Bundesgerichtshof Beschluss, 10. Mai 2012 - IX ZR 221/09
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Der Streitwert des Revisionsverfahrens wird auf 230.581,99 € festgesetzt.
Gründe:
I.
- 1
- Die Klägerin beauftragte die beklagte Rechtsanwältin im September 2003 damit, gegen bei ihr tatsächlich oder scheinbar beschäftigte Personen Strafanzeige zu erstatten und Kündigungen vorzubereiten. Mit Bezug auf mögliche Schadensersatzansprüche der Klägerin gegen die angezeigten Personen machte die Beklagte in einem Schreiben vom 25. September 2003 die Klägerin darauf aufmerksam, dass nach dem maßgebenden Rahmentarifvertrag An- sprüche aus den Arbeitsverhältnissen verfallen, wenn sie nicht innerhalb von zwei Monaten nach Fälligkeit schriftlich geltend gemacht werden.
- 2
- Die Klägerin beauftragte später Rechtsanwalt B. damit, diese Ansprüche widerklagend in den anhängigen Kündigungsschutzprozessen durchzusetzen. Dies blieb wegen des eingetretenen Verfalls ohne Erfolg. Die Klägerin verlangt von den Beklagten Ersatz des Verfallsschadens mit der Begründung, nicht ausreichend auf den Ablauf der Verfallfrist hingewiesen worden zu sein.
- 3
- Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, weil die Beklagte mit dem Schreiben vom 25. September 2003 ihre Mandatsnebenpflicht erfüllt habe. Das Berufungsgericht hat dies wegen der "Relativierung" des Hinweises in einem weiteren Schreiben der Beklagten vom 14. Oktober 2003 anders beurteilt und nach den Umständen des Einzelfalls angenommen, es sei nunmehr eine weitere Klarstellung zur Eilbedürftigkeit geboten gewesen, welche die Beklagte versäumt habe. Die Behauptung der Beklagten in der Berufungsverhandlung, der Klägerin einen solchen weiteren Hinweis am 11. November 2003 mit den Worten erteilt zu haben, "jetzt wird es eng", hat es unter Berufung auf § 531 Abs. 2 ZPO nicht berücksichtigt. Hiergegen wendet sich die Beschwerde der Beklagten mit Erfolg.
II.
- 4
- Die Revision ist zuzulassen und begründet, weil das angegriffene Grundurteil den Anspruch der Beklagten auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Dieses Urteil ist daher nach § 544 Abs. 7 ZPO aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
- 5
- 1. Der rechtliche Gesichtspunkt, dass die Beklagte trotz ihres Schreibens vom 25. September 2003 verpflichtet gewesen sein konnte, wegen entstandener Unklarheiten die Klägerin nochmals auf den herannahenden Ablauf der tarifvertraglichen Verfallfrist hinzuweisen, hat erstinstanzlich nach der landgerichtlichen Entscheidung keine Rolle gespielt. Diese Frage nach einer durch die anwaltliche Sorgfalt gebotenen weiteren Warnung war erstmals in der Berufungsinstanz von Bedeutung. Sie stellte sich dort nur, weil die Klägerin nach Ansicht des Berufungsgerichts das Schreiben der Beklagten vom 14. Oktober 2003 im Hinblick auf die Eilbedürftigkeit der schriftlichen Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen missdeutet haben konnte. Diese tatrichterliche Auslegung war nicht selbstverständlich. Wäre bereits das Landgericht zu diesem Ergebnis gekommen, hätte es die Beklagte nach § 139 Abs. 2 ZPO darauf hinweisen und ihr Gelegenheit zu weiterem Vortrag geben müssen.
- 6
- Nach gefestigter Rechtsprechung war nach dieser Verfahrenslage der ergänzende Vortrag der Beklagten gemäß § 531 Abs. 2 Nr. 1 ZPO in der Berufungsinstanz zuzulassen (vgl. BGH, Urteil vom 19. Februar 2004 - III ZR 147/03, NJW-RR 2004, 927 f; vom 19. März 2004 - V ZR 104/03, BGHZ 158, 295, 302). Die Zurückweisung des neuen Vorbringens einer Partei in zweiter Instanz verletzt zugleich die Verfassungsgarantie des rechtlichen Gehörs, wenn sie - wie hier - auf einer offenkundig fehlerhaften Anwendung des § 531 Abs. 2 Nr. 1 ZPO beruht (BGH, Beschluss vom 21. Februar 2006 - VIII ZR 61/04, NJW-RR 2006, 755 Rn. 5; vom 3. November 2008 - II ZR 236/07, NJW-RR 2009, 332 Rn. 8).
