Bundesgerichtshof Beschluss, 07. Feb. 2012 - 5 StR 3/12
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
G r ü n d e
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- Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Die Revision des Angeklagten führt – wie auch vom Generalbundesanwalt beantragt – zur Aufhebung des Urteils, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist.
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- 1. Verfahrensgegenstand ist nach dem hierfür maßgeblichen Eröffnungsbeschluss vom 16. September 2010 die unverändert zur Hauptverhandlung zugelassene Anklageschrift vom 29. Juli 2010. Diese umfasste 184 Sexualdelikte zum Nachteil der Tochter des Angeklagten im Zeitraum vom 11. April 1998 bis 1. August 2005 und ferner 19 im Tatzeitraum Oktober 1998 bis März 2002 angelastete Missbrauchshandlungen (gegenseitiger Oralverkehr ) zum Nachteil des am 27. Oktober 1990 geborenen Nebenklägers B. . Das Landgericht hat seiner Verurteilung je zwei Fälle des Oralverkehrs in einem Gartenzelt (Fall 1: Frühjahr 1999 bis 26. Juni 2001; Fall 5: 28. Juni 2001 bis 31. März 2002) und im Wohnzimmer des Angeklagten (Fall 2: Oktober 1998 bis 26. Juni 2001; Fall 4: 28. Juni 2001 bis 31. März 2002) sowie einen Zungenkuss in den Sommerschulferien 2001 (Fall 3: 28. Juni bis 8. August 2001) – sämtlich Taten zum Nachteil des Nebenklägers – zugrunde gelegt.
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- Den Freispruch hinsichtlich der sich auf die Tochter des Angeklagten beziehenden Vorwürfe hat das Landgericht mit dem nicht ausschließbaren Vorliegen von Falschbelastungsmotiven dieser Zeugin begründet (UA S. 69 ff.). Hinsichtlich der den Nebenkläger B. betreffenden Fälle hat das Landgericht ausgeführt: „Aufgrund einer Gesamtschau dieser Indizien hat sich die Kammer davon überzeugt, dass die den Angeklagten belastenden Aussagen des Zeugen B. auf realem Erleben beruhen und hinreichend zuverlässig sind, um darauf eine Verurteilung in den unter Heranziehung des Zweifelssatzes festgestellten Mindestfällen zu stützen. Da der Zeuge B. den von ihm gefilmten Oralverkehr nicht mit hinreichender Sicherheit dem Anklagezeitraum zuordnen konnte und sonstige Beweismittel nicht zur Verfügung standen, blieb diese Handlung dabei außer Betracht, § 264 Abs. 1 StPO“ (UA S. 40).
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- 2. Hierin liegt – im Gegensatz zur Auffassung des Generalbundesanwalts – eine Begründung von Freispruchsfällen hinsichtlich des Nebenklägers B. . Diese beantwortet indes die naheliegende Frage nicht direkt, aus welchen Gründen das Landgericht notwendigerweise weitergehenden – jedenfalls früheren – Angaben des Nebenklägers nicht gefolgt ist. Dies führt in der Regel wegen eines Verstoßes gegen das Gebot der erschöpfenden Beweiswürdigung zur Aufhebung der Verurteilung (vgl. BGH, Urteil vom 16. Februar 1993 – 5 StR 689/92, NJW 1993, 2451; BGH, Beschluss vom 22. April 1997 – 4 StR 140/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 13; BGH, Beschluss vom 21. April 1999 – 5 StR 634/98). Hiervon wird eine Ausnahme erwogen, falls dem Belastungszeugen lediglich eine zeitliche Einord- nung der übrigen Tatvorwürfe nicht gelungen ist (vgl. BGH, Urteil vom 8. Februar 2000 – 5 StR 461/99). Ob dies hier der Fall sein kann, bleibt unklar. Das Landgericht hat Taten in den Jahren 1998 und 1999 als möglich angenommen, obwohl hierfür sich widersprechende Angaben des Nebenklägers vorlagen (UA S. 5, 17, 21).
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- 3. Die Beweiswürdigung des Landgerichts beruht darüber hinaus auf rechtsfehlerhaften Erwägungen (vgl. BGH, Urteil vom 16. November 2006 – 3 StR 139/06, NJW 2007, 384, 387, insoweit in BGHSt 51, 144 nicht abge- druckt).
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- a) Das Landgericht hat hinsichtlich der Tatzeit März 2001 bis Ende März 2002 einer von der Zeugin W. – nicht aber vom Nebenkläger – bekundeten Rasur des Angeklagten in seinem Intimbereich – wahrgenommen bei vier bis fünfmaligem Geschlechtsverkehr im Monat mit dem Angeklagten (UA S. 9, 19) – die Beweisbedeutung abgesprochen. Die Annahme, es widerspreche der Lebenserfahrung, dass sich Zeugen nach mehreren Jahren an derartige Randdetails sowie deren zeitliche Einordnung noch lückenlos und absolut zuverlässig erinnern, ist indes sachlich unvertretbar. Es gibt keinen Erfahrungssatz, dass sich Zeugen nicht an lange zurückliegende Geschehnisse erinnern (vgl. BGH, Beschluss vom 14. September 2004 – 4StR 309/04, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Ungeeignetheit 23). Dies gilt umso mehr, als der erinnerte Umstand hier auch für weitere Intimpartnerinnen des Angeklagten von Bedeutung war. So hatten die Ehefrau des Angeklagten für einen Zeitraum davor (UA S. 8) und die Verlobte des Angeklagten ab 2005 (UA S. 9) ebenfalls bekundet, der Angeklagte habe seine Schambehaarung rasiert.
