Bundesgerichtshof Beschluss, 28. Juli 2009 - 3 StR 80/09
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe:
- 1
- Das Landgericht hat den Angeklagten wegen "Beihilfe zu fünf Fällen sowie wegen Beihilfe zu drei Fällen des jeweils bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in jeweils nicht geringer Menge" zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg.
- 2
- 1. Das Urteil muss aufgehoben werden, weil das Landgericht einen Beweisantrag unter Verletzung des Nemo-tenetur-Grundsatzes abgelehnt hat.
- 3
- Nach den Feststellungen des Landgerichts baute der Angeklagte im März 2005 zusammen mit weiteren Hilfskräften eine Halle in P. zu einer industriell ausgestatteten Cannabis-Plantage um. Die Arbeiten nahmen insgesamt etwa einen Monat bei einer täglichen Arbeitszeit von sechs bis zehn Stunden in Anspruch. In gleicher Weise errichtete der Angeklagte "im Frühjahr 2005" eine Cannabis-Plantage in einem Keller in K. , in der sodann "in der Zeit von Mai 2005 an" mindestens zwei Ernten erzielt wurden.
- 4
- Der Angeklagte, der wegen des Tatvorwurfs im Oktober 2007 festgenommen worden war und sich seither in Untersuchungshaft befand, beantragte im Hauptverhandlungstermin vom 6. August 2008, seinen in Polen wohnenden Bruder M. S. als Zeugen zu vernehmen zu der Behauptung, er - der Angeklagte - habe sich "im Mai 2005" sowie "in der Zeit von März 2005 durchgehend bis zum 12.4.2005" täglich bei seinem Bruder aufgehalten, sei dort durchgehend als Aushilfe in dessen landwirtschaftlichem Betrieb beschäftigt gewesen, habe dort gearbeitet und übernachtet und Polen zu keinem Tag während der tatrelevanten Zeiträume verlassen. Das Landgericht hat den Beweisantrag abgelehnt, weil es die Vernehmung des Bruders des Angeklagten zur Erforschung der Wahrheit nicht für geboten hielt. Zur Begründung hat es unter näherer Darstellung der Aussagen von drei gehörten Zeugen ausgeführt, nach dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme sprächen mehrere Indizien für eine Täterschaft des Angeklagten; die Aussage des Bruders könnte unter diesen Umständen keinen Einfluss auf die Überzeugungsbildung der Kammer haben, ihr käme "kein Beweiswert" zu. "Die Kammer ist nämlich davon überzeugt : Träfen die unter Beweis gestellten Behauptungen tatsächlich zu, so wären sie vom Angeklagten beziehungsweise dem Verteidiger durch einen Beweisantrag früher in das Verfahren eingeführt worden. Das gilt umso mehr, als der Angeklagte … seit nun mehr als neun Monaten inhaftiert ist. Der Angeklagte hat mit einem Haftprüfungsantrag sowie einer Haftbeschwerde seine Haftentlassung erreichen wollen, dabei aber zu keinem Zeitpunkt seinen Bruder als Alibizeugen benannt. Dass der - angeblich - entscheidende Entlastungsbeweis erst in dem jetzigen Verfahrensstadium vorgebracht worden ist, spricht mithin wesentlich gegen ihn."
- 5
- Die Ablehnung des Beweisantrags beanstandet die Revision zu Recht als ermessensfehlerhaft. Bei der Entscheidung, ob die Vernehmung des Auslandszeugen zur Erforschung der Wahrheit erforderlich war (§ 244 Abs. 5 Satz 2 StPO), durfte das Landgericht nur solche Erwägungen anstellen, die auch im Rahmen der Würdigung erhobener Beweise rechtlich zulässig gewesen wären. Die freie richterliche Beweiswürdigung nach § 261 StPO findet indes ihre Grenze an dem Recht eines jeden Menschen, nicht gegen seinen Willen zu seiner Überführung beitragen zu müssen (Grundsatz des "Nemo tenetur se ipsum prodere"). Danach ist ein Angeklagter im Strafverfahren grundsätzlich nicht verpflichtet , aktiv zur Sachaufklärung beizutragen. So steht es ihm frei, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen, § 136 Abs. 1 Satz 2, § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO. Macht er von seinem Aussageverweigerungsrecht umfassend Gebrauch, so ist allgemein anerkannt, dass daraus für ihn keine nachteiligen Schlüsse gezogen werden dürfen (BGHSt 45, 363 m. w. N.).
- 6
- Hiergegen hat das Landgericht verstoßen. Der Angeklagte hatte sich im Verfahren bis dahin nicht zur Sache eingelassen. Er hat lediglich bei der Verkündung des Haftbefehls behauptet, unschuldig zu sein. Hierin ist eine Teileinlassung , die als solche der Beweiswürdigung zugänglich gewesen wäre (vgl. BGHSt 20, 298), nicht zu sehen (BGHSt 25, 365; 38, 302; BGH NStZ 2007, 417).
- 7
- Nachdem das Landgericht den Zeitpunkt der Alibibehauptung als für seine Würdigung "wesentlich" herausgestellt hat, kann der Senat nicht ausschließen , dass das Urteil auf der rechtsfehlerhaften Ablehnung des Beweisantrags beruht.
- 8
- 2. Auf die Rüge, dem Angeklagten sei für den Fall, "dass er weiterhin keine Angaben zur Sache macht", eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als vier Jahren und sechs Monaten zugesichert worden, weshalb mit der Verhängung einer fünfjährigen Freiheitsstrafe der Grundsatz fairer Verfahrensgestaltung verletzt worden sei, kommt es nicht mehr an. Der Senat sieht jedoch Anlass zu dem Hinweis, dass die Rüge ohne Erfolg geblieben wäre.
- 9
- Es ist bereits nicht erwiesen, dass das Gericht dem Angeklagten eine Höchststrafe für den Fall weiteren Schweigens zugesagt hat. Die Behauptung der Revision findet weder im Protokoll der Hauptverhandlung (vgl. hierzu BGH NStZ 2004, 342; 2007, 355) noch in den dienstlichen Erklärungen der beiden Berufsrichter vom 7. Januar 2009 (vgl. hierzu BGH NStZ-RR 2007, 245) eine Bestätigung. Danach hatte der Verteidiger am ersten Sitzungstag außerhalb der Hauptverhandlung ein "Rechtsgespräch" erbeten, bei dem die Strafkammer angekündigt hatte, für den Fall eines glaubhaften Geständnisses eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten nicht zu überschreiten. Für den Fall der Überführung des Angeklagten ohne Geständnis war eine Strafe von vier Jahren und sechs Monaten prognostiziert worden. Soweit nach den dienstlichen Erklärungen diese Strafe "in Aussicht gestellt" worden bzw. ein entsprechendes "Angebot" gemacht worden ist, ergibt sich daraus eine "Zusage" nicht.
Becker Pfister Sost-Scheible
Hubert Mayer
moreResultsText
Annotations
(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme.
(2) Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind.
(3) Ein Beweisantrag liegt vor, wenn der Antragsteller ernsthaft verlangt, Beweis über eine bestimmt behauptete konkrete Tatsache, die die Schuld- oder Rechtsfolgenfrage betrifft, durch ein bestimmt bezeichnetes Beweismittel zu erheben und dem Antrag zu entnehmen ist, weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können soll. Ein Beweisantrag ist abzulehnen, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist. Im Übrigen darf ein Beweisantrag nur abgelehnt werden, wenn
- 1.
eine Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist, - 2.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung ist, - 3.
die Tatsache, die bewiesen werden soll, schon erwiesen ist, - 4.
das Beweismittel völlig ungeeignet ist, - 5.
das Beweismittel unerreichbar ist oder - 6.
eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr.
(4) Ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Sachverständigen kann, soweit nichts anderes bestimmt ist, auch abgelehnt werden, wenn das Gericht selbst die erforderliche Sachkunde besitzt. Die Anhörung eines weiteren Sachverständigen kann auch dann abgelehnt werden, wenn durch das frühere Gutachten das Gegenteil der behaupteten Tatsache bereits erwiesen ist; dies gilt nicht, wenn die Sachkunde des früheren Gutachters zweifelhaft ist, wenn sein Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, wenn das Gutachten Widersprüche enthält oder wenn der neue Sachverständige über Forschungsmittel verfügt, die denen eines früheren Gutachters überlegen erscheinen.
(5) Ein Beweisantrag auf Einnahme eines Augenscheins kann abgelehnt werden, wenn der Augenschein nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist. Unter derselben Voraussetzung kann auch ein Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen abgelehnt werden, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre. Ein Beweisantrag auf Verlesung eines Ausgangsdokuments kann abgelehnt werden, wenn nach pflichtgemäßem Ermessen des Gerichts kein Anlass besteht, an der inhaltlichen Übereinstimmung mit dem übertragenen Dokument zu zweifeln.
(6) Die Ablehnung eines Beweisantrages bedarf eines Gerichtsbeschlusses. Einer Ablehnung nach Satz 1 bedarf es nicht, wenn die beantragte Beweiserhebung nichts Sachdienliches zu Gunsten des Antragstellers erbringen kann, der Antragsteller sich dessen bewusst ist und er die Verschleppung des Verfahrens bezweckt; die Verfolgung anderer verfahrensfremder Ziele steht der Verschleppungsabsicht nicht entgegen. Nach Abschluss der von Amts wegen vorgesehenen Beweisaufnahme kann der Vorsitzende eine angemessene Frist zum Stellen von Beweisanträgen bestimmen. Beweisanträge, die nach Fristablauf gestellt werden, können im Urteil beschieden werden; dies gilt nicht, wenn die Stellung des Beweisantrags vor Fristablauf nicht möglich war. Wird ein Beweisantrag nach Fristablauf gestellt, sind die Tatsachen, die die Einhaltung der Frist unmöglich gemacht haben, mit dem Antrag glaubhaft zu machen.
Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.
(1) Bei Beginn der Vernehmung ist dem Beschuldigten zu eröffnen, welche Tat ihm zu Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Er ist darauf hinzuweisen, daß es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen. Möchte der Beschuldigte vor seiner Vernehmung einen Verteidiger befragen, sind ihm Informationen zur Verfügung zu stellen, die es ihm erleichtern, einen Verteidiger zu kontaktieren. Auf bestehende anwaltliche Notdienste ist dabei hinzuweisen. Er ist ferner darüber zu belehren, daß er zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen beantragen und unter den Voraussetzungen des § 140 die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Maßgabe des § 141 Absatz 1 und des § 142 Absatz 1 beantragen kann; zu Letzterem ist er dabei auf die Kostenfolge des § 465 hinzuweisen. In geeigneten Fällen soll der Beschuldigte auch darauf, dass er sich schriftlich äußern kann, sowie auf die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs hingewiesen werden.
(2) Die Vernehmung soll dem Beschuldigten Gelegenheit geben, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen.
(3) Bei der Vernehmung des Beschuldigten ist zugleich auf die Ermittlung seiner persönlichen Verhältnisse Bedacht zu nehmen.
(4) Die Vernehmung des Beschuldigten kann in Bild und Ton aufgezeichnet werden. Sie ist aufzuzeichnen, wenn
- 1.
dem Verfahren ein vorsätzlich begangenes Tötungsdelikt zugrunde liegt und der Aufzeichnung weder die äußeren Umstände noch die besondere Dringlichkeit der Vernehmung entgegenstehen oder - 2.
die schutzwürdigen Interessen von Beschuldigten, die erkennbar unter eingeschränkten geistigen Fähigkeiten oder einer schwerwiegenden seelischen Störung leiden, durch die Aufzeichnung besser gewahrt werden können.
(5) § 58b gilt entsprechend.
(1) Die Hauptverhandlung beginnt mit dem Aufruf der Sache. Der Vorsitzende stellt fest, ob der Angeklagte und der Verteidiger anwesend und die Beweismittel herbeigeschafft, insbesondere die geladenen Zeugen und Sachverständigen erschienen sind.
(2) Die Zeugen verlassen den Sitzungssaal. Der Vorsitzende vernimmt den Angeklagten über seine persönlichen Verhältnisse.
(3) Darauf verliest der Staatsanwalt den Anklagesatz. Dabei legt er in den Fällen des § 207 Abs. 3 die neue Anklageschrift zugrunde. In den Fällen des § 207 Abs. 2 Nr. 3 trägt der Staatsanwalt den Anklagesatz mit der dem Eröffnungsbeschluß zugrunde liegenden rechtlichen Würdigung vor; außerdem kann er seine abweichende Rechtsauffassung äußern. In den Fällen des § 207 Abs. 2 Nr. 4 berücksichtigt er die Änderungen, die das Gericht bei der Zulassung der Anklage zur Hauptverhandlung beschlossen hat.
(4) Der Vorsitzende teilt mit, ob Erörterungen nach den §§ 202a, 212 stattgefunden haben, wenn deren Gegenstand die Möglichkeit einer Verständigung (§ 257c) gewesen ist und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt. Diese Pflicht gilt auch im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung, soweit sich Änderungen gegenüber der Mitteilung zu Beginn der Hauptverhandlung ergeben haben.
(5) Sodann wird der Angeklagte darauf hingewiesen, daß es ihm freistehe, sich zu der Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen. Ist der Angeklagte zur Äußerung bereit, so wird er nach Maßgabe des § 136 Abs. 2 zur Sache vernommen. Auf Antrag erhält der Verteidiger in besonders umfangreichen erstinstanzlichen Verfahren vor dem Land- oder Oberlandesgericht, in denen die Hauptverhandlung voraussichtlich länger als zehn Tage dauern wird, Gelegenheit, vor der Vernehmung des Angeklagten für diesen eine Erklärung zur Anklage abzugeben, die den Schlussvortrag nicht vorwegnehmen darf. Der Vorsitzende kann dem Verteidiger aufgeben, die weitere Erklärung schriftlich einzureichen, wenn ansonsten der Verfahrensablauf erheblich verzögert würde; § 249 Absatz 2 Satz 1 gilt entsprechend. Vorstrafen des Angeklagten sollen nur insoweit festgestellt werden, als sie für die Entscheidung von Bedeutung sind. Wann sie festgestellt werden, bestimmt der Vorsitzende.