- 7
- Das zurückgewiesene Vorbringen der Beklagten war entscheidungserheblich. Es war zwar aus sich heraus kaum geeignet, der Klägerin eine richtige Vorstellung von dem drohenden Verfall ihrer Schadensersatzansprüche zu vermitteln. Der behauptete Hinweis konnte jedoch eine etwa durch das Schreiben vom 14. Oktober 2003 ausgelöste Fehlvorstellung über den zeitlichen Spielraum der Rechtsverfolgung auf Seiten der Klägerin korrigieren und in Verbindung mit dem Schreiben vom 25. September 2003 als Warnung der Klägerin zur Erfüllung einer Mandatsnebenpflicht durch die Beklagte ausreichen. Dies wird ebenso wie den Wahrheitsgehalt der Behauptung das Berufungsgericht tatrichterlich zu würdigen haben.
- 8
- 2. Der zuvor genannten Würdigung wäre das Berufungsgericht enthoben, wenn die Klage bereits wegen Anspruchsverjährung nach § 51b BRAO aF abzuweisen sein sollte. Das Berufungsgericht hat bisher die Voraussetzungen des von ihm angenommenen verjährungsrechtlichen Sekundäranspruchs der Klägerin nicht festgestellt. Dieser Anspruch kommt - wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat - zwar auch bei der hier streitigen Verletzung einer Warnpflicht des Rechtsanwalts außerhalb des Mandatsgegenstandes in Betracht (BGH, Urteil vom 13. April 2006 - IX ZR 208/02, NJW 2006, 2635 Rn. 9 bis 13; vom 29. Juni 2006 - IX ZR 227/02, Rn. 12). Das Mandat der Beklagten für die Klägerin ist aber bereits durch deren Schreiben vom 15. Januar 2004 beendet und nicht erneuert worden.
- 9
- Hatte die Beklagte nach Mandatsbeendigung Grund zu erkennen, dass die Klägerin von ihr unter Umständen nicht hinreichend vor dem drohenden Verfall von Schadensersatzansprüchen gegen die angezeigten Personen gewarnt worden war, so hatte sie trotz noch laufender Primärverjährung keine Veranlassung, die Klägerin über die Möglichkeit ihrer Haftung und die hierfür geltende Primärverjährung aufzuklären. Der verjährungsrechtliche Sekundäranspruch ist nur entstanden, wenn die Klägerin bis zur Beendigung des Mandates einen zu der ersten Pflichtverletzung hinzukommenden Anlass hatte, die Klägerin auf ihre Haftung aufmerksam zu machen (vgl. Chab in Zugehör/G. Fischer/ Vill/D. Fischer/Rinkler/Chab, Handbuch der Anwaltshaftung, 3. Aufl., Rn. 1392 mwN). Auch diese Frage wird das Berufungsgericht nochmals zu erwägen haben , sollte es nach tatrichterlicher Würdigung des zu Unrecht zurückgewiesenen Vortrags der Beklagten das aufgehobene Grundurteil wiederherstellen wollen.
Vorinstanzen:
LG Köln, Entscheidung vom 30.10.2008 - 30 O 416/06 -
OLG Köln, Entscheidung vom 11.11.2009 - 13 U 190/08 -
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Annotations
(1) Angriffs- und Verteidigungsmittel, die im ersten Rechtszuge zu Recht zurückgewiesen worden sind, bleiben ausgeschlossen.
(2) Neue Angriffs- und Verteidigungsmittel sind nur zuzulassen, wenn sie
- 1.
einen Gesichtspunkt betreffen, der vom Gericht des ersten Rechtszuges erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten worden ist, - 2.
infolge eines Verfahrensmangels im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht wurden oder - 3.
im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht worden sind, ohne dass dies auf einer Nachlässigkeit der Partei beruht.