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- b) Das Landgericht hat ferner eine von anderen Zeugen geschilderte und als glaubhaft bewertete Abnormität des Penis des Angeklagten nicht in die Prüfung der Glaubhaftigkeit der Aussage des Nebenklägers einbezogen (vgl. BGH, Urteil vom 4. März 1960 – 4 StR 31/60, BGHSt 14, 162, 164). Das Landgericht hat hierzu festgestellt, dass der Angeklagte in den Jahren 1993 bis 1997 mit S. (UA S. 30 f.) und danach mit dessen Bruder Se. (UA S. 33 ff.) Oralverkehr ausgeübt hatte. Diesen Zeugen war aufgefallen, dass der Penis des Angeklagten – wegen einer von einem Sachverständigen festgestellten Vorhautverengung und Verkürzung des Vorhautbändchens – dabei immer „etwas krumm“ oder „eher krumm“ gewesen ist.
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- c) Soweit das Landgericht einen Aussagewechsel des Nebenklägers (Zungenkuss anstatt Oralverkehr im Fall 3) durch eine von der Tochter des Angeklagten beeinflusste Erinnerungsbildung verursacht sieht (UA S. 27) – was im Übrigen schon wegen der vom Landgericht betonten Bedeutung des Oralverkehrs für die Aussagemotivation des Nebenklägers bedenklich erscheint –, hätten die sich aus diesem Umstand ableitbaren Qualitätsmängel in der Aussage des Nebenklägers für die Glaubhaftigkeit von dessen Aussage im Übrigen bedacht werden müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juli 2006 – 5 StR 236/06, StraFo 2006, 411; BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 – 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164, 170, 172).
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- 4. Die Sache bedarf demnach neuer Aufklärung und Bewertung.
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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.
(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.
(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.
(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.
(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.
Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.
(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme.
(2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.
(3) Ein Beweisantrag liegt vor, wenn der Antragsteller ernsthaft verlangt, Beweis über eine bestimmt behauptete konkrete Tatsache, die die Schuld- oder Rechtsfolgenfrage betrifft, durch ein bestimmt bezeichnetes Beweismittel zu erheben und dem Antrag zu entnehmen ist, weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können soll. Ein Beweisantrag ist abzulehnen, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist. Im Übrigen darf ein Beweisantrag nur abgelehnt werden, wenn
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eine Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist, - 2.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung ist, - 3.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, schon erwiesen ist, - 4.
das Beweismittel völlig ungeeignet ist, - 5.
das Beweismittel unerreichbar ist oder - 6.
eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr.
(4) Ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Sachverständigen kann, soweit nichts anderes bestimmt ist, auch abgelehnt werden, wenn das Gericht selbst die erforderliche Sachkunde besitzt. Die Anhörung eines weiteren Sachverständigen kann auch dann abgelehnt werden, wenn durch das frühere Gutachten das Gegenteil der behaupteten Tatsache bereits erwiesen ist; dies gilt nicht, wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, wenn sein Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn das Gutachten Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen eines früheren Gutachters überlegen erscheinen.
(5) Ein Beweisantrag auf Einnahme eines Augenscheins kann abgelehnt werden, wenn der Augenschein nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist. Unter derselben Voraussetzung kann auch ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen abgelehnt werden, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre. Ein Beweisantrag auf Verlesung eines Ausgangsdokuments kann abgelehnt werden, wenn nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts kein Anlass besteht, an der inhaltlichen Übereinstimmung mit dem übertragenen Dokument zu zweifeln.
(6) Die Ablehnung eines Beweisantrages bedarf eines Gerichtsbeschlusses. Einer Ablehnung nach Satz 1 bedarf es nicht, wenn die beantragte Beweiserhebung nichts Sachdienliches zu Gunsten des Antragstellers erbringen kann, der Antragsteller sich dessen bewusst ist und er die Verschleppung des Verfahrens bezweckt; die Verfolgung anderer verfahrensfremder Ziele steht der Verschleppungsabsicht nicht entgegen. Nach Abschluss der von Amts wegen vorgesehenen Beweisaufnahme kann der Vorsitzende eine angemessene Frist zum Stellen von Beweisanträgen bestimmen. Beweisanträge, die nach Fristablauf gestellt werden, können im Urteil beschieden werden; dies gilt nicht, wenn die Stellung des Beweisantrags vor Fristablauf nicht möglich war. Wird ein Beweisantrag nach Fristablauf gestellt, sind die Tatsachen, die die Einhaltung der Frist unmöglich gemacht haben, mit dem Antrag glaubhaft zu machen.