Bundesgerichtshof Beschluss, 17. Juli 2003 - 1 StR 34/03
Gericht
BUNDESGERICHTSHOF
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg: Die Strafkammer hat handschriftlich von der Zeugin I. A. niedergelegte Schriftstücke, vornehmlich Briefe, zur Beweisführung gegen den die Taten bestreitenden Angeklagten verwendet, die nicht vollen Umfangs Gegenstand der Beweiserhebung waren. Zu Recht beanstandet die Revision, daß das Landgericht bei seiner Beweisführung Beweismittel verwertet, die es nicht prozeßordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt hat und deshalb seine Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten nicht vollständig aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung geschöpft hat (§ 261 StPO).1. Die Strafkammer stellt für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage der Zeugin I. A. , der Schwiegertochter des Angeklagten und den Urteilsgründen zufolge Opfer der Vergewaltigungen, maßgeblich auch darauf ab, daß der Angeklagte der Zeugin mehrere Briefe und eine Bestätigung "Wort für Wort" diktiert habe. Die Verteidigung hatte diese Texte im Verfahren - zum Teil in Kopie - vorgelegt, um zu belegen, daß die Zeugin I. A. sich gegen ihre eigenen Eltern gewandt habe und daß sie Gerüchten entgegengetreten sei, sie werde in der Familie ihres Ehemannes und ihres Schwiegervaters - des Angeklagten - isoliert und schlecht behandelt. I. A. hat hingegen ausgesagt , sie habe die Schriftstücke auf Veranlassung des Angeklagten schreiben müssen; dieser habe ihr die Texte, die auch unzutreffende Behauptungen enthalten hätten, Wort für Wort diktiert. Die Strafkammer hat die Aussage I. A. s für glaubhaft erachtet. Sie ist ihr auch insoweit gefolgt, als sie bekundet hat, der Angeklagte habe sie angehalten, die Texte zu schreiben und ihr diese wörtlich diktiert. Dabei stützt sich die Strafkammer auf das aussagepsychologische Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. S. , dem die Texte der Zeugin I. A. als Anknüpfungstatsachen zur Verfügung standen; darüber hinaus nimmt sie aber auch eine eigenständige Bewertung der Schriftsücke vor. Sie hebt hervor, daß „die Formulierungen, der Satzbau und die gesamte Diktion der Briefe (Bl. 92/99 und 101/106 d.A.)“ eindeutig dagegen sprächen, daß diese dem Inhalt nach von I. A. stammten (UA S. 152). 2. Die in Rede stehenden, handschriftlich von der Zeugin I. A. verfaßten Urkunden sind in den Urteilsgründen vollständig in Ablichtung wiedergegeben ("hineinkopiert"; UA S. 14 a bis 14 n) worden. In der Beweisaufnahme sind sie laut Protokoll überwiegend nur "auszugsweise" verlesen worden (§ 249 Abs. 1 Satz 1 StPO). Die verlesenen Teile wurden dabei - entgegen § 273 Abs. 1 StPO (vgl. Gollwitzer in Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. § 273 Rdn. 16)
nicht bezeichnet. Im Hinblick auf die insoweit unklare Sitzungsniederschrift hat der Senat auf entsprechenden Vortrag der Revision im Wege des Freibeweises zum Umfang der Verlesung Dienstliche Äußerungen der berufsrichterlichen Mitglieder der Strafkammer eingeholt. Diese ergaben, daß weite Teile der Schreiben nicht Gegenstand der Urkundsbeweiserhebung waren. 3. Die Strafkammer hat damit ihre Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten nicht allein aus dem Inhalt der Hauptverhandlung geschöpft (§ 261 StPO).
a) Die von I. A. niedergelegten Texte sind in ihrer Deutung tragende Elemente der Beweisführung des Landgerichts. Sie sind mehrere Seiten lang; die Strafkammer stellt auf die Formulierungen, namentlich den Satzbau und den Stil ab. Sie durften daher nicht nur im Wege der Zeugenaussage auf Vorhalt hin und als Anknüpfungstatsachen durch das Sachverständigengutachten in die Beweisaufnahme eingeführt werden; sie bedurften vielmehr des Urkundsbeweises , wenn die Strafkammer unmittelbar auf sie zurückgreifen und nicht nur das Sachverständigengutachten als Beweismittel heranziehen wollte (vgl. BGHSt 11, 159).
b) Die Strafkammer hat die Texte auch zum Zwecke des Beweises verwertet , nicht nur zur Vervollständigung der Urteilsgründe mit nicht beweisbedürftigen Tatsachen (vgl. BGHSt 11, 159, 162). Die Formulierungen der Texte werden für die Bewertung herangezogen, daß diese in ihrem gedanklichen Inhalt und in der Fassung vom Angeklagten herrühren und dieser sie der Zeugin I. A. diktiert habe. Dies aber ist mittragend dafür, daß die Strafkammer die Aussage I. A. s für glaubhaft erachtet hat.
