Bundesgerichtshof Beschluss, 30. Juni 2005 - 5 StR 342/04
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
a) wenn der Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, deren Vollstreckung nach dem Recht des Urteilsstaates zur Bewährung ausgesetzt worden ist;
b) wenn der Angeklagte kurzfristig in Polizei- und/oder Untersuchungshaft genommen worden ist und dieser Freiheitsentzug nach dem Recht des Urteilsstaates auf eine spätere Vollstreckung der Haftstrafe anzurechnen wäre? 3. Beeinflußt es die Auslegung des Begriffs der Vollstreckung im Sinne des Art. 54 SDÜ,
a) daß es der (Erst-)Urteilsstaat mit der innerstaatlichen Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190 v. 18. Juli 2002) in der Hand hat, sein nach innerstaatlichem Recht rechtskräftiges Urteil jederzeit einer Vollstreckung zuzuführen;
b) daß einem Rechtshilfeersuchen des Urteilsstaates zur Auslieferung des Verurteilten oder zur Vollstreckung des Urteils im Inland deshalb nicht ohne weiteres Folge zu leisten wäre, weil das Urteil in Abwesenheit erging ? G r ü n d e
I.
Das Landgericht Augsburg hatte den Angeklagten K wegen gewerbsmäßiger Steuerhehlerei in vier Fällen, jeweils in Tateinheit mit Fahren ohne Fahrerlaubnis, davon in zwei Fällen in weiterer Tateinheit mit Steuerhinterziehung und in zwei Fällen in weiterer Tateinheit mit Kennzeichenmißbrauch und – tatmehrheitlich – wegen Hehlerei, Steuerhinterziehung und wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in 99 Fällen unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Urteil des Amtsgerichts Memmingen vom 26. Januar 2001 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt.1. Nach den Feststellungen des Landgerichts Augsburg beförderte der Angeklagte – im Auftrag anderweitig verfolgter Hinterleute – von Dritten nach Griechenland eingeschmuggelte Zigaretten per Lkw von Griechenland über Deutschland mit Ziel Großbritannien. Die Zigaretten waren dabei unter Tarnladungen verborgen, ohne daß die Ware zuvor, zu diesem Zeitpunkt oder später einer zollrechtlichen Behandlung zugeführt wurde. Das Landgericht hat seinen Schuldfeststellungen jeweils die Hehlerei an den bei der illegalen Einfuhr nach Griechenland dort entstandenen Einfuhrabgaben (strafbar nach § 374 der deutschen Abgabenordnung [AO]) sowie – in den Fällen, in denen es zu einer späteren Einfuhr nach Deutschland kam – die Steuerhinterziehung (strafbar nach § 370 Abs. 1 AO) bezüglich der bei der illegalen Einfuhr nach Deutschland entstandenen deutschen Tabaksteuer zugrunde gelegt. Daneben verdieselte der Angeklagte 17.000 l Heizöl, erwarb eine gestohlene Lkw-Zugmaschine und fuhr in 99 Fällen mit seinem Lkw Touren durch Europa , ohne im Besitz einer gültigen Fahrerlaubnis zu sein.
2. Aus dem Gesamtverfahren hat der Senat mit Beschluß vom 22. Juli 2004 (5 StR 241/04) das vorliegende Verfahren abgetrennt und gemäß § 154a Abs. 1 und Abs. 2 der deutschen Strafprozeßordnung (StPO) auf die
zwei Vorwürfe der gewerbsmäßigen Steuerhehlerei in Tateinheit mit Kennzeichenmißbrauch beschränkt. Das übrige von der Abtrennung nicht betroffene Verfahren ist nach einer Umstellung und Beschränkung des Schuldspruchs und einer Aufhebung im Gesamtstrafausspruch durch den Senat mit Bildung einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten durch das Landgericht Augsburg nunmehr durch Beschluß des Senats vom 16. Juni 2005 (5 StR 123/05) rechtskräftig abgeschlossen.
