Bundesgerichtshof Beschluss, 27. Juni 2019 - 1 StR 112/19
Gericht
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung der Beschwerdeführerin und des Generalbundesanwalts – zu 2. auf dessen Antrag – am 27. Juni 2019 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
Gründe:
- 1
- Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung der Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die hiergegen gerichtete Revision der Beschuldigten, mit der sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt, hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
I.
- 2
- Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet die Beschuldigte spätestens seit 2009 unter paranoider Schizophrenie. Infolge ihrer Wahnvorstellungen und Verfolgungsängste fühlte sie sich durch zufällig angetroffene Kinder sowie Jugendliche bedroht und griff diese in vier Fällen im Zeitraum vom 16. September 2017 bis 28. Dezember 2017 unter Beleidigungen bzw. bei einer Tat unter Anspucken an: In einem Fall traf sie mit einem Regenschirm eine Mutter , die sich schützend vor ihre Tochter stellte, an der Schulter. Im zweiten Fall schubste die Beschuldigte ein Mädchen, verfehlte es mit dem Schirm und schlug ihm mit der flachen Hand gegen die Schulter sowie den Oberarm. Bei der dritten Tat schlug die Beschuldigte einem Jungen mehrere Zeitungen auf den Kopf. Im vierten Fall hieb sie mit dem Schirm gegen die Beifahrertür eines Wagens, in welchen sich ein Mädchen gesetzt hatte, das die Beschuldigte zu Unrecht des Diebstahls bezichtigte. Die Beschuldigte konnte in allen Fällen infolge der paranoiden Schizophrenie das Unrecht ihrer Taten nicht einsehen.
II.
- 3
- Die Unterbringungsentscheidung hält der sachlichrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die Gefahrenprognose ist nicht tragfähig begründet.
- 4
- 1. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme , die besonders gravierend in die Rechte des Betroffenen eingreift. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür besteht, dass vom Täter infolge seines fortdauernden Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer see- lisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstaten zu stellen und hat sich darauf zu erstrecken , ob und welche rechtswidrigen Taten vom Täter infolge seines Zustands drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit, Rückfallfrequenz ) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Juli 2013 – 2 BvR 2957/12 Rn. 27; BGH, Beschluss vom 7. Juni 2016 – 4 StR 79/16 Rn. 6). Bei den zu erwartenden Taten muss es sich um solche handeln, die geeignet erscheinen, den Rechtsfrieden schwer zu stören sowie das Gefühl der Rechtssicherheit erheblich zu beeinträchtigen, und die damit zumindest dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind (st. Rspr.; BGH, Urteile vom 22. Mai 2019 – 5 StR 683/18 Rn. 15; vom 11. Oktober 2018 – 4 StR 195/18 Rn. 17 und vom 26. Juli 2018 – 3 StR 174/18 Rn. 12). An die Darlegung der künftigen Gefährlichkeit sind umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr es sich bei dem zu beurteilenden Sachverhalt unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (§ 62 StGB) um einen Grenzfall handelt (BGH, Beschlüsse vom 4. Juli 2012 – 4 StR 224/12 Rn. 8 und vom 8. November 2006 – 2 StR 465/06 Rn. 8).
- 5
- Der Umstand, dass ein Täter trotz bestehender Grunderkrankungen in der Vergangenheit über einen längeren Zeitraum nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, kann dabei ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger gefährlicher Straftaten sein und ist deshalb regelmäßig zu erörtern (st. Rspr.; BGH, Beschlüsse vom 7. Mai 2019 – 4 StR 135/19 Rn. 6; vom 4. Juli 2012 – 4 StR 224/12 Rn. 11 und vom 9. Mai 2019 – 5 StR 109/19 Rn. 14; Urtei- le vom 22. Mai 2019 – 5 StR 99/19 Rn. 9 und vom 17. November 1999 – 2 StR 453/99 Rn. 5, BGHR StGB § 63 Gefährlichkeit 27).
- 6
- 2. Daran gemessen erweisen sich die Erwägungen, mit denen das Landgericht seine Gefahrenprognose begründet hat, als lückenhaft. Denn die Strafkammer hätte sich auch mit dem Umstand auseinandersetzen müssen, dass die Beschuldigte trotz ihrer psychischen Erkrankung seit 2009 während nennenswerter Zeiträume, so etwa von Ende Oktober 2013 bis Mai 2015 oder von Mitte Mai 2015 bis zur ersten hier gegenständlichen Tat vom 16. September 2017, keine vergleichbaren Taten beging. Zudem bleibt unerörtert, wie sich die Beschuldigte innerhalb der in dieser Sache angeordneten einstweiligen Unterbringung (§ 126a StPO) verhalten hat (vgl. BGH, Urteil vom 22. Mai 2019 – 5 StR 99/19 Rn. 9), auch wenn diese Freiheitsentziehung bis zur Urteilsverkündung nur drei Monate umfasste.
- 7
- 3. Die Feststellungen sind von dem Erörterungsmangel nicht betroffen und können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Das nunmehr zur Entscheidung berufene Tatgericht wird sich überdies eingehender mit der Erheblichkeit der Anlasstaten und der zu erwartenden Taten auseinanderzusetzen und sie zu werten haben. Es kann ergänzende Feststellungen treffen, sofern diese den aufrechterhaltenen nicht widersprechen.
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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.
(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.
(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.
(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.
(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.
Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.
Eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht.
Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§ 20) oder der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Handelt es sich bei der begangenen rechtswidrigen Tat nicht um eine im Sinne von Satz 1 erhebliche Tat, so trifft das Gericht eine solche Anordnung nur, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustandes derartige erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.
(1) Sind dringende Gründe für die Annahme vorhanden, daß jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder verminderten Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 des Strafgesetzbuches) begangen hat und daß seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt angeordnet werden wird, so kann das Gericht durch Unterbringungsbefehl die einstweilige Unterbringung in einer dieser Anstalten anordnen, wenn die öffentliche Sicherheit es erfordert.
(2) Für die einstweilige Unterbringung gelten die §§ 114 bis 115a, 116 Abs. 3 und 4, §§ 117 bis 119a, 123, 125 und 126 entsprechend. Die §§ 121, 122 gelten entsprechend mit der Maßgabe, dass das Oberlandesgericht prüft, ob die Voraussetzungen der einstweiligen Unterbringung weiterhin vorliegen.
(3) Der Unterbringungsbefehl ist aufzuheben, wenn die Voraussetzungen der einstweiligen Unterbringung nicht mehr vorliegen oder wenn das Gericht im Urteil die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt nicht anordnet. Durch die Einlegung eines Rechtsmittels darf die Freilassung nicht aufgehalten werden. § 120 Abs. 3 gilt entsprechend.
(4) Hat der Untergebrachte einen gesetzlichen Vertreter oder einen Bevollmächtigten im Sinne des § 1831 Absatz 5 und des § 1820 Absatz 2 Nummer 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches, so sind Entscheidungen nach Absatz 1 bis 3 auch diesem bekannt zu geben.