4. Der Senat vermag nicht auszuschließen, daß das Urteil auf dem Verfahrensverstoß beruht. Die Existenz, den Inhalt und die eigenhändige Niederschrift der Urkunden durch die Zeugin I. A. haben Verteidigung und Angeklagter zwar nicht bestritten, vielmehr die Schriftstücke als von I. A. verfaßt vorgelegt. Für die Beweiswürdigung ist es danach aber weiter darauf angekommen, ob die Texte nach Formulierung und Diktion vom Angeklagten diktiert waren und auch gedanklich von ihm stammten, wie die Zeugin A. bekundet hat. Daß für die Beweisführung hier möglicherweise schon die auszugsweise Verlesung weiter Teile der Schriftstücke und das Sachverständigengutachten eine hinreichend tragfähige Beweisgrundlage hätten abgeben können, muß dahingestellt bleiben. Die Strafkammer hat die Texte vollständig in die Urteilsgründe eingefügt und sie damit von Anfang bis Ende beweiskräftig festgestellt. Sie hat sie - neben dem Sachverständigengutachten - einer Würdigung unterzogen, bei der sie u.a. auf die "gesamte Diktion" abhebt und in Klammern zudem die Blattzahlen der Aktenfundstellen zitiert, welche die Schriftstücke vollumfänglich bezeichnen. Daraus erhellt, daß sie bei ihrer Beweiswürdigung auf die gesamten Urkunden zugegriffen hat. An dieser Bewertung mußten die beiden Schöffen teilhaben, die ihr Richteramt gleichwertig ausüben, denen aber der "Blick in die Akten" grundsätzlich verwehrt ist. Unter diesen Umständen steht fest, daß die Strafkammer - unter Mitwirkung der Schöffen - die Überzeugung von der Täterschaft des Angeklagten auch auf der Grundlage der vollständigen, originalgetreu im Wege der Ablichtung in die Urteilsgründe aufgenommenen in Rede stehenden Schriften der Zeugin I. A. gewonnen hat, diese aber nicht vollständig Gegenstand einer prozeßordnungsgemäßen Beweiserhebung waren.
Das angefochtene Urteil unterliegt infolgedessen der Aufhebung; die Sache bedarf neuer Verhandlung und Entscheidung. Nack Schluckebier Herr RiBGH Dr. Kolz ist in Urlaub und deshalb an der Unterschrift gehindert. Nack
Hebenstreit Frau Richterin am BGH Elf ist in Urlaub und deshalb an der Unterschrift gehindert. Nack
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Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.
(1) Urkunden sind zum Zweck der Beweiserhebung über ihren Inhalt in der Hauptverhandlung zu verlesen. Elektronische Dokumente sind Urkunden, soweit sie verlesbar sind.
(2) Von der Verlesung kann, außer in den Fällen der §§ 253 und 254, abgesehen werden, wenn die Richter und Schöffen vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis genommen haben und die übrigen Beteiligten hierzu Gelegenheit hatten. Widerspricht der Staatsanwalt, der Angeklagte oder der Verteidiger unverzüglich der Anordnung des Vorsitzenden, nach Satz 1 zu verfahren, so entscheidet das Gericht. Die Anordnung des Vorsitzenden, die Feststellungen über die Kenntnisnahme und die Gelegenheit hierzu und der Widerspruch sind in das Protokoll aufzunehmen.
(1) Das Protokoll muß den Gang und die Ergebnisse der Hauptverhandlung im wesentlichen wiedergeben und die Beachtung aller wesentlichen Förmlichkeiten ersichtlich machen, auch die Bezeichnung der verlesenen Urkunden oder derjenigen, von deren Verlesung nach § 249 Abs. 2 abgesehen worden ist, sowie die im Laufe der Verhandlung gestellten Anträge, die ergangenen Entscheidungen und die Urteilsformel enthalten. In das Protokoll muss auch der wesentliche Ablauf und Inhalt einer Erörterung nach § 257b aufgenommen werden.
(1a) Das Protokoll muss auch den wesentlichen Ablauf und Inhalt sowie das Ergebnis einer Verständigung nach § 257c wiedergeben. Gleiches gilt für die Beachtung der in § 243 Absatz 4, § 257c Absatz 4 Satz 4 und Absatz 5 vorgeschriebenen Mitteilungen und Belehrungen. Hat eine Verständigung nicht stattgefunden, ist auch dies im Protokoll zu vermerken.
(2) Aus der Hauptverhandlung vor dem Strafrichter und dem Schöffengericht sind außerdem die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen in das Protokoll aufzunehmen; dies gilt nicht, wenn alle zur Anfechtung Berechtigten auf Rechtsmittel verzichten oder innerhalb der Frist kein Rechtsmittel eingelegt wird. Der Vorsitzende kann anordnen, dass anstelle der Aufnahme der wesentlichen Vernehmungsergebnisse in das Protokoll einzelne Vernehmungen im Zusammenhang als Tonaufzeichnung zur Akte genommen werden. § 58a Abs. 2 Satz 1 und 3 bis 6 gilt entsprechend.
(3) Kommt es auf die Feststellung eines Vorgangs in der Hauptverhandlung oder des Wortlauts einer Aussage oder einer Äußerung an, so hat der Vorsitzende von Amts wegen oder auf Antrag einer an der Verhandlung beteiligten Person die vollständige Protokollierung und Verlesung anzuordnen. Lehnt der Vorsitzende die Anordnung ab, so entscheidet auf Antrag einer an der Verhandlung beteiligten Person das Gericht. In dem Protokoll ist zu vermerken, daß die Verlesung geschehen und die Genehmigung erfolgt ist oder welche Einwendungen erhoben worden sind.
(4) Bevor das Protokoll fertiggestellt ist, darf das Urteil nicht zugestellt werden.
Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung.