Unfallschadensregulierung: Typische Überforderungssituation bei "Kinderunfall"?

published on 07/02/2010 19:22
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Rechtsberatung zum Verkehrsrecht - BSP Bierbach, Streifler & Partner PartGmbB

Lässt ein achtjähriges Kind auf dem Bürgersteig sein Fahrrad los, damit es von alleine weiterrollt, und rollt das führungslose Fahrrad auf die Fahrbahn gegen das zu diesem Zeitpunkt vorbeifahrende Kfz, so handelt es sich um einen Unfall mit einem Kfz, der zu einer Haftungsprivilegierung des Kindes führt.

 

Diese Erfahrung musste ein Autofahrer machen, der in einer 30er Zone unterwegs war. Hier war ihm eine Gruppe Kinder auf dem Gehweg entgegengekommen. Vorneweg war ein achtjähriger Junge mit seinem Fahrrad gelaufen. Unter den Anfeuerungsrufen der übrigen Kinder hatte er sein Rad so schnell wie möglich vor sich her geschoben, um es dann loszulassen, damit es von alleine weiterrollt. Dabei stieß das führungslos rollende Rad mit dem Auto zusammen, das in diesem Augenblick vorbeifuhr.

 

Wie vor den Instanzgerichten blieb die Schadenersatzklage des Autofahrers vor dem Bundesgerichtshof (BGH) ohne Erfolg. Die Richter verwiesen auf § 828 Abs. 2 S. 1 BGB. Danach ist ein Minderjähriger zwischen sieben und zehn Jahren nicht für einen Schaden verantwortlich, den er einem anderen bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug zufügt. Damit folgten die Richter nicht der Ansicht des Autofahrers, der die Vorschrift ihrem Sinn und Zweck nach für unanwendbar hielt. Eine Unanwendbarkeit liege nach Ansicht der Richter nur vor, wenn keine typische Überforderungssituation des Kindes durch die besonderen Gefahren des motorisierten Verkehrs eingetreten sei (Beispiel: Ein achtjähriger Radfahrer stößt gegen ein ordnungsgemäß geparktes Auto). Im konkreten Fall sei jedoch eine typische Überforderungssituation zu bejahen. So sei die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass der Junge beim Loslassen seines Rads die Geschwindigkeit und die Entfernung des herannahenden Fahrzeugs falsch eingeschätzt habe. Deshalb werde er nicht damit gerechnet haben, dass das führungslose Fahrrad gerade zu dem Zeitpunkt auf die Fahrbahn geraten könne, als ein Auto vorbeifuhr. Im Ergebnis blieb der Autofahrer daher auf seinem Schaden sitzen (BGH, VI ZR 42/07).

 

 

 

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(1) Wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat, ist für einen Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich. (2) Wer das siebente, aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hat, ist für den Schaden, den er bei einem Unfall mit
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published on 16/10/2007 00:00

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL VI ZR 42/07 Verkündet am: 16. Oktober 2007 Blum, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle in dem Rechtsstreit Nachschlagewerk: ja BGHZ: nein BGHR:
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21/06/2012 11:17

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21/01/2009 14:09

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(1) Wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat, ist für einen Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich.

(2) Wer das siebente, aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hat, ist für den Schaden, den er bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug, einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn einem anderen zufügt, nicht verantwortlich. Dies gilt nicht, wenn er die Verletzung vorsätzlich herbeigeführt hat.

(3) Wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, ist, sofern seine Verantwortlichkeit nicht nach Absatz 1 oder 2 ausgeschlossen ist, für den Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wenn er bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 42/07 Verkündet am:
16. Oktober 2007
Blum,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
Lässt ein achtjähriges Kind auf dem Bürgersteig sein Fahrrad los, damit es von alleine
weiterrollt, und rollt das führungslose Fahrrad auf die Fahrbahn gegen das zu diesem
Zeitpunkt vorbeifahrende Kraftfahrzeug, so handelt es sich um einen Unfall mit
einem Kraftfahrzeug im Sinne des § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB n.F., der zu einer Haftungsprivilegierung
des Kindes führt.
BGH, Urteil vom 16. Oktober 2007 - VI ZR 42/07 - LG Duisburg
AG Duisburg
Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat im schriftlichen Verfahren nach
Schriftsatzfrist bis 26. September 2007 durch die Vizepräsidentin Dr. Müller, die
Richter Dr. Greiner und Wellner, die Richterin Diederichsen und den Richter
Pauge

für Recht erkannt:
Die Revision des Klägers gegen das Urteil der 12. Zivilkammer des Landgerichts Duisburg vom 1. Februar 2007 wird zurückgewiesen. Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Von Rechts wegen

Tatbestand:

