Bundesgerichtshof Beschluss, 26. Mai 2010 - 2 StR 263/10
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
Gründe:
- 1
- Das Landgericht hat die nachträgliche Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung gemäß § 66 b Abs. 2 StGB angeordnet. Dagegen richtet sich die Revision des Verurteilten mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel führt zur Einstellung des Verfahrens, weil die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung ergibt, dass es für die Verurteilung an der Verfahrensvoraussetzung eines rechtzeitigen Antrags fehlt.
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- 1. Der Verurteilte war vom Landgericht mit Urteil vom 29. November 1995 wegen versuchten Mordes und sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Jahren (Einzelstrafen zwölf Jahre und fünf Jahre) verurteilt worden. Er verbüßte diese Strafe unter Berücksichtigung der am 4. April 1995 begonnenen Untersuchungshaft bis zum 2. April 2009 vollständig. Im Anschluss daran wurde gegen ihn eine Restfreiheitsstrafe von 305 Tagen aus dem Urteil des Amtsgerichts K. vom 25. Juli 1989 vollstreckt. Mit Datum vom 23. Juli 2009 beantragte die Staatsanwaltschaft, die Unterbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwahrung nachträglich anzuordnen. Am 23. Dezember 2009 wurde der Verurteilte unter Berücksichtigung von Arbeitsleistungen aus der Strafhaft entlassen. Seitdem ist er auf Grund des Unterbringungsbefehls des Landgerichts vom 10. Dezember 2009 vorläufig in der Sicherungsverwahrung untergebracht.
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- 2. Die vollständige Verbüßung der Strafe aus der Anlassverurteilung vor der Stellung des Antrags der Staatsanwaltschaft auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung steht der Fortsetzung des Verfahrens entgegen.
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- Zwar regeln § 66 b StGB, § 275 a StPO die formellen Anforderungen an die Durchführung des Verfahrens auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht in allen Einzelheiten. § 66 b Abs. 1 Satz 1 StGB ist insoweit zu entnehmen, dass die auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten hinweisenden neuen Tatsachen vor dem Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe aus der Anlassverurteilung erkennbar geworden sein müssen. Aus § 275 a Abs. 1 Satz 3 StPO folgt, dass das Verfahren nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft durchgeführt wird. Der Antrag soll spätestens sechs Monate vor dem Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung gestellt werden. Wie zu verfahren ist, wenn der Antrag später, gar erst nach Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe aus der Anlassver- urteilung gestellt wird, ergibt sich nicht unmittelbar aus dem Gesetz. Allerdings ist der Regelung in Art. 1 a Satz 3 EGStGB zu entnehmen, dass der Gesetzgeber die Antragsfrist nicht für bedeutungslos gehalten hat; in diesem Fall hätte es einer Ausnahmeregelung für die in Satz 1 der Vorschrift angeführten Fälle der Unterbringung besonders gefährlicher Straftäter nach Landesgesetzen, in denen der Vollzug der Strafhaft aus der Anlassverurteilung beendet war, nicht bedurft.
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- Der Senat hat bereits entschieden, dass die Wiedererlangung der Freiheit nach Vollverbüßung der Haftstrafe aus der Anlassverurteilung einer nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung nicht entgegensteht (BGHSt 50, 180, 182 ff.). Er hat in jener Entscheidung ausgeführt, dass in der verfahrensrechtlichen Vorschrift des § 275 a StPO das Bestreben deutlich wird, Verfahren über den Antrag auf Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung zu beschleunigen und dem Vertrauensschutz des Verurteilten Rechnung zu tragen. Um sowohl dem gesetzgeberischen Anliegen eines möglichst effektiven Schutzes der Allgemeinheit vor hochgefährlichen Gewalt- und Sexualstraftätern als auch dem verfassungsrechtlich gebotenen Vertrauensschutz für den Verurteilten hinreichend Rechnung zu tragen, ist es danach aber erforderlich, dass die Staatsanwaltschaft dem Verurteilten noch während des Strafvollzugs die Einleitung ihres Prüfungsverfahrens mitteilt und sie den Antrag auf nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung stellt, bevor die Strafvollstreckung aus dem Ausgangsverfahren beendet ist (BGHSt 50, 180, 184; 294, 290). An dieser Auffassung hält der Senat fest.
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- Einer solchen Auslegung der §§ 66 b StGB, 275 a StPO stehen die Gesetzesmaterialien nicht entgegen. Soweit es in der Begründung der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages weitergehend sogar heißt, dass die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungs- verwahrung bzw. ein Unterbringungsbefehl (§ 275 a Abs. 5 StPO) nur in Betracht komme, solange die Freiheitsstrafe aus dem Ausgangsurteil vollzogen werde bzw. die Freiheitsstrafe aus dem Ausgangsurteil nicht vollständig verbüßt sei (BTDrucks. 15/3346 S. 17; ähnlich auch BTDrucks. 15/2887 S. 12), hat der Senat a.a.O. bereits ausgeführt, dass hiermit nur der Begriff der Tatsachen, die "nach einer Verurteilung ... vor Ende des Vollzuges erkennbar werden", erläutert und der Zeitraum festgelegt werden soll, in dem die neuen Tatsachen erkennbar geworden sein müssen.