a) Dem vorliegenden Verfahren liegt nach den Feststellungen des Landgerichts Augsburg und der vom Senat im Wege der Rechtshilfe, namentlich über Eurojust, weiter eingeholten Erkenntnisse folgender Sachverhalt zugrunde:
aa) Einige Tage vor dem 3. Mai 1999 übernahm der Angeklagte in Elefsina, Griechenland, 34.500 Stangen geschmuggelte Zigaretten der Marke Regal, welche er auf einem Lkw mit Anhänger mit den nicht für diese Fahrzeuge ausgegebenen Kennzeichen MN – ET 979 und R – M 3547 transportierte. Als Tarnladung wurden Kirschen verwendet. Dieser Transport wurde am 3. Mai 1999 von Beamten der italienischen Guardia di Finanza in der Nähe von Bassano del Grappa aufgegriffen. Der Angeklagte befand sich kurze Zeit in italienischer Polizei- und/oder Untersuchungshaft.
Dieses Geschehen zog eine Anklage vor dem Tribunale di Bassano del Grappa nach sich, welches den Angeklagten – in Abwesenheit – mit Urteil vom 22. März 2000 aber aus subjektiven Gründen freisprach. Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hob die Corte d’Appello di Venezia mit Urteil vom 22. Februar 2001 den Freispruch auf und verurteilte den Angeklagten – wiederum in Abwesenheit – „wegen der beiden ihm angelasteten Straftaten ... zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten bei doppeltem gesetzlichen Vorteil ...“. Aus einem Vermerk der Procura della Repubblica presso il Tribunale di Venezia vom 18. Juni 2002 ergibt sich, daß die Vollstreckung dieser Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde („... Pena sospesa
– non menzione“). Den dortigen Schuldfeststellungen liegen eine Straftat der Einfuhr und des Besitzes von 6.900 kg geschmuggelten ausländischen Tabaks nach dem Gesetz vom 18. Januar 1994, Nr. 50, und eine Straftat der Unterlassung der Zahlung der Grenzabgabe für denselben Tabak nach der Verordnung des Präsidenten der Republik vom 23. Januar 1973, Nr. 43, zugrunde. Welche Einfuhrabgaben genau von dem Urteil erfaßt sind, insbesondere ob etwa auch eine Zollhinterziehung ausgeurteilt wurde, hat der Senat trotz mehrfacher Klärungsversuche nicht sicher ermitteln können. Das Urteil ist nach italienischem Recht spätestens seit dem 8. März 2001 rechtskräftig.
In Kenntnis dieser italienischen Entscheidung verurteilte das Landgericht Augsburg den Angeklagten zu einer Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten. Seinen Schuldfeststellungen hat das Landgericht dabei die Hehlerei an den bei der illegalen Einfuhr nach Griechenland dort entstandenen Einfuhrabgaben (Zoll-Euro, griechische Einfuhrumsatzsteuer und griechische Tabaksteuer) in Höhe von rund € 680.000,00 zugrunde gelegt.
bb) Einige Tage vor dem 12. April 2000 übernahm der Angeklagte in Aspropyrgos, Griechenland, 14.927 Stangen geschmuggelte Zigaretten der Marke Superkings, welche er auf einem Lkw mit Anhänger mit den nicht für diese Fahrzeuge ausgegebenen Kennzeichen RS 82 TBL und DAL – KM 41 transportierte. Als Tarnladung wurden Kartoffelchips verwendet. Bei diesem Transport wurde der Angeklagte am 13. April 2000 von der Guardia di Finanza in Ancona festgenommen. Wiederum befand sich der Angeklagte kurze Zeit in italienischer Polizei- und/oder Untersuchungshaft.