(1) Die Nichtzulassung der Revision durch das Berufungsgericht unterliegt der Beschwerde (Nichtzulassungsbeschwerde).
(2) Die Nichtzulassungsbeschwerde ist nur zulässig, wenn
- 1.
der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer 20 000 Euro übersteigt oder - 2.
das Berufungsgericht die Berufung als unzulässig verworfen hat.
(3) Die Nichtzulassungsbeschwerde ist innerhalb einer Notfrist von einem Monat nach Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber bis zum Ablauf von sechs Monaten nach der Verkündung des Urteils bei dem Revisionsgericht einzulegen. Mit der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, vorgelegt werden.
(4) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber bis zum Ablauf von sieben Monaten nach der Verkündung des Urteils zu begründen. § 551 Abs. 2 Satz 5 und 6 gilt entsprechend. In der Begründung müssen die Zulassungsgründe (§ 543 Abs. 2) dargelegt werden.
(5) Das Revisionsgericht gibt dem Gegner des Beschwerdeführers Gelegenheit zur Stellungnahme.
(6) Das Revisionsgericht entscheidet über die Beschwerde durch Beschluss. Der Beschluss soll kurz begründet werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist, oder wenn der Beschwerde stattgegeben wird. Die Entscheidung über die Beschwerde ist den Parteien zuzustellen.
(7) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils. § 719 Abs. 2 und 3 ist entsprechend anzuwenden. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Revisionsgericht wird das Urteil rechtskräftig.
(8) Wird der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision stattgegeben, so wird das Beschwerdeverfahren als Revisionsverfahren fortgesetzt. In diesem Fall gilt die form- und fristgerechte Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde als Einlegung der Revision. Mit der Zustellung der Entscheidung beginnt die Revisionsbegründungsfrist.
(9) Hat das Berufungsgericht den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt, so kann das Revisionsgericht abweichend von Absatz 8 in dem der Beschwerde stattgebenden Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverweisen.
(1) Das Gericht hat das Sach- und Streitverhältnis, soweit erforderlich, mit den Parteien nach der tatsächlichen und rechtlichen Seite zu erörtern und Fragen zu stellen. Es hat dahin zu wirken, dass die Parteien sich rechtzeitig und vollständig über alle erheblichen Tatsachen erklären, insbesondere ungenügende Angaben zu den geltend gemachten Tatsachen ergänzen, die Beweismittel bezeichnen und die sachdienlichen Anträge stellen. Das Gericht kann durch Maßnahmen der Prozessleitung das Verfahren strukturieren und den Streitstoff abschichten.
(2) Auf einen Gesichtspunkt, den eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, darf das Gericht, soweit nicht nur eine Nebenforderung betroffen ist, seine Entscheidung nur stützen, wenn es darauf hingewiesen und Gelegenheit zur Äußerung dazu gegeben hat. Dasselbe gilt für einen Gesichtspunkt, den das Gericht anders beurteilt als beide Parteien.
(3) Das Gericht hat auf die Bedenken aufmerksam zu machen, die hinsichtlich der von Amts wegen zu berücksichtigenden Punkte bestehen.
(4) Hinweise nach dieser Vorschrift sind so früh wie möglich zu erteilen und aktenkundig zu machen. Ihre Erteilung kann nur durch den Inhalt der Akten bewiesen werden. Gegen den Inhalt der Akten ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig.
(5) Ist einer Partei eine sofortige Erklärung zu einem gerichtlichen Hinweis nicht möglich, so soll auf ihren Antrag das Gericht eine Frist bestimmen, in der sie die Erklärung in einem Schriftsatz nachbringen kann.
(1) Angriffs- und Verteidigungsmittel, die im ersten Rechtszuge zu Recht zurückgewiesen worden sind, bleiben ausgeschlossen.
(2) Neue Angriffs- und Verteidigungsmittel sind nur zuzulassen, wenn sie
- 1.
einen Gesichtspunkt betreffen, der vom Gericht des ersten Rechtszuges erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten worden ist, - 2.
infolge eines Verfahrensmangels im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht wurden oder - 3.
im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht worden sind, ohne dass dies auf einer Nachlässigkeit der Partei beruht.