1
Am 9. September 2005 gegen 18.00 Uhr befuhr der Fahrer Ü. mit dem Fahrzeug des Klägers eine Straße, die in einer 30 km/h-Zone liegt. Dort kam ihm eine Gruppe Kinder entgegen, unter denen sich auch der damals 8-jährige Beklagte mit seinem Fahrrad befand. Zwischen den Parteien ist streitig, ob die Gruppe auf dem Bürgersteig oder auf der Straße lief. Jedenfalls kam es zu einem Zusammenstoß zwischen dem führungslos rollenden Fahrrad und dem Fahrzeug des Klägers, das in diesem Augenblick vorbeifuhr. Durch den Zusammenstoß entstand an dem Fahrzeug des Klägers ein Schaden in Höhe von 1.121,88 €. Darüber hinaus entstanden dem Kläger Kosten für die Einholung eines Sachverständigengutachtens in Höhe von 341,39 € sowie weitere Unkosten von (pauschal) 20,00 €.
2
Der Kläger hat behauptet, die ihm entgegenkommenden Kinder seien auf dem Bürgersteig gelaufen. Der Beklagte sei vorweg gelaufen und habe dabei sein Fahrrad vor sich her geschoben und es dann in der Absicht losgelassen, es alleine vorweg rollen zu lassen. Das Fahrrad sei daraufhin ein Stück geradeaus gerollt, dann mit dem Lenker nach links eingeknickt und auf die Fahrbahn geraten, wo es mit dem vorbeifahrenden Fahrzeug des Klägers kollidiert sei.
3
Das Amtsgericht hat die Klage auf Zahlung von insgesamt 1.483,27 € nebst Zinsen abgewiesen. Das Landgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.

Entscheidungsgründe:

I.

4
Das Berufungsgericht hat sich der Würdigung des Amtsgerichts angeschlossen , dass Schadensersatzansprüche des Klägers gemäß § 823 Abs. 1 BGB wegen Verletzung des Eigentums an seinem Kraftfahrzeug an dem zu Gunsten des Beklagten eingreifenden Haftungsprivileg des § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB n.F. scheiterten, selbst wenn man von der Unfallschilderung des Klägers ausgehe. Gerade der vom Kläger angeführte Umstand, dass der Beklagte sich überhaupt nicht mit dem Straßenverkehr auseinandergesetzt und sich keine Gedanken darüber gemacht habe, dass das Fahrrad mit dem Fahrzeug des Klägers kollidieren könne, belege das Vorliegen der vom Gesetzgeber mit der Neuregelung in den Blick genommenen typischen altersbedingten Überforderungssituation. Denn im Gegensatz zu dem 8-jährigen Beklagten hätte ein verantwortlicher Erwachsener bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt die Möglichkeit, dass das Fahrrad auf die Straße rollen und dort einen Unfall verursachen könne, erkannt und sich dementsprechend verhalten. Soweit der Kläger anführe, es könne keinen Unterschied machen, ob das Fahrrad zufällig nach links (auf die Straße) oder nach rechts (gegen ein parkendes Fahrzeug) rolle, unterstelle er einen hypothetischen Alternativsachverhalt, der sich im konkreten Fall gerade nicht realisiert habe und die Entscheidung deshalb nicht beeinflussen könne. Anderenfalls müsse man das gleiche Argument reziprok auch gegen eine Haftung des Kindes bei Beschädigung eines parkenden Fahrzeugs gelten lassen, was zu offensichtlich widersinnigen Ergebnissen führen würde. Die Gefahr eines Schadenseintritts resultiere vorliegend - zumindest auch - aus der Bewegung des Fahrzeuges des Klägers, welches sich nur aufgrund seiner Bewegung "zur falschen Zeit am falschen Ort" befunden habe und bei deren Hinwegdenken sich die Haftungsfrage mangels Schadenseintritts gar nicht stellen würde.

II.