Wegen dieses Geschehens verurteilte der Tribunale di Ancona den Angeklagten mit Urteil vom 25. Januar 2001 – erneut in Abwesenheit und unter Bezugnahme auf dieselben Rechtsvorschriften des italienischen Rechts – zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren (ohne Strafaussetzung zur Bewährung). Welche Einfuhrabgaben genau von diesem Urteil erfaßt sind,
insbesondere ob etwa auch eine Zollhinterziehung ausgeurteilt wurde, hat der Senat trotz mehrfacher Klärungsversuche auch hier nicht sicher ermitteln können. Dieses Urteil ist nach italienischem Recht seit dem 16. Oktober 2001 rechtskräftig.
Ebenfalls in Kenntnis dieser italienischen Entscheidung verurteilte das Landgericht Augsburg den Angeklagten zu einer Einzelfreiheitsstrafe von einem Jahr. Seinen Schuldfeststellungen hat das Landgericht dabei die Hehlerei an den bei der illegalen Einfuhr nach Griechenland dort entstandenen Einfuhrabgaben (Zoll-Euro, griechische Einfuhrumsatzsteuer und griechische Tabaksteuer) in Höhe von rund € 295.000,00 zugrunde gelegt.
b) Das Landgericht Augsburg hat ein Verfahrenshindern is nach Art. 54 SDÜ mit Blick auf die beiden Verurteilungen in Italien trotz der Tatsache, daß es sich jeweils um denselben Zigarettentransport gehandelt hat, abgelehnt und dazu ausgeführt, daß die in Italien verhängten Strafen noch nicht vollstreckt seien.
II.
Im Rahmen des noch anhängigen Revisionsverfahrens ist zu prüfen, ob sich – entgegen der Auffassung des Landgerichts Augsburg – aus den Verurteilungen in Italien Verfahrenshindernisse, namentlich ein Strafklageverbrauch gemäß Art. 54 SDÜ, im Hinblick auf das deutsche Strafverfahren ergeben könnten, die hier eine Einstellung des Verfahrens gebieten würden.
Dazu hält der Senat, der nach § 1 Abs. 2 des deutschen EuGHGesetzes als letztinstanzliches Gericht in Zweifelsfragen zur Vorlage nach Art. 35 EU verpflichtet ist, die Beantwortung der Vorlagefragen für erforderlich. Er legt diese deshalb dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (nachfolgend: Gerichtshof) vor.
Dem liegen folgende Erwägungen zugrunde:
1. Der Gerichtshof hat sich in seinem Urteil vom 11. Februar 2003 in den verbundenen Rechtssachen C-187/01 (Gözütok) und C-385/01 (Brügge) zwar zum Begriff der „strafrechtlichen Aburteilung“ in Art. 54 SDÜ geäußert, eine ausdrückliche Entscheidung des Gerichtshofs zum Begriff „derselben Tat“ im Sinne von Art. 54 SDÜ liegt – soweit für den Senat ersichtlich – jedoch noch nicht vor.
Allerdings ergibt sich aus den Schlußanträgen des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer in jener Rechtssache, daß er für einen Strafklageverbrauch im Sinne von Art. 54 SDÜ eine Identität in drei Punkten für erforderlich hält. Hiernach müßten derselbe Sachverhalt, ein einziger Täter und ein einziges geschütztes Rechtsgut vorliegen. Damit orientiert sich der Generalanwalt ersichtlich an der Rechtsprechung des Gerichtshofs und des Gerichts Erster Instanz zur Gemeinsamen Agrarpolitik (vgl. z.B. nur Urteil des Gerichtshofs vom 18. November 1987 in der Rechtssache 137/85 [Maizena/BALM]) und zum Kartellrecht (vgl. z.B. nur Urteil des Gerichts Erster Instanz vom 29. April 2004 in der Rechtssache T-236/01 [Tokai Carbon /Kommission]).
