Bundesgerichtshof Beschluss, 27. Sept. 2011 - 1 StR 399/11

bei uns veröffentlicht am27.09.2011

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 399/11
vom
27. September 2011
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 27. September 2011 beschlossen
:
Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
Landshut vom 18. Februar 2011 werden als unbegründet
verworfen.
Die sofortige Beschwerde des Angeklagten R. gegen die
Kosten- und Auslagenentscheidung dieses Urteils wird als unbegründet
verworfen.
Die Beschwerdeführer haben die Kosten ihrer Rechtsmittel zu
tragen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat die Angeklagten wegen „gemeinschaftlichen Vor- enthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 13 tatmehrheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit einem gemeinschaftlichen Verstoß gegen § 11 des Schwarz- arbeitsbekämpfungsgesetzes“ verurteilt, den Angeklagten R. zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten, den Angeklagten S. zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten.
2
Die auf die (für beide Angeklagten identisch) näher ausgeführten Sachrügen gestützten Revisionen sind unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
3
1. Nach den Feststellungen waren die Angeklagten geschäftsführende Gesellschafter der von ihnen im Januar 2007 gegründeten Ra.
GmbH (nachfolgend: Ra. GmbH). Die Gesellschaft war im Rahmen ihres Geschäftsgegenstands im Wesentlichen als Subunternehmer auf Baustellen für andere Firmen tätig.
4
Zur Erfüllung der aus den Subunternehmer-Verträgen folgenden Verpflichtungen bediente sich die Ra. GmbH ungarischer Facharbeiter.
5
Diese hatten auf die Initiative der Zeugen L. , Sa. und P. , die zuvor als Bauleiter ungarischer Werkvertragsfirmen in Deutschland tätig waren, im März, April und Juni 2007 drei Gesellschaften des bürgerlichen Rechts (BGB-Gesellschaften) gegründet, die jeweils in D. ansässig waren. Hintergrund der Gesellschaftsgründungen war, dass nach Erweiterung der Europäischen Union durch den Beitrittsvertrag vom 16. April 2003 (ABl. 2003, L 236/33 und C 227 E) die Arbeitnehmerfreizügigkeit von Staatsangehörigen der Beitrittsstaaten , zu denen auch Ungarn zählte, bis zum 1. Mai 2011 beschränkt war, nicht aber die Niederlassungsfreiheit.
6
Die in der Folge von der Ra. GmbH mit den vorgenannten BGBGesellschaften geschlossenen Werkverträge nahmen hinsichtlich der von diesen zu erbringenden Leistungen auf ein Leistungsverzeichnis Bezug und nannten den Leistungsort. Darüber hinaus wurden die Leistungen nicht näher konkretisiert.
7
Die Werkverträge wurden tatsächlich nicht ausgeführt. Die ungarischen Staatsangehörigen erbrachten ihre Leistungen nicht auf deren Grundlage, sondern auf der Grundlage der von den Angeklagten erteilten Arbeitsaufträge und anhand der ihnen von den Angeklagten überlassenen Pläne. Die Durchführung der Arbeiten organisierten die Zeugen L. , Sa. und P. . Die „Gesellschafter“ wurden monatlich mit einem Stundenlohn zwischensieben und zehn Euro entlohnt, wofür monatliche Stundenaufzeichnungen angefertigt wurden. Demgegenüber erfolgte keine Abrechnung anhand der Leistungsverzeichnisse oder aufgrund eines Aufmaßes. Der Charakter der Zahlungen der Ra. GmbH an die BGB-Gesellschaften wurde dadurch verschleiert, dass die Angeklagten Vorschussrechnungen der BGB-Gesellschaften an die Ra. GmbH erstellten.
