Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 17. Nov. 2016 - 20 B 15.50179

published on 17/11/2016 00:00
Bayerischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss, 17. Nov. 2016 - 20 B 15.50179
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Verwaltungsgericht Augsburg, Au 7 K 14.50057, 20/10/2014

Gericht

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Tenor

I.

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 20. Oktober 2014 wird aufgehoben, soweit es Ziffer 1. des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 17. März 2014 aufgehoben hat.

II.

Die Beteiligten tragen die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

III.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I. Der Kläger ist eigenen Angaben zufolge Staatsangehöriger von Somalia. Er hatte bereits am 16. August 2010 erstmals in der Bundesrepublik Deutschland erfolglos Asyl beantragt. Nach zwischenzeitlich erfolgter Ausreise aus der Bundesrepublik Deutschland reiste er erneut in die Bundesrepublik ein und stellte am 12. August 2013 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylfolgeantrag.

Eine Überprüfung der bei ihm genommenen Fingerabdrücke ergab einen EURODAC-Treffer der Kategorie 1 für die Niederlande. Auf ein vom Bundesamt gestelltes Wiederaufnahmegesuch erklärten die Niederlande mit Schreiben vom 17. Januar 2014 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags gemäß Art. 20 Abs. 1 Buchst. b /c der Dublin-II-Verordnung.

Mit Bescheid vom 17. März 2014 lehnte die Beklagte den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ab (Ziffer 1.) und ordnete die Abschiebung in die Niederlande an (Ziffer 2.).

Hiergegen lies der Kläger durch seinen damaligen Bevollmächtigten am 7. April 2014 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erheben mit dem Antrag die Ziffer 2. des Bescheids der Beklagten vom 17. März 2014, zugestellt an den Unterfertigten am 31. März 2014, aufzuheben.

Die Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren einverstanden.

Mit Urteil vom 20. Oktober 2014 hob das Verwaltungsgericht den Bescheid vom 17. März 2014 in Gänze auf. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass der Bescheid insgesamt rechtswidrig und daher aufzuheben sei, weil inzwischen nicht mehr der niederländische Staat, sondern die Bundesrepublik Deutschland für die Prüfung des Asylantrages zuständig sei. Dies ergebe sich aus dem zwischenzeitlich erfolgten Ablauf der Überstellungsfrist nach der Dublin-II-VO.

Hiergegen wendet sich die Beklagte mit der vom Senat zugelassenen Berufung. Sie beantragt,

unter Abänderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung die Klage abzuweisen, soweit es die Aufhebung der Asylantragsablehnung gemäß Ziffer 1. des angegriffenen Bescheids betrifft.

Ausweislich des eindeutigen Klageantrags sei das Verwaltungsgericht bereits nicht befugt gewesen, eine vollständige Bescheidsaufhebung auszusprechen.

Der Senat hat die Beteiligten mit Schreiben vom 22. September 2016 zur Sache und zur Möglichkeit einer Entscheidung nach § 130a VwGO angehört.

Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze, die Behördenakten des Bundesamts und die Akten des Verwaltungsgerichts Bezug genommen.

II. Die zulässige Berufung ist begründet. Über die Berufung konnte nach vorheriger Anhörung der Beteiligten entsprechend § 130a VwGO durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil der Senat die Berufung der Beklagten einstimmig für begründet hält.

Streitgegenständlich im Berufungsverfahren ist allein die Frage, ob das Verwaltungsgericht auch Ziffer 1. des streitgegenständlichen Bescheids aufheben durfte. Soweit das Verwaltungsgericht Ziffer 2. des streitgegenständlichen Bescheids aufgehoben hat, hat die Beklagte dies zulässigerweise nicht zum Gegenstand des Berufungsverfahrens gemacht.

Die Berufung ist begründet, da das Verwaltungsgericht gegen § 88 VwGO verstoßen hat, indem es, obwohl dies nicht beantragt war, auch Ziffer 1. des Bescheids des Bundesamts vom 17. März 2014 aufgehoben hat.