Zwingend erscheint diese Auslegung indes nicht. Die französische Fassung („les mêmes faits“), die deutsche Fassung („dieselbe Tat“) und die englische Fassung („same acts“) des Art. 54 SDÜ scheinen auf eine Interpretation im Sinne eines historischen Vorgangs („idem factum“) hinzudeuten. Denkbar erscheint freilich auch eine am strafrechtlichen Tatbestand orientierte Auslegung (im Sinne eines „idem crimen“). Ein solch streng formeller Tatbegriff dürfte indes, namentlich mit Blick auf die sehr unterschiedliche Ausgestaltung der Straftatbestände in den Mitgliedstaaten, zu einer zu engen Interpretation führen, welche in ihrer Konsequenz mit der von Art. 54 SDÜ geschützten Freizügigkeit kaum zu vereinbaren wäre (vgl. insoweit auch die
Schlußanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer in den verbundenen Rechtssachen C-187/01 [Gözütok] und C-385/01 [Brügge], Rdn. 44 ff.).
Auch bei einer materiellen Interpretation des Tatbegriffs in Art. 54 SDÜ eröffnen sich indes Auslegungsunklarheiten, die der dem Vorlageverfahren zugrundeliegende Sachverhalt anschaulich verdeutlicht: Das Landgericht Augsburg hat seinen Schuldfeststellungen die Übernahme der geschmuggelten Zigaretten in Griechenland – und damit die Hehlerei an den bei der Einfuhr nach Griechenland entstandenen Einfuhrabgaben – zugrundegelegt, während die Gerichte in Venedig und Ancona auf den Einfuhrvorgang nach Italien abgestellt haben. Bei natürlicher Betrachtungsweise könnte eine durchgehende Lkw-Fahrt von Griechenland über Italien einen historischen Vorgang darstellen, der für eine einheitliche Tat im Sinne des Art. 54 SDÜ spricht. Dem deutschen Strafvorwurf liegt indes die körperliche Übernahme geschmuggelter, mit hohen Abgaben belasteter Zigaretten zugrunde, während der italienische Schuldvorwurf die Nichtgestellung oder Nichtanmeldung der verborgenen Zigaretten und/oder die Nichtbezahlung der bei der Einfuhr nach Italien entstandenen Einfuhrabgaben zum Gegenstand hat.
Danach betreffen die jeweiligen Strafverfahren wohl unterschiedliche geschützte Rechtsgüter, nämlich einerseits die Verhinderung der Vertiefung des durch die Zigarettenschmuggler entweder nach Art. 202 Abs. 1 oder Art. 203 Abs. 1 Zollkodex verursachten (formell griechischen) Steuerschadens durch den Hehler und andererseits die Einhaltung der steuerrechtlichen Erklärungs- und Gestellungspflichten bei der Einfuhr nach Italien. Indes ist zu bedenken, daß hinsichtlich des Zolls in Europa stets dieselbe und der Höhe nach identische Abgabenart und hinsichtlich der Einfuhrumsatzsteuer und der nationalen Verbrauchsteuer jedenfalls teilharmonisierte Abgaben betroffen sind, die letztlich zum Teil (Zoll und Einfuhrumsatzsteueranteil) dem Gemeinschaftshaushalt zufließen. Darüber hinaus können jedenfalls der Zoll und die Einfuhrumsatzsteuer auch nur bei der erstmaligen Einfuhr in das Zollgebiet entstehen, weil für eine erneute Zollschuldentstehung nach
Art. 202 Abs. 1 oder Art. 203 Abs. 1 Zollkodex nach der erstmaligen Entstehung bei der Einfuhr nach Griechenland grundsätzlich kein Raum mehr ist (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 20. September 1988 in der Rechtssache 252/87 [Kiwall] und Urteil des Gerichtshofs vom 11. Juli 2002 in der Rechtssache C-371/99 [Liberexim]).