8
Auch im Übrigen wurden die Buchhaltung und der Schriftverkehr der BGB-Gesellschaften durch die Angeklagten veranlasst. Hierfür verwahrte der Angeklagte R. sämtliche Geschäftsunterlagen aller drei BGB-Gesellschaften , die Firmenstempel und die Bankunterlagen der Gesellschaften einschließlich der PIN der Bankkarten. Auf einem Notebook des Angeklagten R. fanden sich Mustervorlagen sowohl für interne Vorgänge der BGBGesellschaften (z.B. Kündigungen, Vollmachten u.a.) als auch für deren externe geschäftliche Korrespondenz (Gewerbeanmeldungen, Rechnungen u.a.).
9
Die BGB-Gesellschaften waren allein für die Ra. GmbH tätig. Um diesen Umstand zu verschleiern, schalteten die Angeklagten teilweise eine andere Firma (F. Metallgestaltung) als Auftraggeber der BGB-Gesellschaften zwischen. Tatsächlich wurden gegenüber dieser zwischengeschalteten Firma kei- ne Leistungen erbracht. Diese erstellte lediglich „sog. Abdeckrechnungen“, wo- für der Firmeninhaber als Honorar ca. fünf bis zehn Prozent des fingierten Auftragsvolumens erhielt.
10
2. Diese Feststellungen tragen die Wertung des Landgerichts, dass die Werkverträge zwischen der Ra. GmbH und den BGB-Gesellschaften lediglich zum Schein geschlossen wurden und die Ra. GmbH, als deren vertretungsberechtigtes Organ die Angeklagten handelten (§ 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB), Arbeitgeber der „Gesellschafter“ war. Für die Beurteilung, ob ein sozialversiche- rungs- und lohnsteuerpflichtiges Arbeitsverhältnis vorliegt, sind allein die tatsächlichen Gegebenheiten maßgeblich, nicht eine zur Verschleierung gewählte Rechtsform. Dementsprechend können die Vertragsparteien die sich aus einem Arbeitsverhältnis ergebenden Beitragspflichten nicht durch eine abweichende vertragliche Gestaltung beseitigen (st. Rspr.; vgl. zuletzt BGH, Beschluss vom 11. August 2011 - 1 StR 295/11 mwN).
11
3. Diesem Ergebnis stehen auch keine Rechtsakte der Europäischen Union (Art. 288 AEUV) entgegen, insbesondere ist die in Art. 49 AEUV garantierte Niederlassungsfreiheit entgegen der Auffassung der Revision nicht berührt.
12
Art. 49 AEUV garantiert die Möglichkeit für einen Gemeinschaftsangehörigen , in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats als seines Herkunftsstaats teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen, wodurch die wirtschaftliche und soziale Verflechtung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft im Bereich der selbstständigen Tätigkeiten gefördert wird (EuGH, Urteil vom 22. Dezember 2008 - C-161/07, Kommission/Republik Österreich). Die Niederlassungsfreiheit umfasst insbesondere die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten (vgl. Forsthoff in Grabitz/Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 43. Auflage 2011, AEUV Art. 49 Rn. 16), wobei das Merkmal der Selbstständigkeit maßgeblich für die Abgrenzung von den abhängigen Beschäftigungen ist (vgl. Forsthoff, aaO, Rn. 51).
13