5
Die Beurteilung des Berufungsgerichts hält im Ergebnis revisionsrechtlicher Nachprüfung stand. Entgegen der Auffassung der Revision ist die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit des Beklagten nach der Unfallschilderung des Klägers, die revisionsrechtlich als richtig zu unterstellen ist, nach § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB n.F. ausgeschlossen.
6
1. Da das schädigende Ereignis nach dem 31. Juli 2002 eingetreten ist, richtet sich die Verantwortlichkeit des minderjährigen Schädigers gemäß Art. 229 § 8 Abs. 1 EGBGB nach § 828 BGB in der Fassung des 2. Gesetzes zur Änderung schadensrechtlicher Vorschriften vom 19. Juli 2002 (BGBl. I S. 2674). Danach ist für den Schaden, den er bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, wer das siebte, aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hat.
7
2. Die Revision geht zwar ebenfalls davon aus, dass § 828 Abs. 2 Satz 1 BGB nach seinem Wortlaut im vorliegenden Fall ohne weiteres eingreift. Sie meint jedoch, die Vorschrift finde nach ihrem Sinn und Zweck gleichwohl keine Anwendung. Dieser Auffassung kann aus Rechtsgründen nicht gefolgt werden.
8
Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats ist eine teleologische Reduktion des Wortlauts dieser Vorschrift nur in Fällen vorzunehmen, in denen sich keine typische Überforderungssituation des Kindes durch die spezifischen Gefahren des motorisierten Verkehrs realisiert hat. Hiernach hat der Senat das Haftungsprivileg verneint in Fällen, in denen Kinder der privilegierten Altersgruppe mit einem Kickbord oder Fahrrad gegen ein ordnungsgemäß geparktes Kraftfahrzeug gestoßen sind und dieses beschädigt haben (vgl. Senatsurteile BGHZ 161, 180 und vom 21. Dezember 2004 - VI ZR 276/03 - VersR 2005, 378 m.w.N.).
9
Der Gesetzgeber hat nämlich mit der Einführung der Ausnahmevorschrift des § 828 Abs. 2 BGB dem Umstand Rechnung getragen, dass Kinder bis zur Vollendung ihres 10. Lebensjahres regelmäßig überfordert sind, die besonderen Gefahren des motorisierten Straßenverkehrs zu erkennen, insbesondere die Entfernungen und Geschwindigkeiten von anderen Verkehrsteilnehmern richtig einzuschätzen und sich den Gefahren entsprechend zu verhalten. Dabei hat er sich von der Erkenntnis leiten lassen, dass Kinder in diesem Alter wegen ihres Lauf- und Erprobungsdrangs, ihrer Impulsivität, Affektreaktionen, mangelnden Konzentrationsfähigkeit und ihres gruppendynamischen Verhaltens oft zu einem verkehrsgerechten Verhalten nicht in der Lage sind (vgl. BT-Drs. 14/7752, S. 16 f. und 26 f.). Allerdings wollte er die Deliktsfähigkeit nicht generell und nicht bei sämtlichen Verkehrsunfällen erst mit Vollendung des 10. Lebensjahres beginnen lassen. Er wollte die Heraufsetzung der Deliktsfähigkeit vielmehr auf im motorisierten Straßen- oder Bahnverkehr plötzlich eintretende Schadensereignisse begrenzen, bei denen die altersbedingten Defizite eines Kindes, wie z.B. Entfernungen und Geschwindigkeiten nicht richtig einschätzen zu können, zum Tragen kommen, weil sich das Kind durch die Schnelligkeit, die Komplexität und die Unübersichtlichkeit der Abläufe in einer besonderen Überforderungssituation befindet (vgl. BT-Drs. 14/7752, S. 26 f.).
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3. Entgegen der Auffassung der Revision kann eine solche typische Überforderungssituation, die nach dem Willen des Gesetzgebers zu einem Haftungsausschluss führt, auch unter Zugrundelegung des vom Kläger vorgetragenen Unfallgeschehens nicht verneint werden. Denn es hat sich auch in diesem Fall eine Gefahr verwirklicht, die daraus herrührt, dass Kinder in dem entsprechenden Alter wegen ihres Lauf- und Erprobungsdrangs und ihres gruppendynamischen Verhaltens oft zu einem verkehrsgerechten Verhalten nicht in der Lage sind. Nach dem Vorbringen des Klägers lief der Beklagte entgegen der Fahrtrichtung des herannahenden Kraftfahrzeugs auf dem Bürgersteig einer Gruppe von Kindern vorweg, die ihn anfeuerte, und schob dabei sein Fahrrad so schnell er konnte vor sich her um es dann loszulassen, damit es von alleine weiterrolle. In einer solchen Situation lässt sich die Möglichkeit nicht ausschließen , dass der Beklagte, als er das Fahrrad los ließ, die Geschwindigkeit und die Entfernung des herannahenden Fahrzeuges falsch einschätzte und deshalb nicht damit rechnete, dass das führungslose Fahrrad gerade zu dem Zeitpunkt auf die Fahrbahn geraten könnte, in dem das Fahrzeug des Klägers vorbeifuhr.
11
Entgegen der Auffassung der Revision kommt es nicht darauf an, ob sich die Überforderungssituation konkret ausgewirkt hat oder der Beklagte lediglich nicht damit gerechnet hat, dass das führungslose Fahrrad auch auf die Straße rollen kann. Um eine klare Grenzlinie für die Haftung von Kindern zu ziehen, hat der Gesetzgeber diese Fallgestaltungen einheitlich in der Weise geregelt, dass er die Altersgrenze der Deliktsfähigkeit von Kindern für den Bereich des motorisierten Verkehrs generell heraufgesetzt hat (vgl. Senatsurteile vom 14. Juni 2005 - VI ZR 181/04 - VersR 2005, 1154, 1155 und vom 17. April 2007 - VI ZR 109/06 - VersR 2007, 855, 856).

III.

12
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 97 Abs. 1 ZPO. Müller Greiner Wellner Diederichsen Pauge
Vorinstanzen:
AG Duisburg, Entscheidung vom 20.06.2006 - 79 C 5926/05 -
LG Duisburg, Entscheidung vom 01.02.2007 - 12 S 97/06 -