Letztlich schützen sowohl die Normen des deutschen Steuerstrafrechts als auch die angewendeten Normen des italienischen Rechts bei weitergehender Betrachtungsweise das Steueraufkommen der Mitgliedstaaten und das der Union. Dies wiederum könnte für eine extensive Auslegung des Tatbegriffs sprechen und zeigt zugleich auf, welche Interdependenzen zwischen den Abgrenzungsmerkmalen „derselbe Sachverhalt“ und „ein einziges geschütztes Rechtsgut“ bestehen. Letztlich stellt sich die Frage, ob ein Schmuggler auf seiner Fahrt von Griechenland nach Nordeuropa in jedem passierten Mitgliedstaat wegen der bei jedem Grenzübertritt jeweils verwirklichten Steuerstraftat in unterschiedlichen Strafverfahren bestraft werden kann und die jeweils verhängten Strafen gegebenenfalls kumulativ zu verbüßen hat oder ob die Aburteilung (nur) eines Teils dieser einheitlichen Schmuggelfahrt in einem Mitgliedstaat zu einem gesamteuropäischen Strafklageverbrauch führen kann. Die Frage spitzt sich zu, wenn es etwa in mehreren Mitgliedstaaten zu einer Verurteilung wegen vollendeter Zollhinterziehung kommen könnte, obwohl der Zollschuldentstehungstatbestand grundsätzlich nur ein Mal erfüllt sein kann.
2. Für den Fall, daß der Gerichtshof im letzteren Sinne erkennt, stellen sich sodann weitere Fragen, welche die Auslegung des Begriffs der „Vollstreckung“ im Sinne des Art. 54 SDÜ betreffen.
a) Im Hinblick auf die Verurteilung in Venedig ist zu fragen, ob die nach italienischem Recht zur Bewährung ausgesetzte Vollstreckung der gegen den Angeklagten verhängten Freiheitsstrafe bereits einen Strafklageverbrauch auslöst.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat mit Urteil vom 3. November 2000 (BGHSt 46, 187) bezüglich einer Vorverurteilung aus den Niederlanden entschieden, daß auch eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, Strafklageverbrauch auslöse. Dies hat der Bundesgerichtshof vor allem damit begründet, daß bei einer Bewährungsstrafe bis zum Erlaß der Strafe ein Widerruf der Bewährung und damit eine tatsächliche Vollstreckung der Strafe in Betracht komme. Deshalb liege in der Bewährungsaufsicht durch das zuständige Gericht zugleich eine „Vollstreckung“ im Sinne von Art. 54 SDÜ. Der Senat teilt grundsätzlich die Auffassung des 2. Strafsenats, hält die Beantwortung der Frage indes nicht für so zweifelsfrei, daß sie unter dem Gesichtspunkt der „acte claire“-Doktrin bei der nunmehr gegebenen Möglichkeit der Vorlage nach Art. 35 EU dem Gerichtshof nicht unterbreitet werden sollte.
b) Hinsichtlich beider Verurteilungen in Italien stellt sich im Zusammenhang mit dem Begriff der „Vollstreckung“ im Sinne von Art. 54 SDÜ ferner folgende Frage: Nach den über Eurojust vermittelten Erkenntnissen des Senats ist eine von dem Angeklagten bei seiner Ergreifung oder später erlittene italienische Polizei- und/oder Untersuchungshaft auf die Vollstreckung einer später in Italien verhängten Freiheitsstrafe anzurechnen. Eine korrespondierende Vorschrift hierzu findet sich in § 51 Abs. 1 des deutschen Strafgesetzbuchs (StGB). Nach § 51 Abs. 3 StGB ist auch eine im Ausland erlittene Freiheitsentziehung auf die Vollstreckung der deutschen Strafe anzurechnen.
Diese Anrechnungsvorschriften führen im Ergebnis zu einer vorweggenommenen „Teilvollstreckung“ der später verhängten Freiheitsstrafe. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, ob der Begriff der „Vollstreckung“ in Art. 54 SDÜ auch eine durch eine Anrechnungsvorschrift bewirkte Teilvollstreckung mitumfaßt, ob bereits eine ganz kurzfristige Teilvollstreckung genügt oder wieweit eine solche Teilvollstreckung gegebenenfalls erfolgt sein muß, um dieses Tatbestandselement des Art. 54 SDÜ zu erfüllen.