Die danach vorzunehmende Abgrenzung erfolgt insoweit (auch) nach der Rechtsprechung des EuGH anhand objektiver Kriterien, die das Arbeitsverhält- nis im Hinblick auf die Rechte und Pflichten der betroffenen Personen kennzeichnen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (EuGH, Urteil vom 3. Juli 1986 Rechtssache 66/85, Lawrie-Blum; Urteil vom 20. November 2001 - C-268/99, Jany; Urteil vom 27. Juni 1996 - C-107/94, Asscher). Die Antwort auf die Frage, ob ein solches Arbeitsverhältnis gegeben ist, hängt dabei von der Gesamtheit der jeweiligen Faktoren und Umstände ab, die die Beziehungen zwischen den Parteien charakterisieren, wie etwa die Beteiligung an den geschäftlichen Risiken des Unternehmens, die freie Gestaltung der Arbeitszeit und der freie Einsatz eigener Hilfskräfte (EuGH, Urteil vom 14. Dezember 1989 - Rechtssache -3/87, Agegate).
14
Auch nach diesen gemeinschaftsrechtlichen Maßstäben, die im Übrigen auch im Wesentlichen mit denen des deutschen Rechts übereinstimmen, steht auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen außer Frage, dass es sich bei den fraglichen Rechtsbeziehungen zwischen der Ra. GmbH und den BGB-Gesellschaftern um Arbeitsverhältnisse handelte, für die allein die im Tatzeitraum nach Maßgabe des Beitrittsvertrags vom 16. April 2003 beschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt (vgl. insoweit auch den Schlussantrag des Generalanwalts Maduro vom 18. September 2008 in der Rechtssache C-161/07, Kommission/Republik Österreich Rn. 35).
15
4. Vor diesem Hintergrund ist der Senat nicht gehalten, dem Antrag der Revision zu folgen, nach Maßgabe von Art. 267 AEUV ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten. Dieses wäre nur geboten, wenn über die Auslegung der Verträge der Europäischen Union oder der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union zu entscheiden ist, wobei grundsätzlich sämtliche Rechtssätze des Unionsrechts Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens sein können (Calliess/Ruffert, EUV/AEUV 4. Aufl., AEUV Art. 267 Rn. 8 ff.).
16
Sind demgegenüber - wie hier - die im konkreten Fall maßgeblichen Rechtssätze des Unionsrechts durch den EuGH eindeutig und zweifelsfrei ausgelegt und beschränkt sich die Anwendung des ausgelegten Rechts auf den konkret zur Entscheidung stehenden Einzelfall, ist diese Rechtsanwendung ebenso wie die Feststellung und tatsächliche Bewertung der dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Tatsachen allein Aufgabe der innerstaatlichen Gerichte (EuGH, Urteil vom 28. März 1979 - Rechtssache 222/78, ICAP; Urteil vom 18. Oktober 1990- C-297/88, C-197/89, Dzodi; Urteil vom 22. Juni 1999 - C-342/97, Lloyd; Urteil vom 4. März 1999 - C-87/97, Consorzio per la tutela del fromaggio Gorgonzola).
17
5. Auch im Übrigen hat die auf Grund der Sachrüge gebotene Überprüfung des Urteils keine den Angeklagten belastenden Rechtsfehler ergeben. Dies gilt auch für die Entscheidung des Landgerichts, die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafen nicht zur Bewährung auszusetzen.
18
Die Strafkammer hat eine umfassende Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit der Angeklagten einschließlich deren Nachtatverhalten vorgenommen und das ihr insoweit zukommende Ermessen, dessen Ausübung das Revisionsgericht im Zweifel bis zur Grenze des Vertretbaren zu respektieren hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 20. Dezember 1994 - 1 StR 688/94, NJW 1995, 1038), pflichtgemäß ausgeübt. Rechtsfehler zeigen die Revisionen in diesem Zusammenhang nicht auf.
19
6. Die sofortige Beschwerde des Angeklagten R. gegen die Kosten - und Auslagenentscheidung im angefochtenen Urteil ist als unbegründet zu verwerfen, da die Entscheidung der Rechtslage entspricht.
Nack Wahl Graf Jäger Sander

