Bundesgerichtshof Beschluss, 14. Sept. 2016 - 4 StR 212/16

published on 14/09/2016 00:00
Bundesgerichtshof Beschluss, 14. Sept. 2016 - 4 StR 212/16
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Gericht


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
4 StR 212/16
vom
14. September 2016
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht
geringer Menge
ECLI:DE:BGH:2016:140916B4STR212.16.0

Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und der Beschwerdeführer am 14. September 2016 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten E. wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 30. November 2015, soweit es diesen Angeklagten betrifft, aufgehoben
a) in den Einzelstrafaussprüchen für die Taten II.2, 3, 6 und 8 der Urteilsgründe,
b) im Gesamtstrafenausspruch und
c) mit den zugehörigen Feststellungen, soweit von der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt abgesehen worden ist. 2. Auf die Revision des Angeklagten B. wird das vorgenannte Urteil, soweit es diesen Angeklagten betrifft, aufgehoben
a) in den Einzelstrafaussprüchen für die Taten II.2, 6 und 8 der Urteilsgründe und
b) im Gesamtstrafenausspruch. 3. Im Umfang der Aufhebungen wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 4. Die weiter gehenden Revisionen werden verworfen.

Gründe:


1
Das Landgericht hat den Angeklagten E. wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in acht Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten und den Angeklagten B. – unter Freisprechung im Übrigen – wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sechs Fällen zu der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen richten sich die Revisionen der Angeklagten, die jeweils mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts und beim Angeklagten B. zusätzlich mit einer Verfahrensbeanstandung begründet sind. Die Rechtsmittel haben den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen sind sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
2
1. Die Einzelstrafen in den Fällen II.2, 3, 6 und 8 der Urteilsgründe, soweit die Angeklagten insoweit abgeurteilt wurden, halten einer rechtlichen Prüfung nicht stand, weil die Strafkammer die Voraussetzungen der Strafmilderung nach § 31 Satz 1 Nr. 1 BtMG zu Unrecht verneint hat.
3
Während das Landgericht bei den Taten II.1, 4, 5 und 7 der Urteilsgründe von einem wesentlichen Aufklärungsbeitrag der Angeklagten ausgegangen ist und den Angeklagten, soweit sie für diese Taten verurteilt worden sind, die Strafmilderung nach § 31 Satz 1 Nr. 1 BtMG zugebilligt hat, hat es die Anwendung des § 31 Satz 1 Nr. 1 BtMG hinsichtlich der Taten II.2, 3, 6 und 8 der Urteilsgründe wegen Fehlens eines auch bei diesen Taten eingetretenen wesentlichen Aufklärungserfolgs abgelehnt. Dies begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Hat der Angeklagte durch freiwilliges Offenbaren seines Wissens wesentlich zur Aufdeckung einer Tat nach den §§ 29 bis 30a BtMG beige- tragen, liegen die Voraussetzungen für eine Strafmilderung nach § 31 Satz 1 Nr. 1 BtMG für alle Taten des Angeklagten vor, die mit der aufgedeckten Tat im Zusammenhang stehen, ohne dass es darauf ankommt, ob auch bezüglich dieser Taten ein wesentlicher Aufklärungserfolg bewirkt worden ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 31. März 2015 – 3 StR 21/15, NStZ-RR 2015, 248; vom 5. August 2013 – 5 StR 327/13, NStZ 2014, 167; vom 10. April 2013 – 4 StR 90/13, StV 2013, 705 f.; Weber, BtMG, 4. Aufl., § 31 Rn. 41; Maier in MK-StGB, 2. Aufl., § 31 BtMG Rn. 112). Ein für § 31 Satz 1 Nr. 1 BtMG hinreichender Zusammenhang ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei Taten eines Mittäters – wie hier – im Rahmen einer fortgesetzten Verkaufstätigkeit, an welcher der die Aufklärungshilfe leistende Angeklagte jedenfalls in Teilabschnitten beteiligt war, gegeben (vgl. BGH, Beschluss vom 31. März 2015 – 3 StR 21/15 aaO; Urteile vom 20. März 2014 – 3 StR 429/13, StV 2014, 619 f.; vom 20. Februar 1991 – 2 StR 608/90, BGHR BtMG § 31 Nr. 1 Tat 1). Die Strafkammer hätte daher auch in den Fällen II.2, 3, 6 und 8 der Urteilsgründe eine Ermessensentscheidung über die Gewährung der Strafmilderung nach § 31 Satz 1 Nr. 1 BtMG treffen müssen.
4
Die Aufhebung der Einzelstrafen entzieht den Gesamtstrafenaussprüchen die Grundlage. Die durch die fehlerhafte Anwendung des § 31 BtMG nicht berührten tatsächlichen Feststellungen können bestehen bleiben. Ergänzende, zu den bisherigen nicht in Widerspruch stehende neue Feststellungen sind möglich.
5
2. Hinsichtlich des Angeklagten E. kann der Rechtsfolgenausspruch des angefochtenen Urteils darüber hinaus nicht bestehen bleiben, soweit von der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB abgesehen worden ist.
6
Nach den Feststellungen lag bei dem seit seiner Inhaftierung Anfang Mai 2015 abstinenten Angeklagten E. ein Cannabismissbrauch an derGrenze zur Abhängigkeit vor, aufgrund dessen er im Tatzeitraum täglich 4 bis 6 Gramm Marihuana konsumierte. Die im Zeitraum von März bis Mai 2015 in acht Fällen erworbenen Marihuanamengen dienten jeweils auch der Befriedigung des Eigenbedarfs. Das Vorliegen eines Hangs im Sinne des § 64 StGB hat das Landgericht verneint, weil durch den Cannabismissbrauch die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Angeklagten, der bis Januar 2015 seiner Mutter täglich mehrere Stunden in deren Kiosk aushalf und sich im März 2015 erfolgreich um eine Arbeitsstelle bewarb, nicht beeinträchtigt war. Diese Begründung hält einer rechtlichen Prüfung nicht stand.
7
Für einen Hang gemäß § 64 StGB ausreichend ist eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung , immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Konsum von Rauschmittel ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betroffene aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 10. November 2015 – 1 StR 482/15, NStZ-RR 2016, 113, 114; vom 21. August 2012 – 4 StR 311/12, RuP 2013, 34). Letzteres ist der Fall bei der Begehung von zur Befriedigung des eigenen Drogenkonsums dienender Beschaffungstaten (vgl. BGH, Beschluss vom 2. April 2015 – 3 StR 103/15 Rn. 5; Urteil vom 10. November 2004 – 2 StR 329/04, NStZ 2005, 210). Dem Umstand, dass durch den Rauschmittelkonsum die Gesundheit sowie die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Betroffenen beeinträchtigt sind, kommt nur indizielle Bedeutung zu. Das Fehlen solcher Beeinträchtigungen schließt die Bejahung eines Hangs nicht aus (vgl. BGH, Beschlüsse vom 10. November 2015 – 1 StR 482/15 aaO; vom 21. August 2012 – 4 StR 311/12 aaO; vom 12. April 2012 – 5 StR 87/12, NStZ-RR 2012, 271; vom 1. April 2008 – 4 StR 56/08, NStZ-RR 2008, 198, 199).
8
Da das Landgericht mithin von einem zu engen Verständnis des Hangs im Sinne des § 64 StGB ausgegangen ist, bedarf die Frage der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt, deren Voraussetzungen nach den bislang getroffenen Feststellungen nicht fernliegen, einer neuen tatrichterlichen Prüfung und Entscheidung. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, steht einer Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht entgegen (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO; BGH, Urteil vom 10. April 1990 – 1 StR 9/90, BGHSt 37, 5, 9).
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Annotations