Daß jedenfalls eine vollständige Verbüßung der verhängten Freiheitsstrafe nicht erforderlich sein kann, ist offenkundig. So wie das deutsche Strafrecht in § 57 StGB eine Aussetzung der Reststrafenvollstreckung als Regelfall kennt, existieren auch in anderen Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften, welche zu einer Beendigung der Vollstreckung vor Ablauf der vollständigen Verbüßungsdauer führen (vgl. beispielhaft nur § 46 des österreichischen Strafgesetzbuchs). Es erscheint dem Senat zwingend, daß eine solche „Teilvollstreckung“ im Regelfall und unter den weiteren Voraussetzungen des Art. 54 SDÜ zum gesamteuropäischen Strafklageverbrauch führen müßte. Soweit es nach einer Teilvollstreckung zum Erlaß der Reststrafe kommt, greift allerdings bereits Art. 54 SDÜ, 3. Variante ein, da die Strafe dann nach dem Recht des Urteilsstaates nicht mehr vollstreckt werden kann.
3. Schließlich stellt sich bei der Prüfung eines etwaigen Strafklageverbrauchs durch die Verurteilungen in Italien die Frage, ob und gegebenenfalls welche Auswirkungen die Normen des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (nachfolgend: RbEuHb) auf die Auslegung des Art. 54 SDÜ haben.
a) Mit der Umsetzung des RbEuHb in das nationale Recht der Mitgliedstaaten hat die innergemeinschaftliche Rechtshilfe eine neue, deutlich vereinfachte Grundlage erhalten. Grundsätzlich ist die Vollstreckung eines ausländischen Strafurteils für den ersuchten Staat nunmehr verpflichtend ausgestaltet, wobei die Rechtshilfe entweder durch Vollstreckung im ersuchten Staat oder durch Auslieferung zum Zwecke der Vollstreckung im Urteilsstaat zu gewähren ist. Dem ersuchten Staat sind im Regelfall keine Möglichkeiten eröffnet, die Rechtshilfe zu versagen. Dementsprechend hat es der ersuchende Urteilsstaat weitestgehend allein in der Hand, die Durchsetzung seines Vollstreckungstitels zu bewirken. Dies läßt es als nicht völlig ausgeschlossen erscheinen, daß bereits die Existenz eines rechtskräftigen Strafurteils wegen der nunmehr latenten Gefahr einer jederzeitigen Vollstreckung in
jedem Mitgliedstaat zu einem gesamteuropäischen Strafklageverbrauch über den strengen Wortlaut des Art. 54 SDÜ hinaus führen könnte. Ob es von Belang ist, daß es vorliegend – soweit für den Senat erkennbar – nicht zu Bemühungen des Urteilsstaates zur Vollstreckung der Entscheidung des Gerichts in Ancona gekommen ist, erscheint höchst zweifelhaft.
b) In diesem Zusammenhang könnte indes die Tatsache, daß beide italienische Verurteilungen in Abwesenheit des Angeklagten ergingen, von Bedeutung sein.
Nach Art. 5 Nr. 1 des RbEuHb (umgesetzt durch § 83 Nr. 3 des deutschen IRG) kann für den Fall, daß der Verurteilte nicht persönlich vorgeladen oder nicht auf andere Weise vom Termin und vom Ort der Verhandlung, die zum Abwesenheitsurteil geführt hat, unterrichtet worden war, die Stattgabe eines Auslieferungsersuchens zum Zwecke der Vollstreckung eines in Abwesenheit ergangenen Urteils vom ersuchten Staat davon abhängig gemacht werden, daß dem Verurteilten im ersuchenden Staat ein „neues“ Gerichtsverfahren garantiert wird. Diese über die bloße Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens wohl hinausgehende Möglichkeit könnte bereits die Qualifizierung der italienischen Verurteilungen als „rechtskräftige Aburteilung“ im Sinne von Art. 54 SDÜ in Frage stellen, wenn für den Begriff der Rechtskraft nicht allein auf die innerstaatlichen Bestimmungen abzustellen wäre. Ansonsten bestünde die Gefahr, daß Taten, die mehrere Mitgliedstaaten betreffen und die auch gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtet sind (vgl. Art. 280 Abs. 1 EG), faktisch ungesühnt bleiben könnten, wenn einem mitgliedstaatlichen Abwesenheitsurteil eine den Strafklageverbrauch auslösende Wirkung zukäme, dieses Abwesenheitsurteil aber – wie vorliegend jedenfalls im Fall der Verurteilung in Ancona – dauerhaft nicht vollstreckt wird und der Urteilsstaat keine für den Senat erkennba-
ren Bemühungen unternimmt, eine ohnehin nur unter erschwerten Bedingungen mögliche Vollstreckung seines Urteils herbeizuführen.