Urteilsbesprechung zu Bundesgerichtshof Beschluss, 27. Sept. 2011 - 1 StR 399/11

Urteilsbesprechungen zu Bundesgerichtshof Beschluss, 27. Sept. 2011 - 1 StR 399/11

Referenzen - Gesetze

Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafgesetzbuch - StGB | § 14 Handeln für einen anderen


(1) Handelt jemand 1. als vertretungsberechtigtes Organ einer juristischen Person oder als Mitglied eines solchen Organs,2. als vertretungsberechtigter Gesellschafter einer rechtsfähigen Personengesellschaft oder3. als gesetzlicher Vertreter eines an
Bundesgerichtshof Beschluss, 27. Sept. 2011 - 1 StR 399/11 zitiert 4 §§.

Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafgesetzbuch - StGB | § 14 Handeln für einen anderen


(1) Handelt jemand 1. als vertretungsberechtigtes Organ einer juristischen Person oder als Mitglied eines solchen Organs,2. als vertretungsberechtigter Gesellschafter einer rechtsfähigen Personengesellschaft oder3. als gesetzlicher Vertreter eines an

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Bundesgerichtshof Beschluss, 27. Sept. 2011 - 1 StR 399/11 zitiert oder wird zitiert von 2 Urteil(en).

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Bundesgerichtshof Beschluss, 11. Aug. 2011 - 1 StR 295/11

bei uns veröffentlicht am 11.08.2011

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 1 StR 295/11 vom 11. August 2011 BGHSt: nein BGHR: nein Nachschlagewerk: nein Veröffentlichung: ja ____________________________ StGB § 266a Abs. 2 Bei illegalen Beschäftigungsverhältnissen, die den Tatbestand des
1 Urteil(e) in unserer Datenbank zitieren Bundesgerichtshof Beschluss, 27. Sept. 2011 - 1 StR 399/11.

Bundesgerichtshof Beschluss, 04. Sept. 2013 - 1 StR 94/13

bei uns veröffentlicht am 04.09.2013

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS 1 StR 94/13 vom 4. September 2013 in der Strafsache gegen 1. 2. wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt u.a. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 4. September 2013 gemäß § 154 Abs. 2, § 349

Referenzen

(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Handelt jemand

1.
als vertretungsberechtigtes Organ einer juristischen Person oder als Mitglied eines solchen Organs,
2.
als vertretungsberechtigter Gesellschafter einer rechtsfähigen Personengesellschaft oder
3.
als gesetzlicher Vertreter eines anderen,
so ist ein Gesetz, nach dem besondere persönliche Eigenschaften, Verhältnisse oder Umstände (besondere persönliche Merkmale) die Strafbarkeit begründen, auch auf den Vertreter anzuwenden, wenn diese Merkmale zwar nicht bei ihm, aber bei dem Vertretenen vorliegen.

(2) Ist jemand von dem Inhaber eines Betriebs oder einem sonst dazu Befugten

1.
beauftragt, den Betrieb ganz oder zum Teil zu leiten, oder
2.
ausdrücklich beauftragt, in eigener Verantwortung Aufgaben wahrzunehmen, die dem Inhaber des Betriebs obliegen,
und handelt er auf Grund dieses Auftrags, so ist ein Gesetz, nach dem besondere persönliche Merkmale die Strafbarkeit begründen, auch auf den Beauftragten anzuwenden, wenn diese Merkmale zwar nicht bei ihm, aber bei dem Inhaber des Betriebs vorliegen. Dem Betrieb im Sinne des Satzes 1 steht das Unternehmen gleich. Handelt jemand auf Grund eines entsprechenden Auftrags für eine Stelle, die Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt, so ist Satz 1 sinngemäß anzuwenden.

(3) Die Absätze 1 und 2 sind auch dann anzuwenden, wenn die Rechtshandlung, welche die Vertretungsbefugnis oder das Auftragsverhältnis begründen sollte, unwirksam ist.

