Bundesgerichtshof Beschluss, 14. Juni 2010 - II ZR 135/09
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Gründe:
- 1
- Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist begründet und führt gemäß §§ 544 Abs. 7, 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO im Kostenpunkt und, soweit zum Nachteil des Klägers erkannt worden ist, zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und im Umfang der Aufhebung zur Zurückverweisung der Sache an einen anderen Senat des Berufungsgerichts.
- 2
- Das Berufungsgericht hat, indem es der Klage lediglich im Umfang von 15.344,77 € nebst Zinsen stattgegeben hat, den Anspruch des Klägers auf Ge- währung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) mehrfach in entscheidungserheblicher Weise verletzt.
- 3
- 1. Fehlerhaft und unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ergangen ist das Berufungsurteil - selbst wenn man die Auslegung der Bestimmungen des Gesellschaftsvertrages durch das Berufungsgericht (wie nicht, siehe nachfolgend 2.) für richtig halten wollte - soweit es den Auseinandersetzungsanspruch des Klägers gegen die Beklagten zu 1 und 2 und den Anspruch des Klägers gegen die Beklagte zu 1 auf Karenzentschädigung jeweils um 1/3 wegen angeblich in diesem Umfang "mitgenommener" Patienten gekürzt hat.
- 4
- Die Beklagten selbst haben in erster Instanz mehrfach (siehe nur GA I, 26) vorgetragen, der Kläger habe in den Jahren von 2001 bis zum Zeitpunkt seines Ausscheidens regelmäßig 2.464 Patienten in Behandlung gehabt. Ausgehend hiervon hat das Landgericht (LGU 6) ausgeführt, der Umstand, dass der Kläger 1/3 seiner alten Patienten in seiner neuen Praxis weiterbehandle, könne seinem Abfindungsanspruch nicht entgegenstehen. Zusätzlich hat das Berufungsgericht übergangen, dass ausweislich Bl. 1 der von den Beklagten vorgelegten Patientenliste die zahnärztliche Gemeinschaftspraxis der Parteien zum Zeitpunkt des Ausscheidens des Klägers über 6.572 Patienten verfügte. Da zwischen den Parteien unstreitig ist, dass der Kläger 841 Patienten aus diesem Praxisstamm übernommen hat, hat der Kläger, anders als das Berufungsgericht meint, nicht 1/3 des Patientenstamms der Gemeinschaftspraxis sondern nur ca. 1/8 "mitgenommen".
- 5
- Vom Rechtsstandpunkt des Berufungsgerichts aus wäre daher bei ordnungsgemäßer Zurkenntnisnahme des Vortrags des Klägers allenfalls eine Kürzung seiner Ansprüche um 1/8 gerechtfertigt gewesen.
- 6
- 2. Aber bereits die Annahme des Berufungsgerichts, hier sei eine Kürzung des Auseinandersetzungsanspruchs des Klägers im Umfang der mitgenommenen Patienten vorzunehmen, beruht auf einem entscheidungserheblichen Verstoß des Berufungsgerichts gegen Art. 103 Abs. 1 GG.
- 7
- a) Die Auslegung eines Vertrages ist zwar grundsätzlich Sache des Tatrichters und - revisionsrechtlich - nur daraufhin überprüfbar, ob der Tatrichter gesetzliche oder allgemein anerkannte Auslegungsregeln, Denkgesetze oder Erfahrungsgesetze verletzt oder wesentlichen Auslegungsstoff außer Acht gelassen hat (st. Rspr., siehe nur Sen.Urt. v. 8. November 2004 - II ZR 300/02, ZIP 2005, 82, 83; v. 7. März 2005 - II ZR 194/03, ZIP 2005, 1068, 1069). Geht das Gericht bei der Auslegung vertraglicher Bestimmungen auf den wesentlichen Kern des Vortrags einer Partei nicht ein, lässt sich daraus schließen, dass es diesen Vortrag unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht zur Kenntnis genommen hat. Dies rechtfertigt im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren die Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht (siehe nur Sen.Beschl. v. 9. Februar 2009 - II ZR 77/08, WM 2009, 1154 Tz. 4; v. 20. Oktober 2008 - II ZR 207/07, ZIP 2008, 2311 Tz. 4).
- 8
- b) So liegt der Fall hier. Das Berufungsgericht hat die sich nach dem Vortrag des Klägers aufdrängende Auslegung der Regelungen des Gesellschaftsvertrags überhaupt nicht vorgenommen, sondern sich zur Begründung seiner Entscheidung lediglich auf den "Normalfall" der Auseinandersetzung einer Freiberuflerpraxis gestützt.
- 9
- aa) Richtig ist zwar, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Senats eine Freiberuflerpraxis vorrangig durch Realteilung in Form der Mitnahme von Patienten auseinandergesetzt wird bzw. dass dieses Vorgehen sachgerecht ist (siehe dazu nur Sen.Urt. v. 6. Dezember 1993 - II ZR 242/92, ZIP 1994, 378 ff.; v. 6. März 1995 - II ZR 97/94, ZIP 1995, 833 ff.). Allerdings ist auch eine abweichende Vereinbarung, bei der die Parteien den "Mitnahme"-Vorteil des Ausscheidenden bewusst in Kauf genommen haben, grundsätzlich in den durch § 138 BGB gezogenen Grenzen möglich (siehe hierzu Goette, DStR 1995, 857).
- 10
- bb) Das Berufungsgericht hat den Vortrag des Klägers, dass die Parteien hier im Gesellschaftsvertrag eine derartige abweichende Regelung getroffen haben, nicht zur Kenntnis genommen.
- 11
- Die Parteien hatten, wie das Landgericht zutreffend erkannt hatte, im Gesellschaftsvertrag drei verschiedene Szenarien im Zusammenhang mit den möglichen Konsequenzen des Ausscheidens eines Partners geregelt: Entweder verließ der ausscheidende Partner (hier: der Kläger) den Planungsbereich und ermöglichte damit eine Neuzulassung, dann erhielt er den von einem Sachverständigen zu ermittelnden vollen Ausgleich des ideellen Wertes seines Praxisanteils. Blieb er im Planungsbereich, so hatte er das zeitlich und räumlich begrenzte Wettbewerbsverbot aus Nr. 7 des Gesellschaftsvertrages einzuhalten und erhielt einen der Höhe nach festgelegten Betrag. Aus Nr. 6 des Gesellschaftsvertrages ergab sich das dritte Szenario: Sollte aus kassenzahnärztlichen Gründen (Niederlassungssperre) keine oder nur eine sehr eingeschränkte Möglichkeit bestehen, den ideellen Wert des ausscheidenden Partners wirtschaftlich zu nutzen, sollte der Kläger bei Einhaltung der Konkurrenzschutzklausel lediglich 50.000,00 DM, mithin die Hälfte des ansonsten vereinbarten Betrags erhalten. Hierzu hat der Kläger stets vorgetragen, dass der Betrag von 100.000,00 DM, der letztlich seinem "Eintrittspreis" in den ersten Jahren seiner Praxiszugehörigkeit entsprochen hat, ungeschmälert dann gezahlt werden sollte , wenn er das Konkurrenzverbot in Nr. 7 des Vertrages einhält, was er unstreitig getan hat. Das Berufungsgericht hat weiter nicht zur Kenntnis genommen, dass es sich bei dem Betrag von 100.000,00 DM um einen ganz erheblich ge- deckelten Abfindungsbetrag für den good will gehandelt hat, wie der Kläger, von dem Beklagten unwidersprochen, stets vorgetragen hat. Danach hätte der ungeschmälerte Anteil des Klägers am good will an sich im Minimum ca. 142.600,00 € (= 278.900,00 DM) betragen.
- 12
- c) Der Gehörsverstoß des Berufungsgerichts ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es dann, wenn es, wie das Landgericht , den Vortrag zu den abgestuften Regelungen im Gesellschaftsvertrag zur Kenntnis genommen hätte, zu dem Ergebnis gelangt wäre, dass die Parteien den Abfindungsanspruch des Klägers lediglich an die Einhaltung des Konkurrenzverbotes und nicht zusätzlich an das Unterbleiben der Mitnahme von Patienten geknüpft haben. Angesichts der sehr geringen räumlichen Begrenzung des Wettbewerbsverbots war eine gewisse Patientenmitnahme nahezu unausweichlich. Diesem Risiko konnte durch die Begrenzung des Abfindungsanspruchs auf die Höhe des "Eintrittspreises" Rechnung getragen werden.