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(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer
- 1.
den Finanzbehörden oder anderen Behörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht, - 2.
die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt oder - 3.
pflichtwidrig die Verwendung von Steuerzeichen oder Steuerstemplern unterlässt
(2) Der Versuch ist strafbar.
(3) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter
- 1.
in großem Ausmaß Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt, - 2.
seine Befugnisse oder seine Stellung als Amtsträger oder Europäischer Amtsträger (§ 11 Absatz 1 Nummer 2a des Strafgesetzbuchs) missbraucht, - 3.
die Mithilfe eines Amtsträgers oder Europäischen Amtsträgers (§ 11 Absatz 1 Nummer 2a des Strafgesetzbuchs) ausnutzt, der seine Befugnisse oder seine Stellung missbraucht, - 4.
unter Verwendung nachgemachter oder verfälschter Belege fortgesetzt Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt, - 5.
als Mitglied einer Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung von Taten nach Absatz 1 verbunden hat, Umsatz- oder Verbrauchssteuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Umsatz- oder Verbrauchssteuervorteile erlangt oder - 6.
eine Drittstaat-Gesellschaft im Sinne des § 138 Absatz 3, auf die er alleine oder zusammen mit nahestehenden Personen im Sinne des § 1 Absatz 2 des Außensteuergesetzes unmittelbar oder mittelbar einen beherrschenden oder bestimmenden Einfluss ausüben kann, zur Verschleierung steuerlich erheblicher Tatsachen nutzt und auf diese Weise fortgesetzt Steuern verkürzt oder nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt.
(4) Steuern sind namentlich dann verkürzt, wenn sie nicht, nicht in voller Höhe oder nicht rechtzeitig festgesetzt werden; dies gilt auch dann, wenn die Steuer vorläufig oder unter Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt wird oder eine Steueranmeldung einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gleichsteht. Steuervorteile sind auch Steuervergütungen; nicht gerechtfertigte Steuervorteile sind erlangt, soweit sie zu Unrecht gewährt oder belassen werden. Die Voraussetzungen der Sätze 1 und 2 sind auch dann erfüllt, wenn die Steuer, auf die sich die Tat bezieht, aus anderen Gründen hätte ermäßigt oder der Steuervorteil aus anderen Gründen hätte beansprucht werden können.
(5) Die Tat kann auch hinsichtlich solcher Waren begangen werden, deren Einfuhr, Ausfuhr oder Durchfuhr verboten ist.
(6) Die Absätze 1 bis 5 gelten auch dann, wenn sich die Tat auf Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben bezieht, die von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union verwaltet werden oder die einem Mitgliedstaat der Europäischen Freihandelsassoziation oder einem mit dieser assoziierten Staat zustehen. Das Gleiche gilt, wenn sich die Tat auf Umsatzsteuern oder auf die in Artikel 1 Absatz 1 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG (ABl. L 9 vom 14.1.2009, S. 12) genannten harmonisierten Verbrauchsteuern bezieht, die von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union verwaltet werden.
(7) Die Absätze 1 bis 6 gelten unabhängig von dem Recht des Tatortes auch für Taten, die außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzes begangen werden.