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 295/11
vom
11. August 2011
BGHSt: nein
BGHR: nein
Nachschlagewerk: nein
Veröffentlichung: ja
____________________________
Bei illegalen Beschäftigungsverhältnissen, die den Tatbestand des § 266a
Abs. 2 erfüllen, wirkt die Unmöglichkeit der Beitragsentrichtung - anders als im
originären Anwendungsbereich des § 266a Abs. 1 StGB (vgl. insoweit BGH,
Beschluss vom 28. Mai 2002 - 5 StR 16/02, BGHSt 47, 318) - regelmäßig nicht
tatbestandsausschließend.
BGH, Beschluss vom 11. August 2011 - 1 StR 295/11 - LG Coburg
in der Strafsache
gegen
wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 11. August 2011 beschlossen
:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
Coburg vom 16. Februar 2011 wird als unbegründet verworfen,
da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung
keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.
Ergänzend bemerkt der Senat:
1. Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen waren die in den
„Drückerkolonnen“ des Angeklagten beschäftigten Personen vollständig in den
Betrieb des Unternehmens des Angeklagten eingegliedert und dessen Weisungen
unterworfen. Diese Feststellungen tragen die rechtliche Wertung des
Landgerichts, dass der Angeklagte Arbeitgeber der in seinem Unternehmen
beschäftigten Personen war. Für die Beurteilung, ob ein sozialversicherungsund
lohnsteuerpflichtiges Arbeitsverhältnis vorliegt, sind allein die tatsächlichen
Gegebenheiten maßgeblich. Liegt danach ein Arbeitsverhältnis vor, können die
Vertragsparteien die sich hieraus ergebenden Beitragspflichten nicht durch eine
abweichende vertragliche Gestaltung beseitigen (vgl. BGH, Beschluss vom
7. Oktober 2009 - 1 StR 478/09, NStZ 2010, 337 mwN). Dem steht auch die
von der Revision angeführte Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom
9. Juni 2010 (5 AZR 332/09, NJW 2010, 2455) nicht entgegen. Danach ist bei
der Gesamtwürdigung eines Sachverhaltes zur Klärung der Frage, ob ein Ar-
beitsverhältnis vorliegt „zudem die Vertragstypenwahl der Parteien zu berücksichtigen“.
Lediglich dann, „wenn die tatsächliche Handhabung nicht zwingend
für ein Arbeitsverhältnis spricht, müssen sich die Parteien an dem von ihnen
gewählten Vertragstypus festhalten lassen“ (BAG aaO 2457). Vorliegend sind
indes auf Grundlage der getroffenen Feststellungen die Voraussetzungen eines
Arbeitsverhältnisses zweifelsfrei gegeben.
2. Das Landgericht hat der Verurteilung auch keine zu hohen Schwarzlohnsummen
zu Grunde gelegt. Soweit die Revision in diesem Zusammenhang geltend
macht, die Einbeziehung der Zahlungen des Angeklagten für Verpflegung
und Unterkunft der Arbeitnehmer sei zu Unrecht erfolgt, verkennt sie, dass die
Zahlungen nicht zusätzlich, sondern anstatt des Gehaltes gezahlt worden sind.
Bereits aus diesem Grund greift die Einschränkung des § 1 ArEV bzw. des § 1
Abs. 1 Nr. 1 SvEV nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Juli 2009 - 1 StR 150/09,
NStZ-RR 2009, 339).
3. Angesichts der Tatsache, dass das Landgericht sowohl die Höhe der an die
Arbeitnehmer gezahlten Schwarzlöhne als auch die Beitragssätze der zuständigen
Krankenkassen rechtsfehlerfrei festgestellt hat, ist dem Senat auch ohne
weiteres die Überprüfung der durch die Taten verursachten Schäden möglich.
Die auf Grundlage der getroffenen Feststellungen vorzunehmende Hochrechnung
der Schwarzlöhne nach § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IV und die sich daran
anschließende Berechnung der vorenthaltenen Sozialversicherungsbeiträge ist
Rechtsanwendung. Insoweit gilt ebenso wie bei der Berechnungsdarstellung im