Nach § 88 VwGO darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Was Klagebegehren ist, ermittelt das Gericht grundsätzlich aus dem Klageantrag, der Klagebegründung und ggf. der Verwaltungsakte sowie den Erklärungen zu Protokoll in der mündlichen Verhandlung (vgl. zum Ganzen Ortloff/Riese in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 30. Ergänzungslieferung Februar 2016, § 88 Rn. 5).

Da die Entscheidung hier ohne mündliche Verhandlung erging, scheiden Protokollerklärungen der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung zur Auslegung des Klagebegehrens von vornherein aus. Die Klage richtete sich ausweislich der Klagebegründung und des von einem Rechtsanwalt gestellten Klageantrags allein gegen die in Ziffer 2. des Bescheids verfügte Abschiebung in die Niederlande mit der Begründung, dass dort eine menschenunwürdige Behandlung des Klägers wegen fehlender Unterstützungsleistungen durch den niederländischen Staat drohe, mithin ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK bevorstehe. In der Klagebegründung finden sich ausdrückliche Aussagen dergestalt, dass der Kläger nicht bereit sei, in die Niederlande zurückzukehren und dass keine „systemischen Mängel“ des Asylverfahrens vorgetragen würden, sondern ein Mangel nach Abschluss des Asylverfahrens, da dem Kläger als in den Niederlanden Gestrandeten zumindest das Existenzminimum gesichert werden müsse. Daher erscheine die Abschiebung in die Niederlande unvereinbar mit Art. 3 EMRK. Auch in der vom früheren Bevollmächtigten des Klägers übersandten Entscheidung des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 9. Mai 2014 (Az. 4 L 491/14.DA.A) geht es nur um die Aussetzung einer Abschiebungsanordnung, Angriffe gegen die Antragsablehnung in Ziffer 1. des streitgegenständlichen Bescheids finden sich auch in dieser Entscheidung nicht. Im Ergebnis ist daher festzuhalten, dass weder nach dem ausdrücklichen Klageantrag noch nach der Klagebegründung ein Angriff gegen die in Ziffer 1. verfügte Entscheidung, kein erneutes Asylverfahren durchzuführen, enthalten ist. Die Auslegung des Klagebegehrens ergibt daher eindeutig, dass Ziffer 1. des Bescheids nicht angegriffen werden sollte.

Auch eine Umdeutung im Sinne der getroffenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts ist nicht möglich. Eine Umdeutung eines ausdrücklich erklärten Rechtsschutzbegehrens in ein anderes Rechtsschutzbegehren ist zwar grundsätzlich denkbar, insbesondere kann dies nach Art. 19 Abs. 4 GG erforderlich sein, wenn der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes dies gebietet (vgl. zum Ganzen Ortloff/Riese in Schoch/Schneider/Bier a. a. O. § 88 Rn. 7 und 15 f.). Eine derartige Fallkonstellation liegt hier aber nicht vor. Denn eine isolierte Klage gegen eine Abschiebungsanordnung, wie sie hier in Ziffer 2. des Bescheids verfügt worden war, ist für sich genommen nicht widersinnig. Die Differenzierung zwischen der Zuständigkeitsentscheidung nach der Dublin-Verordnung und der aufgrund dessen getroffenen Entscheidung zur Umsetzung der Ausreisepflicht, wie sie hier in Ziffer 2. enthalten war, ist auch in der obergerichtlichen Rechtsprechung verbreitet (vgl. nur BVerwG, U.v. 17.9.2015 - 1 C 27/14, juris).