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- Die vom Senat vorgenommene Auslegung von § 66 b StGB, § 275 a StPO ermöglicht es zum einen, bei der Entscheidung über die nachträgliche Maßregelanordnung auch solche für die Gefährlichkeitsprognose wichtigen Tatsachen noch zu berücksichtigen, die erst kurz vor dem Vollzugsende erkennbar werden. Zum anderen wird ausgeschlossen, dass der Verurteilte ohne zeitliche Begrenzung auch nach vollständiger Beendigung der Vollstreckung der Strafe aus der Ausgangsverurteilung noch mit einer nachträglichen Maßregelanordnung rechnen muss. Das Rechtsstaatsprinzip, die Grundrechte und die Europäische Menschenrechtskonvention begrenzen die Befugnis des Gesetzgebers, Rechtsänderungen vorzunehmen, die an Sachverhalte der Vergangenheit anknüpfen. Bei der Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung wird an eine strafrechtlich bereits geahndete Anlasstat aus der Vergangenheit angeknüpft und damit der allgemeine Grundsatz des Vertrauensschutzes im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit zurückgestellt. Die Erwartung des Betroffenen , nach Verbüßung der verhängten Strafe die Freiheit zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder zu erlangen, tritt hier gegenüber dem Schutz der Grundrechte potentieller Opfer vor Verletzungen durch potentielle Straftäter zurück. Dem von Verfassungs wegen mit einem hohen Rang ausgestatteten Freiheitsgrundrecht des Betroffenen ist aber durch verfahrensrechtliche Garantien hinreichend Geltung zu verschaffen (BGHSt 50, 284, 290). Dies gebietet es, eine Antragstellung der Staatsanwaltschaft vor vollständiger Verbüßung der Strafhaft aus der Ausgangsverurteilung zu verlangen (vgl. Fischer StGB 57. Aufl. § 66 b Rdn. 25; Ullenbruch in MünchKomm-StGB § 66 b Rdn. 62; Zschieschack /Rau JR 2006, 8, 9 f.; Rissing-van Saan in Festschrift für Kay Nehm (2006) S. 191, 197; a.A. Folkers NStZ 2006, 426, 431). Wird der Antrag erst danach gestellt, liegt ein Verfahrenshindernis vor (Rissing-van Saan/Peglau in LK 12. Aufl. § 66 b Rdn. 185).
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- 3. Die Entscheidung über eine Entschädigung des Verurteilten wegen der erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen muss dem Landgericht überlassen bleiben. Die Prüfung, ob und in welchem Umfang eine Entschädigung zu gewähren ist, hat sich auf den gesamten Sachverhalt zu erstrecken, der die Strafverfolgungsmaßnahme ausgelöst hat. Die Entscheidung stellt mithin vorrangig eine tatrichterliche Aufgabe dar.
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Annotations
(1) Das Gericht ordnet neben der Strafe die Sicherungsverwahrung an, wenn
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jemand zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilt wird, die - a)
sich gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung richtet, - b)
unter den Ersten, Siebenten, Zwanzigsten oder Achtundzwanzigsten Abschnitt des Besonderen Teils oder unter das Völkerstrafgesetzbuch oder das Betäubungsmittelgesetz fällt und im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht ist oder - c)
den Tatbestand des § 145a erfüllt, soweit die Führungsaufsicht auf Grund einer Straftat der in den Buchstaben a oder b genannten Art eingetreten ist, oder den Tatbestand des § 323a, soweit die im Rausch begangene rechtswidrige Tat eine solche der in den Buchstaben a oder b genannten Art ist,
- 2.
der Täter wegen Straftaten der in Nummer 1 genannten Art, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon zweimal jeweils zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, - 3.
er wegen einer oder mehrerer dieser Taten vor der neuen Tat für die Zeit von mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und - 4.
die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich ist.
(2) Hat jemand drei Straftaten der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 genannten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verwirkt hat, und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzung neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen.
(3) Wird jemand wegen eines die Voraussetzungen nach Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 Buchstabe a oder b erfüllenden Verbrechens oder wegen einer Straftat nach § 89a Absatz 1 bis 3, § 89c Absatz 1 bis 3, § 129a Absatz 5 Satz 1 erste Alternative, auch in Verbindung mit § 129b Absatz 1, den §§ 174 bis 174c, 176a, 176b, 177 Absatz 2 Nummer 1, Absatz 3 und 6, §§ 180, 182, 224, 225 Abs. 1 oder 2 oder wegen einer vorsätzlichen Straftat nach § 323a, soweit die im Rausch begangene Tat eine der vorgenannten rechtswidrigen Taten ist, zu Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt, so kann das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung anordnen, wenn der Täter wegen einer oder mehrerer solcher Straftaten, die er vor der neuen Tat begangen hat, schon einmal zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist und die in Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 und 4 genannten Voraussetzungen erfüllt sind. Hat jemand zwei Straftaten der in Satz 1 bezeichneten Art begangen, durch die er jeweils Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verwirkt hat und wird er wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt, so kann das Gericht unter den in Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 bezeichneten Voraussetzungen neben der Strafe die Sicherungsverwahrung auch ohne frühere Verurteilung oder Freiheitsentziehung (Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 und 3) anordnen. Die Absätze 1 und 2 bleiben unberührt.
(4) Im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 2 gilt eine Verurteilung zu Gesamtstrafe als eine einzige Verurteilung. Ist Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung auf Freiheitsstrafe angerechnet, so gilt sie als verbüßte Strafe im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 3. Eine frühere Tat bleibt außer Betracht, wenn zwischen ihr und der folgenden Tat mehr als fünf Jahre verstrichen sind; bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung beträgt die Frist fünfzehn Jahre. In die Frist wird die Zeit nicht eingerechnet, in welcher der Täter auf behördliche Anordnung in einer Anstalt verwahrt worden ist. Eine Tat, die außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs dieses Gesetzes abgeurteilt worden ist, steht einer innerhalb dieses Bereichs abgeurteilten Tat gleich, wenn sie nach deutschem Strafrecht eine Straftat der in Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, in den Fällen des Absatzes 3 der in Absatz 3 Satz 1 bezeichneten Art wäre.