Falle der Verurteilung wegen Steuerhinterziehung, dass das Tatgericht nicht
gehalten ist, den eigentlichen Berechnungsvorgang als Teil der Subsumtion im
Urteil darzustellen, sofern dieser vom Revisionsgericht selbst durchgeführt wer-
den kann. Freilich empfiehlt sich eine solche Berechnungsdarstellung auch bei
der Verurteilung wegen Taten nach § 266a StGB, weil sie die Nachvollziehbarkeit
des Urteils erleichtert. Zudem bietet die Berechnungsdarstellung die Möglichkeit
zu kontrollieren, ob die im konkreten Fall erheblichen Tatsachen im angefochtenen
Urteil festgestellt sind (vgl. insoweit auch BGH, Urteil vom 12. Mai
2009 - 1 StR 718/08, NStZ 2009, 639).
4. Dass - wie von der Revision behauptet - dem Angeklagten die Zahlung der
Sozialversicherungsbeiträge unmöglich gewesen wäre, ergibt sich - wie der
Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend feststellt - aus den
Urteilsgründen nicht. Anhaltspunkte, die weitere Feststellungen der Strafkammer
zur Zahlungsfähigkeit geboten hätten, sind nicht ersichtlich. Auch die Revision
trägt insoweit keine Umstände von Gewicht vor.
Dessen ungeachtet wirkt in Fällen der vorliegenden Art - d.h. bei illegalen Beschäftigungsverhältnissen
- die Unmöglichkeit der Beitragsentrichtung - anders
als im originären Anwendungsbereich des § 266a Abs. 1 StGB (vgl. insoweit
BGH, Beschluss vom 28. Mai 2002 - 5 StR 16/02, BGHSt 47, 318) - regelmäßig
nicht tatbestandsausschließend.
Anders als im Rahmen von § 266a Abs. 1 StGB besteht vorliegend die Tathandlung
nicht im Vorenthalten - also dem schlichten Nichtzahlen - der Sozialversicherungsbeiträge.
Hier ist das Vorenthalten vielmehr Folge der in § 266a
Abs. 2 StGB definierten Tathandlungen. Bei dem Tatbestand des § 266a
Abs. 2 Nr. 1 StGB handelt es sich dabei um ein Erfolgsdelikt, das an einem aktiven
Tun anknüpft. Lediglich im Rahmen des Tatbestands des § 266a Abs. 2
Nr. 2 StGB ist ein echtes Unterlassungsdelikt gegeben (Fischer, StGB 58. Aufl.,
§ 266a Rn. 21). Anders als § 266a Abs. 1 StGB enthält der Tatbestand des
§ 266a Abs. 2 StGB mithin über die Nichtzahlung hinausgehende Unrechtselemente
(vgl. Wiedner in Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht,
1. Aufl. 2011, § 266a Rn. 64: „Die Pflichtverletzungen des Arbeitgebers nach
Nr. 1 und 2 verkörpern ein erhöhtes Unrecht und eine typische Gefahrerhöhung
im Hinblick auf die eintretende Beitragsvorenthaltung“).
Hierbei ist zwischen den das Unrecht des Tatbestands prägenden Tathandlungen
des § 266a Abs. 2 StGB und dem Vorenthalten als deren Folge keine strikte
äquivalente Kausalität in dem Sinne erforderlich, dass der Arbeitgeber ohne
die Tathandlung - also bei ordnungsgemäßen Angaben - die Beiträge gezahlt
haben müsste. Der Zusammenhang ist vielmehr wie im Fall des gleichlautenden
§ 370 Abs. 1 AO funktional zu verstehen (vgl. Wiedner aaO), was auch der
Absicht des Gesetzgebers entspricht, die Vorenthaltung von Sozialversicherungsbeiträgen
bei Verletzung von Erklärungspflichten in Anlehnung an § 370
AO unter Strafe zu stellen (BT-Drucks. 15/2573 S. 28).
Die bei Verwirklichung des Tatbestandes des § 266a Abs. 1 StGB als echtem
Unterlassensdelikt geltenden allgemeinen Grundsätze, wonach dem Handlungspflichtigen
die Erfüllung seiner gesetzlichen Pflicht möglich und zumutbar
sein müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Mai 2002 - 5 StR 16/02, BGHSt 47,
318, 320), können daher hinsichtlich der Tatbestandsalternative des § 266a
Abs. 2 Nr. 1 StGB von vornherein keine Anwendung finden. Lediglich bei dem
echten Unterlassungsdelikt des § 266a Abs. 2 Nr. 2 StGB sind sie zu beachten.