Auch wenn die klägerische Argumentation durchaus auch der Zuständigkeitsentscheidung im Hinblick auf eine mögliche Pflicht zum Selbsteintritt entgegengehalten werden könnte, ist dies nach der eindeutigen Klagebegründung nicht gewollt gewesen. Eine Unklarheit, die zu einer Umdeutung Anlass geben könnte, lag damit gerade nicht vor. Dementsprechend geht das Verwaltungsgericht mit der getroffenen Entscheidung über das Klagebegehren hinaus. Mit der Entscheidung hat das Verwaltungsgericht gegen den Grundsatz „ne ultra petita“ verstoßen. Dieser in § 88 VwGO enthaltene römisch-rechtliche Grundsatz entfaltet in Konstellationen wie der vorliegenden auch eine Schutzfunktion für die Beklagte (Ortloff/Riese a. a. O., § 88 Rn. 10): Die Beklagte muss sich nämlich nur darauf einstellen, dass das Gericht ihre Entscheidung in dem Umfang aufhebt, wie dies beantragt worden ist. Darüber hinaus muss sie keine Aufhebung ihrer Entscheidung befürchten.

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts ist in diesem Umfang daher rechtswidrig und auf die zulässige Berufung hin aufzuheben. Eine Klageabweisung, wie sie im Berufungsantrag begehrt war, war dagegen nicht erforderlich, da wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, die Aufhebung der Ziffer 1. des streitgegenständlichen Bescheids gerade von dem Kläger nicht beantragt war.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO. Von einem teilweisen Unterliegen im Sinne dieser Bestimmung ist insoweit auszugehen, als der Beteiligte mit seinem Begehren erfolglos bleibt (Olberts in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 31. EL Juni 2016, § 155, Rn. 3). Auf den ersten Blick war der Kläger zwar in vollem Umfang erfolgreich, da der streitgegenständliche Bescheid in dem Umfang wie erstinstanzlich beantragt aufgehoben wurde. Allerdings widersetzte sich der Kläger im Zulassungsverfahren mit Schriftsätzen vom 12. Dezember 2014 und vom 27. Januar 2015 dem Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung. Damit gab er zu erkennen, dass das erstinstanzliche Urteil seiner Auffassung nach aufrecht zu erhalten sei. Mit diesem Begehren unterlag der Kläger im zweitinstanzlichen Verfahren. Daher ist von einem teilweisen Unterliegen der Beteiligten auszugehen. Die hälftige Quote ergibt sich daraus, dass das Gericht bei beiden Ziffern des Bescheids vom 17. März 2014 vom gleichen Gegenstandswert ausgeht.

Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83 b AsylG.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

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Lastenausgleichsgesetz - LAG

(1) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (§ 49 Nr. 1) und gegen Beschlüsse nach § 47 Abs. 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu, wenn das Oberverwaltungsgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulas

(1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels
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published on 17/09/2015 00:00

Tatbestand 1 Der Kläger, ein pakistanischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) erlassene Abschiebungsanordn
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Annotations

Das Oberverwaltungsgericht kann über die Berufung durch Beschluß entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet hält und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. § 125 Abs. 2 Satz 3 bis 5 gilt entsprechend.

Das Gericht darf über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden.

(1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen.

(2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.

(3) Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind.

(4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt.

Das Gericht darf über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden.

(1) Wenn ein Beteiligter teils obsiegt, teils unterliegt, so sind die Kosten gegeneinander aufzuheben oder verhältnismäßig zu teilen. Sind die Kosten gegeneinander aufgehoben, so fallen die Gerichtskosten jedem Teil zur Hälfte zur Last. Einem Beteiligten können die Kosten ganz auferlegt werden, wenn der andere nur zu einem geringen Teil unterlegen ist.

(2) Wer einen Antrag, eine Klage, ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf zurücknimmt, hat die Kosten zu tragen.

(3) Kosten, die durch einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entstehen, fallen dem Antragsteller zur Last.

(4) Kosten, die durch Verschulden eines Beteiligten entstanden sind, können diesem auferlegt werden.

(1) Gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (§ 49 Nr. 1) und gegen Beschlüsse nach § 47 Abs. 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundesverwaltungsgericht zu, wenn das Oberverwaltungsgericht oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung das Bundesverwaltungsgericht sie zugelassen hat.

(2) Die Revision ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

(3) Das Bundesverwaltungsgericht ist an die Zulassung gebunden.