1990 - V ZR 188/88, NJW 1990, 1734, 1736, insoweit nicht abgedruckt in BGHZ 110, 294 und BAG, Beschluss vom 28. Mai 2009 - 6 AZN 17/09, aaO Rn. 6).
10
Das Berufungsgericht wird Gelegenheit haben, dies - falls sich der Kläger nicht doch noch einer Untersuchung durch den Gerichtssachverständigen stellt - im Rahmen einer neuen Verhandlung nachzuholen. Galke Zoll Wellner Diederichsen Stöhr
Vorinstanzen:
LG Wuppertal, Entscheidung vom 07.08.2007 - 5 O 5/05 -
OLG Düsseldorf, Entscheidung vom 09.07.2009 - I-8 U 132/07 -
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(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. (2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. (3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafge
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(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. (2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. (3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafge
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(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.

Eine Person ist insoweit prozessfähig, als sie sich durch Verträge verpflichten kann.

(1) Das Gericht hat das Sach- und Streitverhältnis, soweit erforderlich, mit den Parteien nach der tatsächlichen und rechtlichen Seite zu erörtern und Fragen zu stellen. Es hat dahin zu wirken, dass die Parteien sich rechtzeitig und vollständig über alle erheblichen Tatsachen erklären, insbesondere ungenügende Angaben zu den geltend gemachten Tatsachen ergänzen, die Beweismittel bezeichnen und die sachdienlichen Anträge stellen. Das Gericht kann durch Maßnahmen der Prozessleitung das Verfahren strukturieren und den Streitstoff abschichten.

(2) Auf einen Gesichtspunkt, den eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, darf das Gericht, soweit nicht nur eine Nebenforderung betroffen ist, seine Entscheidung nur stützen, wenn es darauf hingewiesen und Gelegenheit zur Äußerung dazu gegeben hat. Dasselbe gilt für einen Gesichtspunkt, den das Gericht anders beurteilt als beide Parteien.

(3) Das Gericht hat auf die Bedenken aufmerksam zu machen, die hinsichtlich der von Amts wegen zu berücksichtigenden Punkte bestehen.

(4) Hinweise nach dieser Vorschrift sind so früh wie möglich zu erteilen und aktenkundig zu machen. Ihre Erteilung kann nur durch den Inhalt der Akten bewiesen werden. Gegen den Inhalt der Akten ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.

(5) Ist einer Partei eine sofortige Erklärung zu einem gerichtlichen Hinweis nicht möglich, so soll auf ihren Antrag das Gericht eine Frist bestimmen, in der sie die Erklärung in einem Schriftsatz nachbringen kann.

Geschäftsunfähig ist:

1.
wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat,
2.
wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist.

(1) Die Nichtzulassung der Revision durch das Berufungsgericht unterliegt der Beschwerde (Nichtzulassungsbeschwerde).

(2) Die Nichtzulassungsbeschwerde ist nur zulässig, wenn

1.
der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer 20 000 Euro übersteigt oder
2.
das Berufungsgericht die Berufung als unzulässig verworfen hat.

(3) Die Nichtzulassungsbeschwerde ist innerhalb einer Notfrist von einem Monat nach Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber bis zum Ablauf von sechs Monaten nach der Verkündung des Urteils bei dem Revisionsgericht einzulegen. Mit der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, vorgelegt werden.

(4) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber bis zum Ablauf von sieben Monaten nach der Verkündung des Urteils zu begründen. § 551 Abs. 2 Satz 5 und 6 gilt entsprechend. In der Begründung müssen die Zulassungsgründe (§ 543 Abs. 2) dargelegt werden.

(5) Das Revisionsgericht gibt dem Gegner des Beschwerdeführers Gelegenheit zur Stellungnahme.

(6) Das Revisionsgericht entscheidet über die Beschwerde durch Beschluss. Der Beschluss soll kurz begründet werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist, oder wenn der Beschwerde stattgegeben wird. Die Entscheidung über die Beschwerde ist den Parteien zuzustellen.

(7) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils. § 719 Abs. 2 und 3 ist entsprechend anzuwenden. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Revisionsgericht wird das Urteil rechtskräftig.

(8) Wird der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision stattgegeben, so wird das Beschwerdeverfahren als Revisionsverfahren fortgesetzt. In diesem Fall gilt die form- und fristgerechte Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde als Einlegung der Revision. Mit der Zustellung der Entscheidung beginnt die Revisionsbegründungsfrist.

(9) Hat das Berufungsgericht den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt, so kann das Revisionsgericht abweichend von Absatz 8 in dem der Beschwerde stattgebenden Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverweisen.

(1) Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör.

(2) Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

(3) Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.