Möglich und zumutbar muss dann allerdings nur die Erfüllung der Handlungspflichten
sein, deren Verletzung im Tatbestand vorausgesetzt wird. Das sind die
sozialversicherungsrechtlichen Meldepflichten, namentlich die nach § 28a SGB
IV. Demgegenüber gelten sie nicht im Hinblick auf die Folge des Unterlassens,
d.h. dem Vorenthalten der Sozialversicherungsbeiträge.
Soweit in Fällen der vorliegenden Art der Tatbestand des § 266a Abs. 1 StGB
ebenfalls durch betrugsähnliche, in § 266a Abs. 2 StGB beschriebene Handlungen
verwirklicht und Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung vorenthalten
werden, finden die für echte Unterlassensdelikte geltenden allgemeinen
Grundsätze aufgrund der vorstehenden Erwägungen ebenfalls keine Anwendung.
Denn der Gesetzgeber beabsichtigte insoweit eine einheitliche Anwendung
beider Absätze in der Praxis (BT-Drucks. 15/2573 S. 28), die im Hinblick
auf den über das schlichte Nichtzahlen der angemeldeten Sozialversicherungsbeiträge
hinausgehenden Unrechtsgehalt der Taten auch geboten ist. Hinzu
kommt, dass im Hinblick auf eine eventuelle Unmöglichkeit der Zahlung der
Arbeitnehmeranteile in Fällen der vorliegenden Art regelmäßig ein schuldhaftes
Vorverhalten gegeben ist („omissio libera in causa“, vgl. insoweit BGH, Be-
schluss vom 28. Mai 2002 - 5 StR 16/02, BGHSt 47, 318, 320 ff.), so dass die
Unmöglichkeit der Zahlung der Beiträge zum Fälligkeitszeitpunkt ohnehin nicht
tatbestandsausschließend wirken würde (vgl. auch BGH, Urteil vom 13. Mai
1987 - 3 StR 460/86, wistra 1987, 290, 291 f.).
Dem steht auch § 266a Abs. 6 StGB nicht entgegen. Ungeachtet des ohnehin
eingeschränkten Anwendungsbereichs, den die Vorschrift bei Taten nach
§ 266a Abs. 2 StGB hat (vgl. Laitenberger NJW 2004, 2703, 2706; Joecks
wistra 2004, 441, 443), bleibt der Strafaufhebungsgrund des § 266a Abs. 6
StGB erhalten, soweit die Tat nach § 266a Abs. 2 StGB begangen wurde, weil
eine fristgemäße Zahlung nicht möglich war. In Fällen der vorliegenden Art, bei
denen die Tat keine Reaktion auf wirtschaftliche Probleme des Arbeitgebers,
sondern vielmehr Folge eines von vornherein auf Umgehung der Beitragszahlungen
angelegten Tatplans war, ist demgegenüber für die Anwendung des
§ 266a Abs. 6 StGB ohnehin kein Raum (vgl. Laitenberger aaO).
Die vorstehende, sich aus Wortlaut und Systematik der Vorschrift ergebende
Auslegung wird zudem - neben den bereits angeführten Gesichtspunkten aus
der Entstehungsgeschichte des Tatbestands - vom Willen des Gesetzgebers
getragen. Mit der Einführung des neuen § 266a Abs. 2 StGB durch das Gesetz
zur Intensivierung der Bekämpfung der Schwarzarbeit und damit zusammenhängender
Steuerhinterziehung vom 23. Juli 2004 (BGBl. I, 1842) sollten die
Strafbarkeitslücken geschlossen werden, die bis dahin in Fällen des Beitragsbetrugs
gegeben waren (vgl. BT-Drucks. 15/2573 S. 28). Der Tatbestand des
§ 263 StGB war in Fällen der vorliegenden Art nach zutreffender Auffassung
bereits dann erfüllt, wenn die Beitragsforderungen irrtumsbedingt nicht festgesetzt
und beigetrieben wurden (vgl. BGH, Urteil vom 20. Oktober 1983 - 4 StR
477/83, wistra 1984, 66, 67; BGH, Urteil vom 25. Januar 1984 - 3 StR 278/83,
BGHSt 32, 236, 240; BGH, Urteil vom 13. Mai 1987 - 3 StR 460/86, wistra
1987, 290, 291 f.; a.A. obiter dictum BGH, Beschluss vom 12. Februar 2003
- 5 StR 165/02, NJW 2003, 1821, 1824). Dass der Gesetzgeber dahinter zurückbleiben
wollte, ist nicht ersichtlich.
Der Schriftsatz der Verteidigung vom 8. August 2011 lag dem Senat bei dieser
Entscheidung vor.
Nack Elf Graf
RiBGH Prof. Dr. Jäger ist
urlaubsabwesend und deshalb
an der Unterschrift gehindert.
Nack Sander