- 13
- 3. Unabhängig davon, dass auch der Karenzentschädigungsanspruch bei zutreffender Zurkenntnisnahme des vorgetragenen Sachverhalts allenfalls um 1/8 hätte gekürzt werden dürfen (s.o. 1.), hat das Berufungsgericht in diesem Zusammenhang den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs zusätzlich dadurch verletzt, dass es dessen Vortrag zu dem Hintergrund der Vereinbarung der Karenzentschädigung, die Ausgleich für das Erfordernis des Aufbaus einer neuen Praxis unter Einhaltung des Wettbewerbsverbots sein sollte , nicht zur Kenntnis genommen hat.
- 14
- Auch dieser Gehörsverstoß ist entscheidungserheblich. Es ist nämlich nicht ausgeschlossen, dass das Berufungsgericht bei vollständiger Erfassung des Vortrags des Klägers zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass eine Kürzung der Karenzentschädigung nur dann gerechtfertigt wäre, wenn der Kläger in grobem Maße gegen den Sinn der Wettbewerbsklausel verstoßen hätte, was etwa dann der Fall wäre, wenn er bewusst und zielstrebig um sämtliche Patienten der Gemeinschaftspraxis geworben und einen ganz erheblichen Anteil der Patienten an sich gezogen hätte.
Vorinstanzen:
LG Hannover, Entscheidung vom 28.07.2008 - 1 O 80/07 -
OLG Celle, Entscheidung vom 20.05.2009 - 9 U 137/08 -
moreResultsText
moreResultsText
Annotations
Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.
(1) Die Nichtzulassung der Revision durch das Berufungsgericht unterliegt der Beschwerde (Nichtzulassungsbeschwerde).
(2) Die Nichtzulassungsbeschwerde ist nur zulässig, wenn
- 1.
der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer 20 000 Euro übersteigt oder - 2.
das Berufungsgericht die Berufung als unzulässig verworfen hat.
(3) Die Nichtzulassungsbeschwerde ist innerhalb einer Notfrist von einem Monat nach Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber bis zum Ablauf von sechs Monaten nach der Verkündung des Urteils bei dem Revisionsgericht einzulegen. Mit der Beschwerdeschrift soll eine Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift des Urteils, gegen das die Revision eingelegt werden soll, vorgelegt werden.
(4) Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber bis zum Ablauf von sieben Monaten nach der Verkündung des Urteils zu begründen. § 551 Abs. 2 Satz 5 und 6 gilt entsprechend. In der Begründung müssen die Zulassungsgründe (§ 543 Abs. 2) dargelegt werden.
(5) Das Revisionsgericht gibt dem Gegner des Beschwerdeführers Gelegenheit zur Stellungnahme.
(6) Das Revisionsgericht entscheidet über die Beschwerde durch Beschluss. Der Beschluss soll kurz begründet werden; von einer Begründung kann abgesehen werden, wenn sie nicht geeignet wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision zuzulassen ist, oder wenn der Beschwerde stattgegeben wird. Die Entscheidung über die Beschwerde ist den Parteien zuzustellen.
(7) Die Einlegung der Beschwerde hemmt die Rechtskraft des Urteils. § 719 Abs. 2 und 3 ist entsprechend anzuwenden. Mit der Ablehnung der Beschwerde durch das Revisionsgericht wird das Urteil rechtskräftig.
(8) Wird der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision stattgegeben, so wird das Beschwerdeverfahren als Revisionsverfahren fortgesetzt. In diesem Fall gilt die form- und fristgerechte Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde als Einlegung der Revision. Mit der Zustellung der Entscheidung beginnt die Revisionsbegründungsfrist.
(9) Hat das Berufungsgericht den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt, so kann das Revisionsgericht abweichend von Absatz 8 in dem der Beschwerde stattgebenden Beschluss das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverweisen.
(1) Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig.
(2) Nichtig ist insbesondere ein Rechtsgeschäft, durch das jemand unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen sich oder einem Dritten für eine Leistung Vermögensvorteile versprechen oder gewähren lässt, die in einem auffälligen Missverhältnis zu der Leistung stehen.