(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

Das Gericht kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 des Strafgesetzbuches mildern oder, wenn der Täter keine Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren verwirkt hat, von Strafe absehen, wenn der Täter

1.
durch freiwilliges Offenbaren seines Wissens wesentlich dazu beigetragen hat, daß eine Straftat nach den §§ 29 bis 30a, die mit seiner Tat im Zusammenhang steht, aufgedeckt werden konnte, oder
2.
freiwillig sein Wissen so rechtzeitig einer Dienststelle offenbart, daß eine Straftat nach § 29 Abs. 3, § 29a Abs. 1, § 30 Abs. 1, § 30a Abs. 1 die mit seiner Tat im Zusammenhang steht und von deren Planung er weiß, noch verhindert werden kann.
War der Täter an der Tat beteiligt, muss sich sein Beitrag zur Aufklärung nach Satz 1 Nummer 1 über den eigenen Tatbeitrag hinaus erstrecken. § 46b Abs. 2 und 3 des Strafgesetzbuches gilt entsprechend.

Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Die Anordnung ergeht nur, wenn eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt innerhalb der Frist nach § 67d Absatz 1 Satz 1 oder 3 zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen.

(1) Das Gericht, an das die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung verwiesen ist, hat die rechtliche Beurteilung, die der Aufhebung des Urteils zugrunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zugrunde zu legen.

(2) Das angefochtene Urteil darf in Art und Höhe der Rechtsfolgen der Tat nicht zum Nachteil des Angeklagten geändert werden, wenn lediglich der Angeklagte, zu seinen Gunsten die Staatsanwaltschaft oder sein gesetzlicher Vertreter Revision eingelegt hat. Wird die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus aufgehoben, hindert diese Vorschrift nicht, an Stelle der Unterbringung eine Strafe zu verhängen. Satz 1 steht auch nicht der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt entgegen.