(1) Hat der Verurteilte aus Anlaß einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist, Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung erlitten, so wird sie auf zeitige Freiheitsstrafe und auf Geldstrafe angerechnet. Das Gericht kann jedoch anordnen, daß die Anrechnung ganz oder zum Teil unterbleibt, wenn sie im Hinblick auf das Verhalten des Verurteilten nach der Tat nicht gerechtfertigt ist.
(2) Wird eine rechtskräftig verhängte Strafe in einem späteren Verfahren durch eine andere Strafe ersetzt, so wird auf diese die frühere Strafe angerechnet, soweit sie vollstreckt oder durch Anrechnung erledigt ist.
(3) Ist der Verurteilte wegen derselben Tat im Ausland bestraft worden, so wird auf die neue Strafe die ausländische angerechnet, soweit sie vollstreckt ist. Für eine andere im Ausland erlittene Freiheitsentziehung gilt Absatz 1 entsprechend.
(4) Bei der Anrechnung von Geldstrafe oder auf Geldstrafe entspricht ein Tag Freiheitsentziehung einem Tagessatz. Wird eine ausländische Strafe oder Freiheitsentziehung angerechnet, so bestimmt das Gericht den Maßstab nach seinem Ermessen.
(5) Für die Anrechnung der Dauer einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a der Strafprozeßordnung) auf das Fahrverbot nach § 44 gilt Absatz 1 entsprechend. In diesem Sinne steht der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis die Verwahrung, Sicherstellung oder Beschlagnahme des Führerscheins (§ 94 der Strafprozeßordnung) gleich.
(1) Das Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung aus, wenn
- 1.
zwei Drittel der verhängten Strafe, mindestens jedoch zwei Monate, verbüßt sind, - 2.
dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann, und - 3.
die verurteilte Person einwilligt.
(2) Schon nach Verbüßung der Hälfte einer zeitigen Freiheitsstrafe, mindestens jedoch von sechs Monaten, kann das Gericht die Vollstreckung des Restes zur Bewährung aussetzen, wenn
- 1.
die verurteilte Person erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßt und diese zwei Jahre nicht übersteigt oder - 2.
die Gesamtwürdigung von Tat, Persönlichkeit der verurteilten Person und ihrer Entwicklung während des Strafvollzugs ergibt, daß besondere Umstände vorliegen,
(3) Die §§ 56a bis 56e gelten entsprechend; die Bewährungszeit darf, auch wenn sie nachträglich verkürzt wird, die Dauer des Strafrestes nicht unterschreiten. Hat die verurteilte Person mindestens ein Jahr ihrer Strafe verbüßt, bevor deren Rest zur Bewährung ausgesetzt wird, unterstellt sie das Gericht in der Regel für die Dauer oder einen Teil der Bewährungszeit der Aufsicht und Leitung einer Bewährungshelferin oder eines Bewährungshelfers.
(4) Soweit eine Freiheitsstrafe durch Anrechnung erledigt ist, gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne der Absätze 1 bis 3.
(5) Die §§ 56f und 56g gelten entsprechend. Das Gericht widerruft die Strafaussetzung auch dann, wenn die verurteilte Person in der Zeit zwischen der Verurteilung und der Entscheidung über die Strafaussetzung eine Straftat begangen hat, die von dem Gericht bei der Entscheidung über die Strafaussetzung aus tatsächlichen Gründen nicht berücksichtigt werden konnte und die im Fall ihrer Berücksichtigung zur Versagung der Strafaussetzung geführt hätte; als Verurteilung gilt das Urteil, in dem die zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden konnten.
(6) Das Gericht kann davon absehen, die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, wenn die verurteilte Person unzureichende oder falsche Angaben über den Verbleib von Gegenständen macht, die der Einziehung von Taterträgen unterliegen.
(7) Das Gericht kann Fristen von höchstens sechs Monaten festsetzen, vor deren Ablauf ein Antrag der verurteilten Person, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen, unzulässig ist.